Читать книгу Pro tribunal - Arno Legad - Страница 10

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Unbegreiflich!

In aller Frühe des zweiten Dezember veranlasste ein Brief den Noch-Immer-Staatsratsvorsitzenden Krenz, wieder eine staatsgewichtige Maßnahme zu ergreifen. Inzwischen waren Gesellschaftswissenschaft und Marxismus-Leninismus aus dem Staate vollständig und auch nominell getilgt. Doch des Zurückweichens musste deshalb doch keine Ende sein. Er saß im Auto in Richtung Ostseeküste. In Ribnitz-Damgarten war eine Kreisdelegiertenkonferenz der SED angesetzt, welche zu bestimmen hatte, wer am Außerordentlichen Parteitag teilnehme. Überholend hielt sich der lange schwarze Wagen auf der linken Spur. Vorhin hatte das Autoradio vermeldet, dass Jochen Willerding seinen Rücktritt als Kandidat des Politbüros und Sekretär des Zentralkomitees erkläre. Damit setze er „ein Zeichen für die revolutionäre Erneuerung der Partei“.

Zu fragen wäre da vieles. Was hielt er für Erneuerung? Was ist Revolution? Wenn man sich vom Acker begibt, die Tür mit lautem Knalle schließet und rufet: Rette sich wer kann!? Zu fragen ist – auch mit Blick auf den lauschenden Krenz –, was die ganze Aufgeregtheit bedeuten könne, war doch die SED nun eine Partei wie jede andere auch, ja weniger. Sie hatte ausdrücklich erklärt, niemals mehr eine Führung, Lenkung und Staatsleitung mehr zu beanspruchen.

„Winne“, sagte Krenz zum Fahrer. „Schalt mal das Radio aus. Brauchst auch nicht so zu rasen.“ Er hielt den Brief in der Hand. Diesen hatte seine Frau entgegen genommen, während er die nächtliche Politbüro-Tagung leitete. „Nachher müssen wir sowieso nach Berlin zurück.“

„Logik“, sagte Fahrer Winne, „die ich nicht begreife.“

„Also tritt Jochen Willerding zurück“, bemerkte Egon Krenz.

„Das haben wir gerade gehört“, sprach der Winne. „Wie wäre es mal mit was Neuem?“

„Richtig“, gab Egon nachdenklich zu. „Aber das fällt schwer.“

„Warum“, fragte Winne, „tritt er denn zurück?“ – „Ach ja…“, überlegte Krenz. „Der Brief!“ Er riss ihn auf und überflog ihn. Für Winne las er laut:

„Es ist meine feste Meinung, dass die sozialistische Erneuerung nur denkbar ist, wenn die Partei der Kommunisten einheitlich und geschlossen um eine handlungsfähige Führung diesen Weg geht.“ Winfried hielt sein Lenkrad mit beiden Händen fest und ließ auf der rechten Spur einen Trabant und noch einen Trabant zurück, und einen riesigen Lastzug mit dem Transit-Zeichen TIR und einen Zastava und sprach: „Immer diese alten, formelhaften Sprachmuster! Wenn man’s wegdenkt, sagt er eigentlich nur: Ich selber bin weder Kommunist noch bereit, einheitlich und geschlossen einen neuen Weg zu gehen!“

Egon nickte. „Das sehe ich genauso. Aber Winne, sind wir eigentlich noch eine Partei der Kommunisten?“ Der Fahrer Winne zuckte ein wenig an seinem Lenkrad, und der Wagen beschrieb einen Schlenker.

„Ich meine damit nur“, erläuterte Krenz, „dass jetzt auch die sozialdemokratischen Wurzeln der SED sichtbar werden müssen. Findest du nicht?“

Staunend und schluckend schwieg der Winne. Aber so war es gesagt – vom Staatsratsvorsitzenden. Zur Seite mit den Kommunisten! Noch klarer ausgedrückt: Weg mit dem Kommunismus! Ist das des ganzen Pudels Kern? Oder ist gemeint: Man müsse die sozialdemokratischen Wurzeln besser erkennen und deren verderblichen Einfluss?

Der Krenz wusste es selbst nicht ganz genau, hielt aber die Sozialdemokraten für ehrenwerte Leute….

„Ist das dein Ernst?“ fragte Winne. Egon Krenz nickte: „Willerding schreibt: Die Erneuerung geht an der Partei vorbei. Da hat er wohl recht.“

„Und wenn die nur deshalb vorbei geht“, fragte Fahrer Winne, „weil keiner solche Erneuerung will?“ Egon Krenz las weiter und sagte nachdenklich: „Ich sehe im ganzen Brief keine Begründung, warum er eigentlich zurücktritt.“

„Um ein Zeichen für dich zu setzen – vielleicht. Kannst du dir das nicht vorstellen?“

„Wofür Winne?“

„Für“, sagte Winne langsam und sah konzentriert geradeaus. „deinen Rücktritt.“

Egon Krenz in seinem Polster nickte langsam und schloss die Augen. „Ich danke dir“, sagte er müde und ruhig, „dass du so offene Worte findest. Ich schätze deine Ehrlichkeit sehr. Ich habe natürlich auch schon daran gedacht. Aber es kommt mir immer vor wie Flucht aus der Verantwortung. Verstehst du das?“ Der Fahrer Winne sagte: „Na klar verstehe ich das. Aber wenn es das Beste wäre? Objektiv?“ Er schaltete das Autoradio ein. „Nachrichten!“

„:..wird von ADN gemeldet, dass der erst kürzlich aufgenommene Kandidat des Politbüros der SED und Sekretär des Zentralkomitees Jochen Willerding mit einem Offenen Brief an Egon Krenz von allen Funktionen zurück getreten ist.“

Krenz riss die Augen auf. „Der Brief ist sogar schon in der Öffentlichkeit! Noch ehe ich ihn dem ZK vorlegen kann!?“

Fahrer Ede explizierte: „Deshalb hat er ihn deiner Frau gestern abend noch übergeben. So kann man nicht sagen, er hätte dich übergangen.“

„Richtig, Winne… Aber das ist doch zu kurzfristig!“

„Aber es ist so.“

„Durch Kommentare wird diesem Brief“, schnarrte es aus dem Empfänger, „die Aufforderung an den Staatsratsvorsitzenden zugeschrieben, selbst zurückzutreten. Die Erneuerung nehme nicht die gewünschte Richtung, sondern versinke in allgemeiner Auflösung, in Sozialdemokratismus. Es fehlen die kommunistischen Maßstäbe der Wissenschaftlichkeit ebenso wie die Entschlossenheit, das Kapitulantentum zurückzudrängen“, erklärte der Sprecher. Winfried stellte das Radio ab. „Ich werde“, erklärte Krenz dumpf, „mich keinesfalls davonschleichen. Zumindest bin ich dem Außerordentlichen Parteitag den Rechenschaftsbericht schuldig. Und den werde ich halten.“

„Was kann man da tun?“ fragte Winne und fügte hinzu: „Es gibt in der Partei Kräfte, die den Außerordentlichen Parteitag schon ohne das amtierende Politbüro durchführen wollen. Auf jeden Fall will man eine richtige Erneuerung, eine mit Klarheit und echter Aussicht.“

Egon Krenz winkte ab. „Na gut. Dann wird eben nicht mehr das amtierende Politbüro den Parteitag vorbereiten, sondern ein neu eingesetzter Arbeitsausschuss. Wie Roland Wötzel vorschlägt. Es geht mir doch nicht darum, dass ich als Person politisch überlebe. Ich überstehe diesen Parteitag politisch sowieso nicht.“

„Aber“, wandte Winne ein. „die Logik verstehe ich nicht. Damit nimmst du das ganze Politbüro für deine Person in Geiselhaft… wenn das dafür jetzt zurücktreten soll.“

„Schluss!“, brummte Krenz. „Ich halte meinen Rechenschaftsbericht. Ich stelle mich dem Parteitag! Ich kneife nicht!“

Ja, so sah es aus: Innerhalb weniger Wochen hatte der Krenz bereits das zweite Politbüro verschlissen. Nicht er trat zurück, sondern das komplette neue Büro. Er opferte es wieder. Dafür hatte er selbst noch ein paar Tage gewonnen. Auch darum war er ja eben zur Kreisdelegiertenkonferenz unterwegs, sich dort als Delegierter wählen zu lassen. Und im Kopfe ging ihm bei all dem der aufrichtig-ehrliche Satz herum: Ich kneife nicht!

Eine durchaus bemerkenswerte Yin-Yang-Konstellation in diesen Leuten! In diesen Egon-Ball-Vietze-Modrow. Es ist das „Allgemein-Menschliche“, das sie reitet, auf welches sich auch der Gorbatschow gern beruft.

Vielleicht kann man sagen: Im Mittelpunkt steht der Mensch! Und ICH bin doch wohl ein Mensch!

Im Großen Ganzen stand der Krenz auf Seiten des Kapitals. Kapitalisten und deren Politiker haben jedoch andere Maßstäbe und Werte-Kategorien als Kommunisten. Im besten Fall können sie versuchen im Einzelnen Gutes zu tun. Sie können und dürfen nicht verstehen, dass man für Gutes im breiten Sinn eine gute breite Grundlage braucht, eine gesellschaftliche. Dass man die eigene Person zurückstelle für diese Grundlage. Dass Produktion und Gewinn niemand privat zufallen darf; anderen das Leben zu erschweren, dass das Recht aller über dem Rechte einzelner steht – was jetzt sehr bedroht war. Sobald es das gibt, Privatbesitz an Produktion, wird im privaten Sinne und nie in gutem Sinne produziert – mit allen Folgen. Man sollte Yin und Yang kennen und trennen; wenngleich sie gemeinsame Gestalt bilden, und gemeinsam Geschichte machen. Und eines herrscht doch effektiv? Eines gibt wohl den Ausschlag und prägt die Entscheidung? Sonst wäre die Weltgeschichte ja nur ein fortwährendes Schweben ohne Veränderung. Aber was? Yin oder Yang?

Was eignet dem ganzen Lauf der Dinge; welches Prinzip?

Naurokat oder Staal? Krenz’ Glauben – oder sein Tun?

Beides gehet wohl eine Zeitlang gemeinsam, ergänzt zu gemeinsamer Prägung, zu gleichgerichteter Wirkung. Aber dies hat seine Frist; welche endet, wenn die Rahmenumstände es nicht weiter zulassen, zu denen eignes Denken zählt. Da tritt denn Veränderung ein. Diese aber – wie wir wissen – tendiert nicht zum Neuen, sondern zum Rückfall in alte Muster. Der Sozialismus in Richtung Kommunismus kippt zurück zur Ausbeuterherrschaft und deren Mediendiktatur. Aus dem selbsternannten „Kommunisten“ wird wieder ein Sozialdemokrat und Lakai.

Es gehet zu fast wie bei der Gravitation.

Dies wollte das DDR-Volk mitnichten. Und die Waage neigte sich bereits sehr deutlich zum Rückfall. Da war der Krenz, der nur sein Yin in die Waagschale warf – worauf sie sichtbar weiter in Neigung geriet. Da war der Modrow desgleichen.

Weg! Weg mit diesen allen! – dachte dieser und jener.

Kann der Sonderparteitag es bringen?

Für den Abend war eine neuerliche wütende Protestdemonstration vorm ZK-Gebäude angekündigt, gegen das Zentralkomitee der SED und durch einfache Mitglieder der SED, solche die eben nicht aus- und wegzutreten bereit waren, die wirklich nicht kniffen, auch nicht vor Verantwortung.

Sie standen im Abenddämmern vorm Zentralkomitee und brüllten vor Wut, durch die neuerlichen „Korruptionsaffären“ gesteigert:

„Rücktritt! Rücktritt! Wo sind die ehrlichen Kommunisten?“, hieß es, „Weg mit den Wendehälsen! Platz frei für die Echten!“ – „Keine Wende um 360 Grad!“ war zu lesen, oder: „Keine Wende um 180 Grad! Rettet die Partei! Sicherung der DDR-Existenz! SOFORTIGE NEUE FÜHRUNG!“

Da stand auch der zurückgekehrte Krenz auf den Stufen zum ZK-Gebäude und versuchte beschwichtigend-gemütlich sein Glück.

Man buhte. Man pfiff. Neben ihm stand im Getöse kurz der emsig-wichtige Gysi und sprach: „Wenn das Politbüro nicht zurücktritt, gibt es zwei Parteitage. Mindestens.“

Der Schreck fuhr dem Egon durchs Gebein. Nur das nicht! Wir müssen den Weg freimachen!

Aber Herr Krenz?! Was sagt denn Lenin zur Notwendigkeit revolutionärer Spaltungen – Abspaltungen, auf dass die wirklich revolutionären Kräfte sich finden? Was taten Liebknecht und Luxemburg, als sie die alte SPD und die USPD spalteten, um entsprechend der Volksbewegung eine revolutionäre Kommunistische Partei zu schaffen, die später Millionen-Anhängerschaft besaß?

Dröhnend rief Krenz über die gigantische Lautsprecheranlage: „Genossen! Heute nachmittag haben mich die Genossen der Ribnitzer Kreisdelegiertenkonferenz…“ Ohrenbetäubendes Pfeifen und Protestgekreisch. „zum Delegierten des Außerordentlichen Parteitages…“

Was? Was faselt er? Begreift der wirklich gar nichts? Wen interessiert es? Wer sichert unsere Zukunft? Wer organisiert uns im kommunistischen Sinne? Geh nach Hause!

„Ich werde mich auf dem Außerordentlichen Parteitag meiner Verantwortung stellen…“

Alles bezog er nur auf sich. Hier konnte er wohl ebensogut sagen: Ich liebe euch doch alle! – doch es war schlimmer. Dies war der letzte gewichtig-öffentliche Auftritt des Egon Rudi Ernst Krenz. Armer Rudi. Arme DDR. Da war nichts mehr zu retten.

In die Geschichte wird er kaum eingehen. Höchstens als Schildbürger mit denkbar größten Folgen, also nichtharmloser Schildbürger; an der Spitze der praktischen Gegenaufklärung der Welt einen Trümmerhaufen hinterlassend, den niemand überschaut. Niemand überschaut es, Mauerstaub lastete über der Stadt und über dem Land, lag auf den Herzen. Doch: War es nur sein Staub? Vom Westen wurde die Mauer abgebrochen, und dies buchstäblich. Dorther wurde nunmehr gepickt und herausgebrochen, nicht vom Osten. Dort, im Westen, standen die eifrigen Geschäftemacher und verkauften ihre Mauerbröckchen: Zehn Mark, fünf Mark! Keinen solchen Stand hat man in der DDR gesehen.

Hinwiederum: Getan und Unterlassen verschwimmen im Dunkel der Geschichte.

Gegen drei Uhr wurde Rudi vom Telefon aus dem Schlaf gerissen. „Schwanitz“ – „Ja?“ stammelte Rudi Krenz verschlafen.

„Alexander Schalck hat die DDR verlassen. Uns liegt eine Nachricht vor, dass er planmäßig und auftragsgemäß die Verhandlungen in Bonn zu Ende geführt hat und jetzt nicht mehr zurückkehrt. Er hat von unbekanntem Ort aus angerufen.“

„Auch das noch“, stöhnte Krenz. –

Morgens betrat er pünktlich das ZK-Gebäude. Ebenfalls anwesend war schon Sylvia. Er zog den Mantel aus, und sie erklärte ihm: „Regierungschef Genosse Modrow berät gerade über die Konsequenzen aus Schalcks Weggang.“ Sie hängte den Mantel in einen Kleiderschrank.

„Warum hat er mich nicht dazu geholt?“

„Weiß ich nicht“, sprach Sylvia und dachte: Wer fragt dich noch? „Dafür“, fuhr sie fort, „sitzt Markus Wolf in der Runde.“

Seltsam! Krenz schaute sie verständnislos an. „Was für eine seltsame Runde! Was hat Markus Wolf damit zu schaffen? Der kennt sich im Bereich KoKo sicher nicht besonders aus.“

In dieser Besprechung im Nebenzimmer – ohne Egon – saß auch der Dresdner Karriereinteressent Wolfgang Berghofer. In Wirklichkeit ging es kaum um Schalck. Soeben sagte der Modrow: „Genossen, wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige!“

Die seltsame Runde erwog diesen Gedanken. Einen Schuldigen! Aber ja! Her mit diesem! Da gab es einen Hinweis: „Wollen wir die Partei retten – oder den Sozialismus?“

Modrow überging dies recht geschickt: „Natürlich müssen wir zu den hunderttausenden SED-Mitgliedern stehen. Wir müssen Verantwortliche nennen für das Desaster; wo die Massen sagen können: Jawohl, das sind die Schuldigen! Das kann nur jemand sein, der bislang nicht im Blick der Öffentlichkeit stand. Wie wäre es mit dem Ministerium für Staatssicherheit? Lenken wir den Volkszorn doch darauf!“

Markus Wolf widersprach: „Wenn man nur noch machttaktisch vorgeht, hat das mit den Grundlagen unserer Weltanschauung nichts mehr zu tun. Aufrichtigkeit gegenüber dem Volk ist hier nicht deutlich zu erkennen. Wenn es aber so sein soll, muss ich wenigstens für unsere Aufklärer im Westen garantieren können.“

Beruhigend sprach der Modrow: „Natürlich… natürlich. Wir halten die Hauptabteilung Aufklärung einfach aus allem heraus. Einverstanden, Markus?“

„Gut, dann… Einverstanden.“

Die seltsame Runde beschloss, die sozialdemokratische SED um jeden Preis zu retten, eine Alternative nicht zuzulassen und das Ministerium für Staatssicherheit zum Sündenbock zu erklären. Daraufhin aber folgte die nächste Politbürotagung. Was auch geschieht; eine Politbürotagung geht immer noch! Wolfgang Herger referierte über die allenthalben erfolgten Kreisdelegiertenkonferenzen zum Außerordentlichen Parteitag. „Nach der Dreizehnten Tagung der Volkskammer und dem dort erstatteten Bericht“, führte der Genosse Herger salbungsvoll aus, „über Amtsmissbrauch und Korruption haben sich Hass, Wut und Aggressivität gegen die SED und ihre Funktionäre gesteigert. Die Partei droht daran zu zerbrechen.“

Andächtig blickte er auf das Politbüro und setzte fort: „Aus den Informationen der Kreisdelegiertenkonferenzen geht hervor, dass Politbüro und Generalsekretär zurücktreten sollen.“

Jemand bemerkte: „Ich sehe da keinen Zusammenhang. Die Wut hat sich gesteigert. Aha. Soso. Aber die Genossen die jetzt Änderungen an der Spitze fordern, sind doch in der Partei verblieben! Die sind doch der Sache treu ergeben. Dass sich die Aggressionen nach der Volkskammertagung gesteigert haben, heißt doch nicht, durch diese! Da wird etwas anderes bei der Führung vermisst. Vielleicht wird überhaupt Führung vermisst. Und diese Volkskammer-Tagung war dann der kleine Tropfen, der das Fass überlaufen ließ.“

„Wie auch immer“, dröhnte Krenz beruhigend, „Vielleicht ist es richtig, bis zum Parteitag zu warten. Wir müssen in jedem Fall Rechenschaft ablegen.“

Jemand rief: „Wenn das Politbüro nicht zurücktritt, könnte es als Kneifen angesehen werden!“ – „Im Gegenteil! WENN es zurücktritt, wird man sagen: Ihr macht euch einfach davon und lasst uns im Schlammassel sitzen!“

„Bilden wir also einen Arbeitsausschuss wie Egon vorgeschlagen hat.“

„Und der soll dann dem Parteitag den Rechenschaftsbericht vorlegen?“

„Das könnte eine spezielle Arbeitsgruppe tun, die nicht wir sondern das Zentralkomitee beruft!“

„Gleich folgt die Besprechung mit den Ersten Bezirkssekretären! Wir müssen dorthin einen Entschluss mitbringen. Ein paar von denen fordern schon für morgen die Auflösung des ganzen ZK!“

Man rief durcheinander. „Dann käme übermorgen die Auflösung der Partei!“ –

„Beschließen wir also: Wer ist für die Arbeitsgruppe und den Arbeitsausschuss? Und den Politbüro-Rücktritt?“

Es wurde einstimmig beschlossen. Alle Hände erhoben sich – zum Selbstrücktritt. Zum eigenen Verschwinden; komme was da wolle. Und jeder, oder fast jeder tat’s aus Anstand!

Und keiner, keiner tat’s aus Verstand.

Pjotr strich die roten Locken aus der Stirn und dachte an Beatrice. Er saß im Zug und genoss zwei freie Tage. Denn die eingeschränkte Urlaubssperre war aufgehoben. Komme was da wolle. Da wird wohl nichts mehr an großen Einsätzen kommen.

Ich muss noch Blumen kaufen!

Gemütlich saß er, den Kopf an die aufgehängte Jacke gelehnt. Der Zug ratterte. Er meinte, seinen Kollegen in der Lokomotive zu erblicken, wie der ruhig und aufmerksam im Leitstand sitzt. Das ist das Gute, überlegte er, an einem Lokführer. An einem guten Lokführer. Die Leute fahren und kommen weiter. Und man bemerkt ihn gar nicht und seine Arbeit. Man sitzt im Zug, spielt Skat oder schläft und unterhält sich. Man isst und trinkt. So muss es sein.

Auf der Polsterbank gegenüber saßen zwei Jungs, etwa zehnjährig. Der eine sprach zum anderen: „Da hast du eine gute Wahl getroffen!“

Sie futterten aus einer Tüte mit süßen Backwaren.

„Nein, das ist ein guter Bäcker, sagt mein Vater.“

„Aber trotzdem musstest du ja entscheiden! Und das hast du gut gemacht!“

Schläfrig ging Pjotr durch den Kopf: Ein guter Bäcker… Lokführer macht seine Arbeit… Man kann dann die Wahl treffen, ob man schläft oder Skat spielt. Man bemerkt seine Arbeit gar nicht. So muss eine gute Führung sein. Man bemerkt sie nicht, und trotzdem fährt der Zug eilends voran… Unsere Führung dagegen hat sich nur noch gefeiert… selbst präsentiert. Auf der Tagung des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei wurde der Bericht… der… Auswertung der Tagung des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei… nahmen teil die Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees und berieten die Schwerpunkte der Aufgaben, und berieten die Aufgaben… Die Glastür wurde aufgerissen. Pjotr schrak hoch. Da standen zwei Jugendliche in Jeansanzügen und musterten finster die beiden Knaben. „Macht Platz, ihr Wichtel!“ grollte der eine. „Verpisst euch!“ forderte der andere.

„Immer schön friedlich“, bat Pjotr ruhig und betrachtete die Jeansanzüge aus zusammengekniffenen Augen. „Macht euch woanders breit, wenn’s euch hier nicht gefällt!“ Man besah ihn. Dann schmiss man die Tür wieder zu.

Von beiden Jungen gleichzeitig wurde ihm die Tüte entgegengestreckt. „Ist noch was drin!“

„Wir sind sowieso satt!“

Pjotr fummelte einen sogenannten Liebesknochen heraus. „Sieht lecker aus.“

Ich muss noch Blumen kaufen.

Dies besorgte er in einem Geschäft in Bahnhofsnähe und fuhr mit der Straßenbahn direkt vors Haus, in dem Beatrice mit ihren Eltern lebte. Sie hatte ihr Zimmer im Dachgeschoß. Seiner Berechnung nach musste sie ihm selbst die Haustür öffnen. Und so war es.

„Peter!“ brüllte sie. „Schnell! Rein! Keiner zu Hause!“ Die Rosen sanken zum Teppichboden.

Umklammert und zwischen den Küssen fragte sie: „Warum hast du mir nicht vorher…?“

„Kontrolle!“

„Schnell!“ Flattrig nahm sie die Rosen auf und zog ihn auf der Holztreppe hinter sich herauf. „Man macht keine Kontrolle, wenn man sich vertraut!“

Darauf wusste Pjotr nichts zu sagen, aber es war auch nicht nötig. Nach einer halben Stunde heftigen Mühens ließ er von ihr ab und stammelte: „Ist doch nötig!“

„Was denn?“ keuchte sie. – „Die Kontrolle! Du trägst deinen Ring ja gar nicht mehr!“

„Arbeitsschutz!“ erklärte sie, neben ihm liegend. Ihr nackter Oberkörper hob und senkte sich rasch. „Dürfen wir nicht.“

– Sie steckte in einer Ausbildung beim Grafischen Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden. Pjotr besah rotglühend die Holztäfelung der Decke. Allmählich wurde er ruhig. Dann schloss er die Augen. „Vielleicht ist ein bisschen Kontrolle doch ganz gut. Man darf es nur nicht übertreiben, so dass es lästig wird. Wie war’s heute?“

„Wie immer. Aber alle reden nur noch davon was da in Berlin läuft. Politik. Das ist einfach unglaublich. Bist du müde? Willst du baden?“ Lächelnd und mit geschlossenem Auge sann Pjotr nach. „Gleich… Warte mal. Tom würde“, grübelte er laut, „jetzt sagen: Ein bisschen Kontrolle ist gut. Damit bestätige ich mir, dass ich dir zu Recht vertraue. Zuviel Kontrolle bestätigt dir aber leider, dass ich dir misstraue. Und das ist natürlich nicht so gut.“

„Ein bisschen… ein bisschen“, nörgelte Beatrice. „Wie soll das funktionieren? Wer ist übrigens Tom?“

„Ein Kumpel bei uns, Nachbarzimmer.“

Langsam und noch leicht geschwächt begann Beatrice sich zu bekleiden. „Aber ein bisschen geht nicht, glaub ich. Das ist doch keine Lösung! Ein bisschen… Entweder ganz oder gar nicht.“

Pjotr grinste hübsch. „Ist eben tricky, Tricky.“

„Du sollst nicht Tricky zu mir sagen!“

Pjotr zog seine Jacke aufs Bett und die Schachtel „Cabinett“ aus der Tasche hervor. Tricky warf einen schweren Rauchglas-Aschenbecher aufs Laken. Er wippte auf und ab. „Wehe! Wehe, du brennst mir ein Loch ins Bett!“

Sich zurücklehnend schloss Pjotr die Augen, die Zigarette klemmte kalt zwischen den Lippen. „Du bist müde“, konstatierte Tricky, schon ganz bemüht-besorgte Ehefrau.

„Ja, ich kann nur…“

„Was kannst du nur?“

„Ich denk gerade mal kurz nach. Was meinst du eigentlich?“

Angezogen setzte sich Tricky aufs Bett, neben den nackten Pjotr. Sie nahm die Zigarette aus seinen Lippen und küsste ihn weich. „So! Jetzt schlummerst du.“ Fürsorglich deckte sie ihn zu. „Ich muss leider. Weil meine Eltern irgendwann auftauchen. Die Tür kann ich von außen abschließen und du hast Ruhe. Aber wir müssen ja nicht beide unsichtbar sein.“ Sie stand auf. Doch Pjotr griff mit geschlossenen Augen nach ihrem Arm und zog sie zurück. Er war nur noch wenig rot im Gesicht. „Wer sagt, dass nicht ein bisschen Kontrolle besser ist als keine – und schlechter ist als zu viel?“

Tricky lachte hell auf. „Du bist so süß! Was du plötzlich für Gedanken hast!“ Sie überlegte. „Wenn du sagst ‚ein bisschen’, fällt mir Katja aus meiner Lehrlingsgruppe ein. Katja sagt, ein bisschen Reformen; ein bisschen Reformen wären gut. Verstehst du? Ein BISSCHEN. Aber…“

„Damit“, forschte Pjotr dem nach und riss die Augen auf, „meint sie wohl: nicht zuviel.“

„Wahrscheinlich“, bestätigte Tricky. „Anzunehmen. Aber das ist gar nicht möglich, wie’s aussieht. Sobald sie anfangen, dies und das zu ändern, scheint alles zusammenzukrachen.“ Sie steckte ihm die Zigarette zurück, entzündete ein Streichholz und hielt es ihm hin. „Aber früher wurde ja auch dies und das geändert – ohne zusammenzubrechen. Ohne dass alles krachen geht.“

„Wie kommt das dann jetzt?“

„Damals hat man nicht so schwierige Dinge gemacht. Nicht so bedeutende. Früher hat man’s vielleicht auch anders gemacht. Und dann hat man alles richtig geplant und vorbereitet und durchgesetzt. Und jetzt hat man schwerwiegende Dinge vor, und gerade die führt man falsch durch, nicht… wissenschaftlich.“

Pjotr nickte. „Ich weiß nie, was in dir vorgeht.“

„Ein Mann weiß nie, was in ’ner Frau vorgeht.“ Sie lachte. „Und dabei ist es gar nicht so tricky! Es ist schön, wenn wir… wenn du da liegst und rauchst und wir erzählen was. Das ist schön. Wenn wir zusammen sind, ist es schön. Das ist das Elementare. Das Zusammensein. Was wir dann daraus machen, ist eine andere Sache.“ Sie strich ihm die roten Locken aus der Stirn. „Wie lange hast du Zeit?“ – „Bis morgen abend.“

„Das ist schön. Wir haben Zeit für uns. Jetzt schläfst du mal. Nachher mach ich dir ein Bad zurecht, dann gehen wir runter und machen Abendbrot mit meinen Eltern. Man braucht einen Plan. Einen systematischen. Dann geht alles wie von selbst.“

„Deshalb weiß ich immer noch nicht was in dir vorgeht.“ Pjotr grinste.

„Brauchst du auch nicht“, erklärte Tricky philisterhaft. „Wie man sich in den Plan einbringt, ist sowieso unterschiedlich. Da bereichert man sich gegenseitig. Es gibt sowieso Dinge in einer Frau, die kann sich ein Mann nie vorstellen.“

Zur Feier des Tages hatte Trickys Vater eine Dose Ananas geöffnet. Zudem gab es pikant eingelegte „Räucherlinge“, pikant marinierte Fischchen in Glasröllchen. An der Wand hing merkwürdigerweise ein dekorativer Teppich mit Fransen. „Das ist Edamer“, erklärte die Mutter und zeigte auf den Tisch. „Und das ist kalter Braten von unserem besten Fleischer.“

Der Vater trug einen gestutzten grauen Vollbart und gab sich allerhand Mühe, Pjotr sympathisch anzuschmunzeln, um seine Distanz zu überspielen. Das ist normal, hatte Tricky einmal erklärt; Väter sind bei Töchtern eifersüchtig. Das ist normal. Sie treten nicht so gern zurück. Der Rücktritt von allem fällt ihnen nicht leicht. Das musst du einkalkulieren. Pjotr kalkulierte und lächelte. Er ließ es sich schmecken und erzählte schulterzuckend: „Wir bekommen auch nicht mehr mit als jeder andere. Das einzige Mal wo wir direkt zu so einer Demo Kontakt hatten, ging es eigentlich nicht um die Demo. Da sollten wir’n Objekt schützen. Ich glaube das Außenministerium. Da standen wir ringsherum, damit nicht irgendjemand einbricht.“

„Wollen wir nachher zusammen Nachrichten sehen?“ fragte Beatrice unsicher. Der Vater nickte langsam. „Gib mir mal den Flaschenöffner, Tina!“ Damit war die Mutter gemeint.

Er öffnete eine Flasche Feldschlösschen-Bier und schob sie Pjotr zu. „Das ist wie ein Drama in unendlich vielen Akten. Einmal muss doch Schluss sein mit den Scheußlichkeiten – so oder so.“

Tatsächlich! Er hatte recht. Man dachte stets: Schlussakt! Ende! Schlimmer geht’s nimmer. Und es folgte ein weiterer, noch abschließenderer Schlussakt. Und kaum hatte der Vorhang sich geschlossen, zerrte man ihn wieder auf: Alsgleich ging ein noch scheußlicherer Schlussakt über die Bühne. Niemand mochte es noch.

Es ward nun die dramatischste und scheußlichste Aktuelle Kamera, die man bislang gesehen. Tante war nicht wiederzuerkennen. Der Sprecher überschlug sich in grimmem harten Nachrichtenstaccato: „Zwölf Spitzenfunktionäre aus dem ZK der SED ausgeschlossen! – Dieselben aus der SED ganz ausgeschlossen – Tisch, Mittag und ein weiterer SED-Politiker verhaftet – Fahndung nach Ex-Staatssekretär Schalck-Golodkowski.“

Es war nicht mehr zu verstehen, überhaupt nur zu erfassen. Was? Woher… Wieso? Ja, das wurde eben nicht mehr angesagt. Es waren nur Verstöße gegen das Statut der SED mitgeteilt. Aber was hieß denn das? Welche?

Wer hatte nicht gegen das Statut verstoßen? Wer hatte immer fleißig, offen und rückhaltlos Kritik geübt? Oder Selbstkritik?

Von allem Drama hatte man zugleich genug und die Nase übervoll und fühlte sich nun bestätigt. Ungläubig und indem befriedigt starrte man reglos und grimmig zu. Da oben packen sie alle ein! Her mit dem harten Schnitt! Je härter desto besser, her mit dem ehrlichen Neubeginn! Weg mit allen Einpackern! Restlos!

Das hatten die da oben wohl berücksichtigt.

Zugleich jedoch war man zerrissener als je zuvor. Man schwankte hin; man schwankte her. Es fehlte ja immer noch der Neubeginn. Insofern schien’s offenbar übertrieben und fatal; passte nicht zu aller Absichtserklärung, ging es doch eigentlich um Neuanfang – nicht um immer weiteres Einpacken. Die sollen gefälligst ihren Posten halten, und endlich vernünftig regieren! Nichts davon: Weiter ging’s: „Egon Krenz als Generalsekretär der SED zurückgetreten!

Das Politbüro und das gesamte Zentralkomitee der SED erklären ihren kompletten Rücktritt.“

Die Spitze der SED warf alles hin und gab sich auf.

„Unbegreiflich!“ sagte Beatrices Mutter, und „Unfug!“ der Vater und ergänzte: „Moralapostel! Die haben sich immer so hochmoralisch gesehen. Und jetzt gibt’s nur noch selbsterklärte Sündenböcke.“

Pjotr hob die Schultern und sagte: „Theater!“ und schwenkte seine Bieflasche.

Betrachten wir diese durchaus repräsentativen Kommentare genau. „Unbegreiflich“ hatte die Beatrice-Mutter befunden und ihr Wermut-Glas auf den großen Esstisch gestellt, dem sie am nächsten saß.

Sie selbst wusste nicht, wem ihr Unverständnis galt. Darum brach sie das Ganze auf die Frage herunter: Was bewegte diese Ausschließer? Den Ausgeschlossenen war parteischädigendes Verhalten vorgehalten. Demnach hätten die Anleiter an der Spitze, welche am exponiertesten Verantwortung trugen, all die Jahre nur eine geringe Moral exponieren gekonnt und wurden für Verfehlung und die aller Fehlgeleiteten ausgeschlossen. Oder sie traten von selbst davon und zurück und weg. Die Verleiteten „da unten“ kamen – wie man wusste – dem massenweise noch zuvor. Da sie nicht zurücktreten konnten, traten sie einfach aus der SED aus. Sie suchten die Lösung nicht im Problem und dessen Ursache, sondern im Verschwinden. So wie die da oben. Nimmt man es so hin, so war der Fakt selbst ja unbegreiflich: Inwiefern und warum eigentlich; was man ihnen ALLEN im Einzeln vorwarf, blieb vollständig offen! Unbegreiflich kann ebenso zu finden sein, dass man die Spitzenleute nunmehr aufgrund aktuellen Geschehens ausschloss, ohne wiederum mitzuteilen inwiefern, was aktuelles Versagen eigentlich war… oder früheres.

Dann hätten sie bisher eher richtig gelegen… und lägen jetzt daneben, da alles sich geändert hatte?

Dass man aufgescheucht zwischen diesen beiden Polen hin- und her schwankte und folglich verbitterten Zorn über diesen unbegreiflich dichten Nebel empfand, war zudem unbegreiflich ohne Ende! Natürlich war es Zorn, der sich nunmehr genau über diesen früheren Spitzenfunktionären entludt. Da waren es nundenn aller Leute Sündenböcke, doch zeigte sich unvermutet eine kleine Klärung des Nebels. Denn für diese komplette Absurdität, für diese ganzen Unbegreiflichkeit par excellence, für den offenkundigen „Unfug“ und die Zustände in denen er auftreten konnte, für den Nebel selbst, waren die früher Verantwortlichen sehr wohl verantwortlich! Und wer jetzt nicht grimmig-schadenfroh nickte und sprach: Hinweg! – ohne es dabei zu begreifen – der schien wohl nicht von dieser Welt.

Desto eher gibt es den ehrlichen sozialistischen Neubeginn!

Wo er nur bleibt?

Und am unbegreiflichsten galt – soweit gelangte Beatrices Mutter schon kaum noch –, dass diese Spitzenleute von einem ZK ausgeschlossen wurden, das sich selbst ad hoc verwarf! Das ZK schließt die Schuldigen aus, meldete der Sprecher schneidend mit leicht zynischer Miene, oder hatte das Politbüro sie ausgeschlossen… alles eines: Alles nämlich nichts. Beide gab es nun nicht mehr. Es schloss das ZK sich selbst als Sündenbock vom ZK aus und hob sich auf. Ja, was blieb denn da für eine Rechtfertigung und Grundlage für den zuvor erfolgten Ausschluss der Mitglieder?

Wie kann das funktionieren? Egon Rudi Ernst Krenz hatte sich, sagt er später, gegen den Rücktritt des ZK erklärt. Er hätte seinen eigenen Rücktritt verkündet: Nehmt mich dafür! Er tat’s wohl nicht sehr überzeugend. Es war auch zu spät. Auf dieser seltsamen letzten ZK-Tagung sprach Krenz die seltsamen Worte: „Wenn ein Staat bis an den Ruin geführt wird, dann ist das ein Verbrechen. Ich glaube, ein größeres kann es nicht geben.“ Welche Größe; sich selbst zu verurteilen! Doch er bekam es nicht mit.

Nach der reinen Mitteilung des Nachrichtensprechers konnte man das Geschehen direkt genießen. Man sah den Schabe wieder. Vor dem ZK-Gebäude redete dieser durchs Mikrofon zur Menge der SED-Demonstranten: „Erstens: Willi Stoph, Werner Krolikowski, Erich Mielke, Erich Honecker und“, weitere Namen folgten, „und, und… werden aus dem ZK der SED ausgeschlossen.“

„Buh! Buh!“ rief es aus der Menge.

Man hörte auch den Ruf: „Das reicht nicht!“

„Aufgrund der Schwere ihrer Vergehen“, schwadronierte Schabe weiter, „und auf Anträge aus den Kreisdelegiertenkonferenzen werden sie zugleich aus der SED ausgeschlossen.“

Die SED-Basis der Zuschauermenge johlte und brüllte. Zustimmend? Ablehnend? Alles eins. Man wusste es nicht mehr; man ahnte es kaum. Was soll man tun? Was soll man mit Mittags und Honeckers tun? Ein klassenmäßiges Parteigericht hätte sie wohl zu einem Jahr Hausarrest verurteilt. Da hätte Mittag sich ausschlafen und Honecker seine „Letzten Aufzeichnungen“ schreiben mögen. Dies Gericht aber gab es nicht mehr. Die langsamen Kapitulanten schlossen andere langsame Kapitulanten aus – für die schnellen, und ahnten es nicht einmal.

Was aber mit solch schnellen Ausschließern? Die da zu Recht oder zu Unrecht andere jagen? Auch die sind ohne den Neubeginn! Pjotr und der Familienkreis schüttelten die Köpfe; ein komfortables Umerziehungsheim ist doch das mindeste. Nun sahen alle dem Schabe auf den Stufen weiter zu.

„Zweitens“, brüllte er: „Das Zentralkomitee erklärt seinen Rücktritt… !“ Man buhte und johlte. Zustimmend? Ablehnend? Alles eins: Niemand konnte es mehr erfassen.

Mutter Tina nahm ihr Wermutglas auf, drehte es unschlüssig und stellte es wieder ab.

„Drittens! Das ehemalige Zentralkomitee wird dem Außerordentlichen Parteitag Rechenschaft über die tiefe Krise in Staat und Gesellschaft ablegen.“

Wie kann ein nichtexistierendes Gremium etwas ablegen?

Die Familienrunde drehte und wendete und schüttelte sämtliche Köpfe. Weshalb sind die drei SED-Funktionäre nun auch noch verhaftet? Haben Staatsanwalt und Volkspolizei Langeweile? Was ist HIER vorzuwerfen? Verdacht auf Amtsmissbrauch und Korruption? Auch das war offen. Tritt das komplette Zentralkomitee deshalb zurück? Oder wegen parteischädigenden Verhaltens? Oder wegen Schädigung der Volkswirtschaft? Weil die FDJ vom Gewerkschaftsbund Geld fürs Pfingstfest erhalten hat? Sicher hatten sie alle sich zu hochmoralisch gesehen, vor allem zu sehr so gegeben. Sinnloser und verworrener allerdings sind keine Anklage und Selbstvollstreckung zu fassen. Ein Motto auf dem Platze hieß: „Alle Macht den Räten!“ – eine frührevolutionäre Losung Lenins.

„Die Vorbereitung des Parteitages“, brüllte der Schabe weiter durchs Mikro, „wird durch einen neu zu bildenden Arbeitsausschuss durchgeführt.“ Schreiend und tobend ließ man ihn kaum zu Worte kommen. „Diesem werden angehören solche Genossen, die besonders aktiv im Prozess der Erneuerung der Partei stehen.“ Dazu gehörte dann wieder der Dresdner Oberbürgermeister Berghofer. Dazu zählte insonderheit jedoch der geschäftige Rechtsanwalt Gysi.

„Weiterhin“, meldete nun der Nachrichtensprecher, „wurde verlangt, dass Egon Krenz auch als Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates zurücktritt.“

Beatrices Vater murmelte durch seinen sorgfältig gestutzten Vollbart: „Jedenfalls hat der’s nicht gebracht.“ Beatrices Mutter fragte den Pjotr halbabwesend: „Mögen Sie noch was essen?“

Ein Redner von dem niemand wusste wer es war, forderte nun: „Alle Abgeordneten der Volkskammer sollten ihren Rücktritt prüfen!“

Das hieß, auch die nichtsozialistischen, alle… einfach alle Volksvertreter.

Und dieser Mann war natürlich nicht vom Westen bezahlt. Es herrschte der reine „Unfug“. Mutter Tina nahm endlich einen Schluck Wermut und sprach: „Das hat doch keinen Sinn. Ist ja das reinste Durcheinander!“

„Und wenn das der Sinn ist?“ entgegnete Pjotr und spießte eine Gewürzgurke auf.

Laut bürgerlichem Rechtsverdrehertum lässt sich alles irgendwie begründen, jeder Unfug. Und da stand wahrhaftig Gschaftlhuber Gysi wie ein Rumpelstilzchen vorm ZK-Gebäude und plärrte mit Inbrunst über die Menschenmenge: „Es geht darum, dieses Land und den Sozialismus zu retten! Wir müssen diesen Parteitag so vorbereiten, dass von ihm dann wirklich die Signale für die neue Bewegung ausgehen, dass wir uns endlich an die Spitze der neuen Bewegung setzen!“

„Mithilfe aller rechtsstaatlichen Mittel“ wolle er aufräumen, krakeelte er. Das wurde beklatscht, und man dachte wie zuvor beim Modrow: Also Gysi heißt der neue Mann! Her mit ihm! Vielleicht kann der uns noch retten, vor dem Wolf?

Näherer Betrachtung hält es nicht stand. Woher kam der Gysi? Wer war es? Man wusste nicht, dass er das DDR-feindliche und zudem unehrliche Grüppchen „Neues Forum“ vertreten hatte. Man konnte freilich fragen, wieso er von rechtsstaatlichen Mitteln schwätzt und ungewählt und ungefragt nun plötzlich als „Spitze“ erscheint. Wen meinte er weiterhin mit „wir“? Auch das ließ er im Unklaren. „Was wir tun können, das tun wir“, gab er krähend kund, „zur Sicherung von Personen, als auch von Belegen, als auch von Finanzen und Eigentum, auch in diesem Haus. Genossen! Wir haben jetzt das Sagen!“ So kreischte er durch sein Mikrofon über den dunklen Platz vorm ZK-Gebäude mit all den SED-Leuten. Und krakeelte es über’s ganze Land. Unentschlossen klatschte man ihm zu.

Er wirkte ja recht possierlich – wie ein kleiner Affe der durch die Wohnung tobt, und die Wände mit Schuhcreme beschmiert. Soweit erscheint es heiter; ein Problem wo’s die eigene Wohnung ist. Es war schon ein wenig vergessen: Finanzen und Vermögenswerte waren die des Volkes. Wie seine Sicherung dann aussah, war ein Jahr später genau zu besehen.

„Nein Danke!“ antwortete der Pjotr endlich.

Und nach Schalck-Golodkowski wird gefahndet? Weshalb? Er sollte sich dem Zugriff des Staates entzogen haben? Hier ist Beatrices Vater sicher recht zu geben: Unfug. Dem Manne geschah schreiendes Unrecht. Auf Weisung des Staatschefs, des noch immer amtierenden Krenz, hatte er sich ins westliche Ausland begeben. Dort hatte er seinen Auftrag erledigt, dann alles durchdacht – und blieb infolgedessen gleich dort. Wenn man in seinem Vorgarten aufmarschierte und ankündigte, ihn umzubringen, so blieb es gleich, ob es sich um reine Terroristen oder andere auf irgendeinen Leim Gegangene handelt. Seinen letzten Auftrag für die DDR hat er ordnungsgemäß erfüllt. Das steht fest. Dafür, dass er stets versuchte, der DDR auf internationalem Wirtschaftsparkett ein paar Devisen zu verschaffen um Kaffee und Kakao und bisweilen auch Bananen, musste er sich nicht umbringen lassen. Undankbarerweise fahndete diese DDR nun nach ihm. Er war nun der Oberkriminelle des Tages, der erste Sündenbock vom Dienst.

Erschreckend tauchte danach das Stichwort „Waffenhandel“ auf. Nichts wurde konkret gesagt. Nichts an Hintergrund folgte.

Pjotr ließ weitere Gurken liegen.

Der illegale Waffenhandel setzte später ein, nach der Zwangsvereinigung zum neuen Großdeutschland, als die gestohlenen NVA-Waffen nach Jugoslawien geschafft wurden, um den letzten sozialistischen Staat Europas zu zerstören. Echte Korruption ist wohl nicht zu entdecken gewesen. Doch folgerichtig haben die West-Gruppen und -Medien den KoKo-Komplex zu einem obskuren oder mafiosen „Firmenimperium“ geformt und aufgeblasen. Unisono übernahmen die DDR-Medien dieses Bild. Von dieser Darstellung ließ sich die ganze DDR vergewaltigen. Egon Krenz, der die Wahrheit kannte, wagte nicht, sie und den Schalck zu verteidigen. Hans Modrow, frischer Verräter der SED und ihrer noch anderthalb Millionen Mitglieder, sprach vor der Kamera über Schalck-Golodkowski und von „Verrat“.

Der Begriff „Theater“ von Pjotr hätte ebensowohl vom Arndt stammen können. Er war indes sehr schlüssig. Wir alle stehen vorm Theater der Welt.

Die Akteure bieten uns etwas, und dann gehen wir nach Haus. Wir sehen und kommentieren. Unser eigenes Zuhaus gehört hinzu. Und unser eignes SEIN ist ja auch Zuhaus. Wie es euch gefällt, nennt Shakespeare das Problem. Die Welt als Theater zu erfassen, ist wohl eine Voraussetzung dafür, es zu überwinden. Selbst Akteur und Rezipient zu sein – das ist Kommunismus. Den muss man zuerst erlernen. „Viermal“, sagte Beatrice und umklammerte ihr Wermutglas, „habe ich jetzt ‚tiefe Krise’ gehört. Ich habe mitgezählt!“

„Was meinst’e denn damit? Was für eine Krise?“ fragte Mutter Tina.

„Weiß nicht. Aber offiziell habe ich’s bisher nur bei diesem Aufruf gehört ‚Für unser Land’.“

Ja, dorther kam das Stichwort, von der Gitta Woll. Doch welche Krise? Es wurde ja von niemandem gesagt!

Eine ökonomische? Damit war es nicht weit her: Alles war noch gesichert und abgesichert; nach innen wie nach außen. Eine politische? Die war wohl künstlich erzeugt. Man sehe den Krenz. Blieb eine moralische. Eine moralische Krise leistet sich nur ein nichtkapitalistischer Staat, da der kapitalistische moralische Gesichtspunkte nicht kennt. Nicht die Nachrichten klärten diese Krise. das besorgte nun das Volk. Ja, es war denn eine Sinnkrise, die durchaus dazu führte, dass Millionen nun für ihr sozialistisches Vaterland eine lange Menschenkette bildeten.

„Die wollen alle wieder zusammengehören“, kommentierte die Mutter der Beatrice bei diesen Bildern, und so sah es wirklich aus. Lange Menschenreihen von Nord bis Süd standen da durch die Republik, von Rügen bis zum Vogtland, und auch quer hindurch, unzählbar viele, sämtliche Demonstrationen übertreffend. Man hatte doch zusammengefunden und hielt sich an den Händen und wollte wohl den Kommunismus erlernen. Aus dieser gigantischen Menschenkette erklärte ein junger Mann mit Wollmütze: „Wir wollen zeigen, dass wir für Veränderungen in dem Land hier sind – und auch für ’ne gewisse Kontinuität. Also ich würde mir nicht wünschen, dass wir hier Großdeutschland kriegen. Deshalb bin ich hier.“

Hierzu die Stellungnahme der nächsten jungen Frau in der Kälte: „Ich möchte in diesem Land, dass wir alle unser Gesicht behalten und nicht so ’n kleines Anhängsel von der Bundesrepublik werden.“

„Warum machen wir nicht mit?“ fragte der Tricky-Vater.

Dies war nun wirklich erst- und letztmals eine Großdemonstration des Volkes der DDR. Es war dessen große Kundgebung gegen die Vereinnahmung durch den westdeutschen Kapitalismus.

Pro tribunal

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