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Kapitel 1

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In der Stadt hätte er sich nie verfahren. Nicht so wie jetzt. Dort gab es Umleitungsschilder. Nicht nur ein Schild, nein, mehrere, die sich fürsorglich um Ortsunkundige bemühten. Auf dem Land war das offensichtlich anders. Dort hätten sie auch ‚Hier links ab, den Rest kennst du ja‘-Schilder heißen können. Vielleicht war die gesamte ländliche Beschilderung nur eine clevere Methode, um Fremde zum Übernachten zu zwingen? Erst stundenlang über die pittoresken Dörfer jagen, vorbei an idyllischen Herbergen, bis sie völlig desorientiert endlich aufgaben und einkehrten? Er war ja eigentlich kein Anhänger von Verschwörungstheorien, aber als selbst sein Navi verzweifelte und nur noch in einem fort ‚Bitte wenden Sie jetzt‘ stotterte, wurde ihm mulmig. Sein Auto war für normale Straßen wendig genug. Das hier war keine normale Straße. Das war eindeutig ein schlechter Scherz, ländlicher Feldweghumor. Jede Schrebergartenanlage in der Stadt hatte breitere Wege als dieses Dorf. Seltsam, dass hier ein Tierheim sein sollte.

Da war es wieder, das verlogene Holzschild. „Tier-Oase 50 m rechts“ stand da in schnörkeligen Buchstaben auf dem verwitterten Brett. Leider war ‚50 m rechts‘ aber nur eine Kreisverkehr-Baustelle, im weiten Umkreis gerodet, ohne ein einziges Haus in der Nähe.

‚Ok, das reicht‘, beschloss er entnervt, schaltete die verzweifelte Frau im Armaturenbrett aus und versuchte, die Sonne zu finden. Der Ort, in dem er wohnte, lag östlich von – ja von wo eigentlich? Egal. Östlich.

„Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf. Im Westen wird sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehen“, murmelte Norbert den alten Kinderreim. Er befand sich eindeutig im Norden. Keine Sonne weit und breit, nur tiefhängende, dunkle Regenwolken.

‚Gute Güte‘, dachte er entnervt, ‚was finden die Leute bloß am Landleben?‘ Wenn es nach ihm gegangen wäre, säße er jetzt in seinem Lieblingsrestaurant in der Düsseldorfer Altstadt, läse ein Manuskript und würde das leise Raunen der anderen Gäste genießen. Stattdessen kurvte er frustriert durchs Sauerland.

Als er eine Stunde später ausgehungert und dehydriert in seine Garage fuhr, war es längst dunkel.

Er griff nach seinem eleganten Aktenkoffer und dem altmodischen Herrenregenschirm. Mit einem leisen Pfiff verabschiedete sich sein Wagen auf Knopfdruck, das Garagentor glitt geräuschlos zu Boden, und die clevere Hauselektronik sorgte augenblicklich für warme Willkommensbeleuchtung im ganzen Haus.

Mit einem Seufzer legte Norbert seine Sachen ab und ging direkt nach oben. Es gab wenig, was eine ausgiebige Dusche nicht wieder in Ordnung bringen konnte.

Das Handtuch, das seinen eleganten Hausmantel vor den letzten Tropfen auf dem duschfeuchten, graumelierten Haar schützen sollte, warf er nachlässig über den Barhocker, als er eine halbe Stunde später die exklusive Kaffeemaschine bediente. Er zündete sich eine Zigarette an, nahm die FAZ und den Kaffee und ließ sich im Wohnzimmer auf das große, gemütliche Sofa sinken. Ein Blick auf die Rezensionen im Feuilleton ließ ihn lächeln. Er hatte natürlich wieder aufs richtige Pferd gesetzt. Er war sein Geld wert.

Nachdem er die Zeitung überflogen und alles, was ihn interessierte, wenigstens angelesen hatte, bespielte er gedankenverloren die Fernbedienung und lehnte sich zurück. Nachrichten, Talkshow, hirnlose Massenverblödung, Werbung, Werbung, Werbung, Bellen.

Er richtete sich auf.

Der Hund, der dort gerade vorgestellt wurde, litt eindeutig an Lampenfieber und wollte dringend zurück in seine Garderobe. Der nächste war noch weniger entspannt, blickte aber wenigstens einmal in die Kamera, ehe er sich losriss und floh. Norbert notierte die Namen der Tierheime. Irgendwo dort draußen wartete angeblich sein neuer ‚bester Freund‘. Bettina war sich da offensichtlich ganz sicher. Er nicht.

Als er später das Licht löschte und wieder nach oben ging, hatte er den Zettel mit seinen Notizen an die Pinnwand geheftet, zwischen all die anderen. Bettinas Augen schienen ihm von Bild zu Bild die Treppe hoch zu folgen, und sie konnte sich wie immer ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Sag lieber nichts“, hob er den Finger und mahnte seine verstorbene Frau mit einem schiefen Lächeln zur Zurückhaltung. „Ich habe noch nicht aufgegeben. Noch nicht.“

Nenn mich Norbert - Ein Norbert-Roman

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