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IV

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Um acht Uhr früh schon weckte eine schrille Klingel, eine Feldpostkarte des Vaters kündigte sie an oder eine Todesnachricht; eines von bei den nur konnte es sein. Tag für Tag, Stunde um Stunde wartete man auf die Karte, auf die Todeskarte vom Regiment, und man zitterte vor dem kurzen Geschrill der Glocke, das man ersehnte, wenn es ausblieb. Fini hörte der Mutter gewöhnliches Ächzen beim Aufstehen, das Schlurfen ihrer Pantinen bis zur Tür und zurück, den Gruß des Postboten und das Rattern der emporgezogenen, hölzernen Jalousien. Es dauerte ein paar Minuten, es waren Minuten süßer, banger Ungewißheit, die wir liebhaben, die gespannten Minuten mit dem angehaltenen Atem vor den großen Überraschungen, die man immer ersehnt, und wären sie auch fürchterlich.

Aus der Küche scholl der Mutter freudiger Ausruf, herbei eilte sie ans Bett und setzte sich und meldete die Ankunft des Vaters, der schon unterwegs war, entronnen dem Tode, verletzt, und vielleicht für immer dem Hause wiedergegeben.

Mit zärtlich zittrigen Fingern zerknitterte sie die rote Karte, schon sah sie aus wie am Busen zerdrückt, und der arme Kopf vergaß das Butterbrot für Josef und die Obliegenheiten der morgendlichen Stunden. Am Bettrand saß sie mit dünn gewickeltem Zopf und spann Träume, wollte Touren aufgeben, die vergeblichen wenigstens, und von Arnold, dem Onkel, die erträglichen und ertrags sicheren abkaufen, in den Gegenden der Munitionsarbeiter, die sichere Gehälter bezogen und verläßliche Ratenzahler waren.

Eine merkwürdige Güte offenbarte das Leben, Gnaden schüttete Gott aus, er verwandelte die Mutter, die fluchende, die Rächerin und die Richterin, in die gütige, freudige Frau, fast konnte man’s nicht glauben. Oft schon waren Zweifel in Fini des Morgens gewesen, ob sie in die Wirklichkeit des Tages erwacht oder entschlummert war in die Fortsetzung des Traumes. Diesmal war alles unwahrscheinlich, die Sonne und der plinkende Sperling am blechernen Fensterbrett, die goldige Staub säule in der Ecke beim Ofen, die Wiederkehr des Vaters und die Ruhe im Herzen.

Die Mutter strömte den schwülen Duft ihrer Körper- und Bettwärme aus, sie roch vertraut wie warme Milch und weckte in Fini das Verlangen, die Arme um den Hals der Frau zu legen, die nachgiebige Weichheit der mütterlichen Brüste zu fühlen und glücklich zu weinen. Wäre nicht der Gedanke an den verlorenen Brief noch lebendig in seiner ganzen Furchtbarkeit – wie wäre der Morgen sorgenfrei und wunderbar –, wäre die nächste, die kommende Stunde nicht in der Kanzlei vor dem Doktor Finkelstein.

»Ich will hingehen und ihm erzählen«, sagte die Mutter. Und Fini entsann sich der Schuljahre und der mütterlichen Vermittlungen und ungeschickten Ausreden und des blamierenden Diskurses zwischen Mutter und Lehrer und entschloß sich, selbst zu gehen. Wenn Gott, der wiedergekehrte, neuerbetete, helfen wollte, so half er in allen schwierigen Dingen den kleinen Mädchen, und wie immer, wenn wir fast keinen Ausweg mehr wissen, dämmert in unsern Köpfen langsam eine Ausrede und formt sich zum wahrscheinlichen Bericht, an den wir selbst am Ende glauben. Konnte man nicht mit der Feldpostkarte hingehn und den verlorenen Brief mit Aufregung entschuldigen, die man wohl glaubte, während man eine Ohnmacht, eine gewöhnliche, belächelte? Vieles Wunderbare war seit gestern geschehn, viel mehr Wunder brachte das Heute. – Und Fini, die Kleine, ging über die Straßen, vor denen sie sich gestern so gefürchtet hatte, und war nicht mehr gering und verloren, sondern stolz und gehoben, gewachsen und reif geworden in der schwülen, regenschwangeren Luft des trüben Tags. Die Wolken hingen fallbereit. Kleiner schien die Unermeßlichkeit der Atmosphäre und näher der Welt; verlangend lag der Himmel über der Erde, bereit, sie zu umarmen und zu befruchten.

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke

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