Читать книгу Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke - Йозеф Рот - Страница 105

X

Оглавление

Das Leben, gestern noch gedrängt in die Enge der Straße, der Stadt und des Hauses, in die vier tapezierten Wände des Büros – wie wuchs es über die Mauern in die Wälder. Im geizigen Schatten der nächtlich lagernden Fässer trafen sie sich jeden Tag, durch die leeren hölzernen Hütten gingen sie, rochen den Duft verkaufter Seefische und liegengebliebener Zwiebelschalen und gingen dennoch fromm vorbei an den toten Tischen und schlaffen Säcken, Hand in Hand, immer bereit, in der herrlichen Dürftigkeit einer Hütte ein Liebeslager aufzuschlagen und erschreckt durch den ferne hallenden Schritt des wandernden Polizisten, das Bellen des Hundes, das Schlurfen des Bettlers.

Hinaus kamen sie mit der Straßenbahn, die unter hängenden Zweigen dahinfuhr, geliebkost vom dunkelblauen, schattenden Flieder, vorbei am grünen Segen der Gehöfte, am grauen Fluch der Kasernen, hinaus auf die hügelansteigende Landstraße.

Im weichen Moose lagerten sie, auf steilen Pfaden hielten sie sich umklammert, oft waren ihre Körper einander nahe, und vor ihnen war die endliche Vereinigung, wie ein Feiertag nahe ist seinem Vorabend. Immer fühlte Fini den sanften Druck einer zärtlich gewölbten Hand auf ihrer kleinen Brust, huschende Fingerspitzen auf der kühlen Rundung der Schulter und des Oberarmes, immer wenn sie allein war und zu Hause, im Traum und wenn sie erwachte, im Büro, wo der Doktor Finkelstein seine Grausamkeit jäh verlor und der braune Apparat nicht mehr schreckte.

Musik hörten sie, enge aneinandergedrückt in einer engen Reihe, von Menschen umgeben und allein. Es erschütterte sie ein plötzlicher leiser Sang, einen Schauer fühlte man auf der nackten Haut und wartete auf die Wiederkehr dieses einen süßen Tones. Es berauschte eine rauschende Welle und hüllte sie ein, wie eine große Stille vor einer Ohnmacht einzuhüllen vermag. Es glitten die seiden bespannten Fiedelbogen auf- und abwärts, und in der verschwimmenden Ecke liebkoste der Trommler mit demütig liebender Neigung des Oberkörpers die Triangel, daß sie silbern lächelte. Aus dem Gleichmaß der Bewegungen schwoll das warme Rauschen, keiner Stimme der Natur vergleichbar, keinem Sang menschlicher, tierischer Kehle. Schöner als Vogelsang war der samtene fluß der Flöte und der zierliche Sprung eines jugendlichen Tones auf den breiten Rücken des ehrwürdig rauschenden Tiefklanges. Aber stärker als Baß und dunkelviolettes Cello, herzlicher als der samtene Fluß der jungen Flöte, erschütternder als der große Wirbel der Pauke und der kleinen, schalkhaften Trommel, all diese Zauber verzaubernd, die Töne übertönend, die Farben überglühend und alle Instrumente zusammenfassend, war die große Stimme der Orgel im Hintergrund, Sang Gottes, des Herrn der Welt, des Schöpfers und Schaffers, des grausamen, guten, großen Gottes. Die Orgel gebar alle Instrumente neu, und in jedem Ton, der ihr entströmte, schlummerte der nächste und der übernächste, der eben verrauschte und der längst verhallte, das ferne Echo der laut gebärenden und wiedergebärenden Wälder. Auf den zitternden Wellen der Luft schwammen die Worte der niemals gehörten, der unverständlichen Sprache, und tief versank auf unsichtbaren Grund die Mühsal grausamer Tage. In den Geräuschen der Stadt, in die man dann trat, hörte man ewig die Melodie des Orchesters. »Die Musik«, sagte Ernst, »enthält alle Geräusche der menschlichen Welt, eingefangen in gesetzmäßige Bindung und gesteigert ins Übermenschliche.« Aber das verstand Fini nicht.

Heim kam sie, nicht mehr ängstlich geduckt durch das dunkelgähnende Tor, nicht mehr furchtsam vorbei an der keifbereiten Hausmeisterin, nicht mehr traurig empor die knarrende Stiege mit dem schadhaften Treppengeländer steigend, nicht mehr den Gestank junger Kater beachtend – auch die häßliche Frage der Mutter hörte sie nicht mehr, und leicht kam ihr die Lüge, niemals konnte sie so gut lügen, wie wenn sie Musik gehört hatte. Straßenbahnen durften stundenlang Aufenthalt nehmen, Zusammenstöße mußten sich ereignen, Menschen von unwahrscheinlicher Ohnmacht befallen werden – und wie verwickeln sich kunstvoll die Fäden der Erzählung, wenn wir wollen, mühelos ersinnen wir einen gefallenen Gaul, dem man auf offener Straße eine Einspritzung macht, einen Wahnsinnigen, der nackt ein Gerüst emporklettert, wir befolgen die Einladung eines Inserats und stellen uns vor und müssen lange Stunden warten, ehe unter vielen Anwärterinnen an uns die Reihe kommt. Und Bescheid werden wir mit der Post erhalten.

Den kleinen Kasten hatte sie endlich, treulich gezimmert hat ihn der Vater. Am Sonntag zog er ihn aus der Ecke hervor, einen braunpolierten Kasten mit glänzendem Nickelschloß. Neue Skizzen von Ernst und eine neue wandelnde Frau auf einsamem Pfad zwischen melancholisch blühenden Feldern tat Fini hinein; mit lieblichen Fingern glättete sie gedrucktes Stanniolpapier ungesehen des Nachts auf der Bettkante, bunte Seidenfähnchen und Bänder, Perlmutterknöpfe und eine gefundene Schlipsnadel, einen japanischen Sonnenschirm aus buntem Papier und die weiche, oft gestreichelte Feder eines Hahnes, die rostbraune und golden schimmernde. Es war eine Heimat inmitten des Heims, eine heimliche Heimat, bergend und geborgen, liebend und geliebt, verschlossen und gütig. Unter dem Bett stand der Kasten, wartete auf die zärtliche, einsame Stunde vor dem Schlafengehen, zweimal knackte der sicher sitzende Schlüssel aus blankem, kühlem Stahl im sicheren Schloß, und leicht, wie in Gelenken, bewegte sich die Tür in den Angeln. Geborgen war alles gut vor dem Zugriff neugierig forschender Finger.

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke

Подняться наверх