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Kapitel 6

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„Wir übernehmen ihn von hier aus“, sagte die Frau und nahm Silke die Leine aus der Hand.

Kai unterschrieb das Formular und gab ihr den Impfausweis.

„Hier ist ein Heftchen drin, wie man mit dem Hund reden soll“, sagte er mit belegter Stimme und schob das Büchlein zurück, nachdem die Frau einen kurzen Blick darauf geworfen hatte.

„Aha“, sagte sie. Dann reichte sie Nobbis Leine an eine Mitarbeiterin.

„Darf ich mich von ihm verabschieden?“, fragte Silke zwischen zwei lauten Schluchzern.

„Natürlich“, antwortete die Frau.

Silke kniete sich neben Claudias Hund. Nobbi zitterte. Sie wusste nicht, wie sie das hier schaffen sollte, riss sich aber so gut zusammen, wie es ging. Dann nahm sie seinen Kopf in die Hände, beugte sich vor und flüsterte ihm ins Ohr „Frauchen geht jetzt arbeiten. Pass du fein auf!“ Sie versuchte, ihn irgendwie zu beruhigen. Er hatte den Schwanz eingeklemmt, wollte ihr folgen, wurde zurückgehalten, und warf ihr einen Blick zu, der ihr das Herz förmlich aus dem Brustkorb riss.

Sie stand auf und drehte sich um. Kai wollte ihr einen Arm um die Schulter legen, aber mit einer heftigen Bewegung schüttelte sie ihn ab. Dann verließ sie das Tierheim.

Kai warf einen letzten Blick auf das Zubehör, das auf einem Tisch stand: eine Tüte mit Spielzeug, ein Hundekorb mit Decke, ein fast leerer zwanzig Kilogramm Sack Futter, eine Transportbox. Das alles würde vermutlich nun auf die Heimtiere aufgeteilt, so genau wusste er es nicht und wollte es auch gar nicht wissen.

Als er sich nach dem Hund bücken wollte, hatte die Mitarbeiterin ihn bereits fortgezogen, und durch die sich schließende Schwingtür zu den Zwingern im hinteren Teil des Tierheims geführt. Er hörte ein letztes leises Winseln, von dem er nicht mit Sicherheit sagen konnte, wem es gehörte, als es übertönt wurde vom Bellen und Jaulen der anderen Tiere.

„Meine Frau und ich legen Wert darauf zu erfahren, wer den Hund nimmt.“

„Dürfen wir Ihre Kontaktdaten weitergeben, falls sich der neue Besitzer für die Vorgeschichte des Hundes interessiert?“

„Was heißt hier ‚falls‘? In dem Büchlein dort steht alles drin, was er wissen muss, und Sie können auf jeden Fall unsere Telefonnummer weitergeben.“ Kai wies auf den Impfausweis: „Lesen Sie das Büchlein! Und geben Sie ihn ja nicht an jemanden, der nichts über die Vorgeschichte wissen will, ja? Der Hund hat ein Leben gehabt!“

„Aber natürlich. Wir kümmern uns um alles. Sie können jetzt gehen. Machen Sie sich keine Sorgen, das Tier ist bei uns gut aufgehoben.“

Kai räusperte sich. Dann versuchte er etwas Zusammenhängendes über den Grund zu sagen, warum das Heim nun einen Bewohner mehr hatte. Er stammelte über Claudias Tod und über seine Allergie und hatte das Gefühl, es würde trotz aller Tragik einfach nur wie eine faule Ausrede klingen, eine von hunderten, die man hier wahrscheinlich schon gehört hatte. Dennoch nickte die Frau und versprach ihm, noch vierzehn Tage zu warten, ehe man den Hund offiziell in die Vermittlung gab. Vielleicht geschah ja doch noch das erhoffte Wunder?

Als Kai schließlich ins Auto stieg, fühlte er sich wie ein Schwein, und er war fast erleichtert, als Silke ihn auf der Fahrt zurück nach Hause mit ihrem eisigen Schweigen auch genauso behandelte.

‚Himmel nochmal!‘, dachte er nach ein paar Kilometern, als er merkte, wie ihm die Luft ausging. Das Auto musste gereinigt werden, komplett. Das Haus sowieso. Seit fast einer Woche war er nun krankgeschrieben, akuter Allergieschub. Seine Haut sah aus, als habe er Neurodermitis, Atmen war zur Qual geworden, und wenn Silke nicht endlich nachgegeben hätte, wäre er noch heute ins Hotel gezogen.

Claudia war tot. Aller Wahrscheinlichkeit nach. Und das nun schon seit fast vier Wochen. Niemand hatte auch nur eine Spur von ihr gefunden, auch er nicht, als er mit Markus, dem anderen Trauzeugen von Hubert und Claudia, einen Tag nach der Katastrophe für eine Woche da runter geflogen war, in die Hölle.

Markus war nicht nur sein Freund, sondern auch sein Arzt, und sie hatten sich eingebildet, sie könnten in Thailand vielleicht eine verletzte Claudia in einem der Hospitäler finden und nach Deutschland zurückbringen. Was er gesehen hatte, würde ihn für den Rest seines Lebens nicht mehr loslassen. Es war nicht leicht gewesen, ins Land zu kommen, zu viele wollten gleichzeitig rein. Tausende waren auf der Suche nach Angehörigen. Markus war als Arzt willkommen, und während er, Kai, durch die Trümmer ging und sich immer wieder übergeben musste durch den Verwesungsgeruch, da hatte er sich mehr als einmal verflucht. Selbst, wenn er an einer der zahllosen Fotowände direkt vor Claudias Foto gestanden hätte, hätte er sie nie und nimmer erkannt. Die Schwerverletzten sahen für ihn auf den Bildern alle gleich entsetzlich aus. Und erst recht die Leichen. Aufgequollen, schwarzfleckig, nach Stunden bereits im Verwesungsprozess, bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Heerscharen von Ärzteteams aus allen Ländern arbeiteten verbissen gegen die Zeit, und versuchten DNA zu sichern und zu erfassen. Sie versuchten Ordnung ins Chaos zu bringen, versicherungsrelevante Klarheit, versuchten den Fleischbergen ihre Namen zu entlocken, weiße Flecken auf Touristenlisten zu füllen, Bestattungserlaubnisse auszustellen, Wege freizumachen für die Überlebenden.

Sie hatten Claudias Haarbürste in Thailand gelassen und die Sicherheit mit nach Hause genommen, dass es Monate dauern würde, ehe sie oder ihre Reste dem nummerierten Tütchen zugeordnet werden könnten. Wenn überhaupt. So viele waren mitgerissen worden ins Meer, so viele unauffindbar fort.

Selbst als sie ins Flugzeug gestiegen waren, konnten weder er noch Markus begreifen, was sie gesehen hatten und hinter sich ließen. Kais allergische Reaktion auf Claudias Hund hatte sich in den acht Tagen, die sie unterwegs gewesen waren, beruhigt. Unglaublich, unfassbar. Da warfen die kleinen Follikel im Fell eines sauberen, gesunden Tieres in einem sauberen Haus seinen Körper in ein Chaos, das lebensbedrohliche Ausmaße annahm, und dort in Thailand hatte das lebensbedrohlichste Umfeld, das er sich überhaupt vorstellen konnte, dem Körper das Signal gegeben, sich zu entspannen und zu erholen. Kai hasste sich fast dafür, dass bei ihm alles verkehrt herum gepolt war. Und er schämte sich.

Das änderte nichts daran, dass der ganze Zirkus wieder von vorne losging, nachdem er zwei Tage zuhause war. Markus hatte schließlich mit der Hand auf den Tisch geschlagen und ihn und Silke böse angefunkelt. Wenn sie nicht endlich Vernunft annähmen, und den Hund abgäben, würden sie nicht nur Kai das Leben zur Hölle machen, sondern auch dem Hund. Da draußen war wahrscheinlich jemand, der hervorragend zu diesem Tier passte und sich nichts sehnlicher wünschte, als einen besten Freund fürs Leben zu finden. Was, wenn dieser jemand gerade jetzt durch die Tierheime streifte, auf der Suche nach einem Hund wie Nobbi? Den Silke aus lauter Egoismus nicht abgeben wollte?

„Egoismus?!“ Silkes Stimme war vor Wut umgeschlagen.

„Wenn wir den Hund abgeben und sie wird gefunden, was dann?! Niemand weiß, ob sie tot ist! Sie kann genauso gut noch leben!“

Markus bemühte sich um Sachlichkeit, warf Zahlen ins Spiel, Wahrscheinlichkeiten, Gesundheitsrisiken für Kai.

Am Ende war er es leid.

„Du musst dich entscheiden, Silke. Für die Lebenden oder für die Toten. Für deinen Mann oder diesen Hund.“ Dann hatte er sich seinen Mantel gegriffen, Kai auf die Schulter geklopft und war ohne ein weiteres Wort gegangen.

Silke hatte nachgegeben. Hatte sich für ihn entschieden. Gegen den Hund.

Als er in die Einfahrt ihres Hauses fuhr, war er nur nicht sicher, ob ihre Ehe das überleben würde.

Nenn mich Norbert - Ein Norbert-Roman

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