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Kapitel 8

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„Bitte wenden Sie jetzt!“

Offensichtlich konnte selbst die aktuellste Navigationssoftware nichts gegen das Sauerland ausrichten.

Er hatte mit Bettina in Gedanken einen Deal geschlossen.

„Wenn ich den nächsten Autor unter Vertrag nehme, suche ich noch einmal dieses verdammte Tierheim. Aber das ist dann das letzte Mal. Danach kaufe ich, meinetwegen in der nächsten Pommesbude, einen Wellensittich. Denen kann man wenigstens das Sprechen beibringen.“

Norbert überlegte, während er eine geeignete Stelle zum Wenden suchte. Wäre vielleicht sogar ganz nett, wenn irgendetwas antworten würde. Nicht, dass er sich dann weniger pathologisch vorkäme, aber er würde auf andere Menschen nicht mehr einen ganz so durchgeknallten Eindruck machen, wenn er mit sich selbst redete. Dann könnte er wenigsten auf einen Vogelkäfig zeigen und das Ganze ‚Unterricht‘ nennen. Es musste ja nicht gleich jeder wissen, dass er Zwiegespräche mit seiner toten Frau führte.

Norbert besaß nun seit genau drei Jahren dieses Haus im Sauerland. Sie waren damals hierher gezogen, weil Bettina sich so in das Dorf verliebt hatte. Dann hatte sich der Krebs zurückgemeldet und sie am Ende mitgenommen.

Eigentlich gab es keinen Grund, das Haus zu behalten. Und hierher zu fahren, hatte für ihn seit ihrem Tod immer einen faden Beigeschmack. Er hatte überlegt, es zu vermieten, aber alleine der Gedanke, alles auszuräumen, an dem Bettinas Herz gehangen hatte, erschien ihm unerträglich. Er fand auch niemanden in seinem oberflächlichen Bekanntenkreis, der hier mal ein Wochenende verbringen wollte. Kein Wunder, bei der Infrastruktur. Eine einzige, dicht befahrene Bundesstraße durchschnitt das atemberaubend schöne Hönnetal, und hirnrissiges Kurvenschneiden schien hier ein ganz besonderer Volkssport zu sein. Wenn dann zwei Verrückte bei ihrem Hobby aufeinander trafen, staute sich der Verkehr für Stunden. Ein Wunder, dass hier nur so wenige Kreuze am Fahrbahnrand standen.

Bettina hatte trotzdem endlos schwärmen können von den wunderbaren Wäldern, egal zu welcher Jahreszeit. Ihm waren die norddeutsche Tiefebene und das Meer immer lieber gewesen.

Seitdem seine Frau tot war, konnte er den Bäumen und halbwüchsigen Bergen einfach überhaupt nichts mehr abgewinnen, im Gegenteil. Die hohen Tannen auf seinem Grundstück sorgten für Dauerschatten und nadelten wie verrückt, und bei Sturm sah er sie in Gedanken wie Streichhölzer knicken und sich wie ein Mikadospiel auf seinem Dach verteilen.

Er hätte auf Anhieb hundert Gegenden nennen können, die ihm mehr zusagten als das Hönnetal. Schöne Gegenden, in denen die Worte ‚öffentlicher Nahverkehr‘ einen Sinn ergaben, ländliche Gegenden, die LKWs mieden wie die Pest, Gegenden mit echtem Profil, wie Ostfriesland, der Witzkammer Deutschlands, die Eifel, Heimat unzähliger Mörder, oder – wenn schon Berge, dann wenigstes richtige – die Alpen. Aber das Sauerland? Beziehungsweise dessen Vorhof? Was, in Gottes Namen, war herausragend an dieser Gegend? Er hatte Zeit seines Lebens die Welt bereist und dennoch immer mit gewissem Wohlbehagen in Nordrhein-Westfalen gewohnt. Es kam ihm vor, als habe Bettinas Fixierung auf das Sauerland ihm das ‚Nordrhein‘ brutal entrissen und ihn am Ende mit diesem einsamen Haus in ‚Westfalen‘ zurückgelassen. Und nun? Würde er je verstehen, was sie daran so gereizt hatte? Vermutlich nicht.

Norbert war daher so selten es ging dort und unterhielt stattdessen in Düsseldorf ein kleines, komfortables Appartement mit Büro, in Flughafennähe. Das erschien ihm sinnvoll. Ohne seine Frau fühlte er sich nirgendwo mehr zuhause. Da konnte er genauso gut im Ausland aus dem Koffer leben. Dort fühlte sich Fremdsein wenigstens nicht so einsam an.

Wenn er nach einem Tag wie heute, der das Konto für Monate füllen würde, trotzdem erschöpft den Namen des Dorfes, das Bettina immer ‚Wunderschönhausen‘ genannt hatte, in den Navi eingab, dann nur, weil er das Gefühl hatte, er müsse sie mal wieder besuchen. Denn leider hatte sie darauf bestanden, in diesem Nest am Ende aller Träume beerdigt zu werden.

Bettina hatte Bücher über das Landleben verschlungen, in denen Stadtneurotiker wie er, der gerade eine Rose von einer Tanne unterscheiden konnte, zu kollegialen Nachbarn mutierten, denen das Bier beim Grillen mehr zusagte als der Gang über eine Buchmesse, ach, mehr als ein Buch. Anfangs hatte er es sogar versucht, hatte ihr zuliebe gute Miene zum bösen Spiel gemacht und verzweifelt Stunden mit dem schwergängigen Handrasenmäher auf dem endlosen, hügeligen Grundstück verbracht, sich böse Sonnenbrände im Nacken geholt und sich am nächsten Tag vor Muskelkater nicht mehr bewegen können, während Bettina, leise und verträumt vor sich hin summend, mickrige Sonnenblumen zog und liebevoll die Beete am Haus bemutterte.

Dass sie dann kurz nach dem Umzug schon mehr Zeit in Kliniken als im neuen Zuhause verbrachte, hatte dazu geführt, dass der einzige Nachbarschaftskontakt, den er in drei Jahren aufgebaut hatte, der zu dem direkten Nachbarn nebenan war, der inzwischen mit seinem Aufsitzmäher sein Grundstück für ihn mähte und während seiner Abwesenheit zuverlässig nach dem Rechten sah. Jürgen. Jürgen Schulte.

Irgendwie schien jeder zweite in diesem Dorf Schulte zu heißen, ein Grund vielleicht, warum Bettina es so witzig gefunden hatte, gerade hierher zu ziehen. Der Blick ins Telefonbuch konnte sie selbst dann noch zum Lachen bringen, als es ihm längst im Hals stecken geblieben war.

Norbert zwang seine Gedanken zurück in den Straßenverkehr. Oder besser: in das Gewirr von Waldwegen. Vielleicht hielten sie in diesem Tierheim besonders berühmte Hunde und hatten es deshalb so versteckt? Er seufzte, als nach endlosem Schleichen über schmale Sträßchen zwischen den Fichten endlich ein Gebäude auftauchte. Und ein Hinweisschild! Direkt vor der Tür. Wie sinnlos und unpraktisch. Wie typisch für diese Gegend. Norbert parkte und stieg aus. Es regnete mal nicht, dafür war aber Schnee angesagt. Es war Ende Januar, natürlich lag noch keine Spur von Frühling in der Luft. Er seufzte. Es dämmerte bereits, aber offensichtlich war noch jemand im Tierheim. Licht schimmerte schwach durch die Fenster, und Norbert wunderte sich, dass es hier überhaupt Strom gab. Irgendwo hörte er Hunde jaulen und bellen.

‚Hoffentlich ist das nicht wieder nur so eine Auffangstation für Kampfhunde‘, dachte er, als er das Gebäude betrat. Seine Odyssee hatte ihn in den letzten Jahren an die seltsamsten Orte geführt.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Die streng blickende Frau hinter dem kleinen Empfangstresen schien ihn mit einem Blick einzuschätzen. Anzug-Typ, Anfang fünfzig, jung genug für einen Hund, unsicher, Anfänger.

„Ich interessiere mich für einen Hund“, sagte Norbert, um gleich klarzumachen, dass er unter keinen Umständen mit einer Katze oder einem Kaninchen nach Hause gehen würde.

„Möchten Sie sich mal umsehen? Oder bewerben Sie sich für eines der Tiere, die wir im Fernsehen vorgestellt haben?“ Norbert konnte es nicht fassen, dass man hier bereits den Anschluss an modernste Vermarktung gefunden hatte. Sie waren clever genug, um zur besten Sendezeit in jedes Wohnzimmer zu flimmern, aber nicht pfiffig genug, Hinweisschilder dort anzubringen, wo sie einem Interessenten helfen würden, sie zu finden?

„Ich würde mich gerne umsehen.“

„Na, dann kommen Sie mal mit.“ Sie führte ihn zu den Zwingern.

„Stecken Sie bitte nicht die Finger durch die Gitter. Nicht alle Hunde sind so friedlich, wie sie aussehen“, riet sie, ehe sie ihn verließ. „Nehmen Sie sich ruhig Zeit“, rief sie noch über die Schulter und verschwand.

Und genau das tat er. Vielleicht war gerade Gassi-Zeit, dachte Norbert und ging langsam und aufmerksam von einem leeren Zwinger zum nächsten, auf der Suche nach einem Hund.

Ein Geräusch ließ ihn aufschauen. Ein Mann, der sich gerade mit einem Hustenanfall quälte, studierte einen Impfausweis und holte eine Spritze aus einem Koffer, der ihn als Tierarzt zu erkennen gab. Er zog eine Lösung auf, warf noch einen Blick in den Impfausweis und steckte ihn in die Brusttasche seines Kittels. Dabei fiel etwas zu Boden. Ohne sich darum zu kümmern, schloss der Tierarzt einen Zwinger auf und ging hinein.

Norbert näherte sich leise.

Dort in einer Ecke kauerte ein Hund und zitterte wie Espenlaub. Mit beruhigenden Worten ging der Veterinär auf das verängstigte Tier zu, das die Lefzen zurückzog und die Zähne entblößte.

‚Ach du meine Güte!‘, erschrak Norbert. Er hatte schon immer zu dem seltenen Männer-Typ gehört, der bei spannenden Stellen im Film wie zufällig in der Fernsehzeitung blättern musste. Nicht besonders cool, aber ihm völlig egal. Da er nicht Zeuge werden wollte, wie die Kampfbestie dem Mann an die Kehle sprang, beschäftigte er sich mit dem Papier, das der Fremde verloren hatte. Er bückte sich und hob es auf. Es handelte sich um ein kleines Büchlein. Ein liebevoll gestaltetes Titelblatt und eine in schöner Schrift geschriebene Überschrift sprachen ihn an:

„Nenn mich Norbert!“

In Spielfilmen taucht in Szenen, in denen der Film und das Leben des Helden eine entscheidende Wendung nehmen, immer ein Symphonieorchester auf. In Tierheimen sind Orchester nicht zugelassen, deshalb fehlte die Musik, als Norbert das Gefühl hatte, er könne Bettina kichern hören. Er riskierte einen raschen Blick in den Zwinger. Der Tierarzt lebte noch und hockte neben dem Hund, der nun nicht mehr knurrte. Die Spritze lag neben ihm, offensichtlich noch nicht injiziert, und die ehemalige Bestie ließ bebend eine mit Blut verkrustete Stelle im Nacken begutachten.

„Was hat er denn?“, fragte Norbert betroffen.

„Beißerei“, antwortete der Tierarzt ohne aufzuschauen. „Hat seinen Gegner übel zugerichtet und einer Mitarbeiterin in die Hand gebissen. Jetzt will ich ihn mir nochmal ansehen, ehe ich ihn einschläfere.“

„Was?!“ Norbert traute seinen Ohren kaum, als er sich sagen hörte: „Aber den will ich doch mitnehmen!“

Das wiederum ließ den Tierarzt aufhorchen.

„Sind Sie sicher?“

‚Nein‘, flüsterte ein Stimmchen in Norberts linker Gehirnhälfte, während die rechte die Kontrolle über das Sprachzentrum nicht wieder hergab. „Natürlich. Glauben Sie, ich würde mit so etwas spaßen?“ Dann ging er in die Hocke, steckte wider besseren Wissens die Finger durch die Gitter und lockte: „Komm her, Norbert! Komm her, Junge!“

„Woher wissen Sie denn, wie der Hund heißt?“, fragte der Tierarzt verblüfft, als sich das Tier erhob und zögerlich in Bewegung setzte.

„Ich sagte doch, ich will den Hund mitnehmen. Da werde ich ja wohl seinen Namen kennen, oder?“

„Ist ja wieder typisch“, ärgerte sich der Veterinär. „Hier weiß die eine Hand nicht, was die andere tut. Stellen Sie sich mal vor, Sie wären nur eine halbe Stunde später gekommen, dann hätten Sie aber blöd geguckt, woll?“

‚Soll das Tierarzthumor sein?‘, ärgerte sich Norbert, während er versuchte, seine Stimme ruhig und entspannt klingen zu lassen, damit er das scheue Tier, das sich vorsichtig näherte, nicht erschreckte.

„So ist brav, Norbert, komm her, Norbert!“, murmelte er leise und spürte die kalte Nase des Hundes, der vorsichtig seine Finger beschnüffelte. Was er über Hunde wusste, hatte er aus dem Fernsehen. Er hatte nie einen gehabt und auch nie einen gewollt. Dennoch rührte ihn etwas an diesem Tier auf eine Art, die er nicht hätte beschreiben können. Vielleicht, weil der arme Kerl genauso einsam schien wie er selbst?

Norbert schickte Bettina die rasche Bitte, sie möge dafür sorgen, dass der Hund seine Finger nicht abbiss. Und tatsächlich, das tat er auch nicht. Im Gegenteil. Er begann zu schnüffeln und suchte die andere Hand, in der Norbert noch das Büchlein hielt. Ganz vorsichtig begann er mit dem Schwanz zu wedeln, und schien von dem Geruch der Hände, die Norbert nun abwechselnd so gut es ging durch die Maschen des Zwingergitters schob, gar nicht genug bekommen zu können.

„Ja, er erkennt sie, keine Frage“, murmelte der Mediziner und kratzte sich am Kopf. „Wird Zeit, dass das Tier hier raus kommt. Zwei Wochen sind für so einen Hund ohnehin schon zu lange, habe ich gleich gewusst. Ich verarzte seine Wunde nur eben, ist nicht so schlimm, wie sie aussieht. Ein paar Tage, dann ist er wieder völlig ok. Machen Sie mal weiter, das lenkt ihn ab.“ Der Arzt sprach beruhigend auf den Hund ein, aber dieser ignorierte ihn völlig. Er schien sich vollkommen auf Norberts Finger zu konzentrieren und schnüffelte mit einer Intensität an ihnen, als ginge es hier um sein Leben.

„So, fertig“, murmelte der Wundenfachmann und packte seine Utensilien weg. „Ich gehe jetzt mit Ihnen nach vorne, damit die alles klar machen können, woll? Wenn sich die Wunde nicht entzündet, spricht in einer Woche kein Mensch mehr darüber. Glück gehabt, Kleiner“, tätschelte er den Hund. „Dein Gegner hatte nicht so viel Glück.“ Dann öffnete er die Zwingertür und hatte Mühe, den Hund zurückzuschieben, der offensichtlich nichts lieber wollte, als sofort zu seinem neuen Besitzer auf die andere Seite des Gefängnisses zu wechseln.

„Nee, nee, du bleibst noch ein bisschen hier, woll?“

Norbert fing den fassungslosen Blick des Hundes auf, der nervös hin und her zu laufen begann und ihn dabei nicht einen Augenblick aus den Augen ließ.

Er hielt noch einmal seine Hände vor das Gitter und sagte: „Ich erledige nur ein paar Formalitäten. Bin gleich zurück. Pass du fein auf!“ Er kam sich schon ein wenig komisch vor, wie er da vor einem wildfremden Hund kniete und mit ihm redete, als könne er ihn verstehen, aber etwas Besseres war ihm nicht eingefallen.

Aufmerksam hatte der Hund seinen Worten gelauscht, und sich dann zögerlich hingelegt. Nicht entspannt zusammengerollt, sondern so, als führe er ein Kommando aus, als sei er nur bereit, sich für eine kurze Weile zu gedulden.

Norbert stand auf und folgte dem Tierarzt, drehte sich noch einmal um und sagte mit einem erhobenen Zeigefinger: „Warte!“ Wenn diese blöden Hundesendungen für irgendetwas gut gewesen waren, dann dafür, dass er wusste, dass gut erzogene Hunde auf präzise formulierte Kommandos reagierten. Offensichtlich gehörte ‚Warte‘ mit der Geste, die er instinktiv gewählt hatte, zum Repertoire dieses Tieres.

Norbert kam sich vor wie der Hundeprofi persönlich, als er sah, wie ‚sein‘ Hund gehorchte. Jetzt würde er draußen dafür sorgen, dass der arme Kerl nicht zu lange dort ausharren musste.

Nenn mich Norbert - Ein Norbert-Roman

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