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Der Gipfel der Lügen und ein Dolch

In Leipzig hieß eine breite, handgemalte Losung: „DDR als Bundesland? Wer das will, hat kein’ Verstand!“

Wie eingefroren saßen Tricky-Familie und Pjotr am Bildschirm.

Noch etwas wirklich Spezielles hielt die Aktuelle Kamera am Abend dieses dritten Dezembers parat. Das einzige Mal der Weltgeschichte – und zwar das wirklich und letztgültig einzige Mal – konnte man einen US-amerikanischen Präsidenten erblicken, der unter roter Fahne mit kommunistischem Symbole saß, zugleich Insigne des Weltreiches Sowjetunion. Da sahen die Leute alle Hammer und Sichel in roter Fahne… und den Bush darunter. Und die Aufnahme fand Wirkung: Diese Bilder und Filmaufnahmen gingen in frischer Farbe und Fröhlichkeit um die Welt.

Denn für sich genommen war es ein Weltereignis, wenn die zwei damals bedeutendsten Staatschefs aufeinandertrafen, die Spitzen der zwei Weltmächte, nicht umsonst hieß das Ding „Gipfeltreffen“. Sonst hatten die Fernsehstationen aller Herren Länder wenig Gelegenheit, diese Exponenten zugleich zu erfassen, nicht nur der zwei mächtigsten Länder der Welt sondern auch zweier grundverschieden-diametral entgegengesetzter Gesellschaftssysteme.

Als Theaterbühne des Gipfeltreffens diente das sowjetische Marinefahrzeug „Maxim Gorki“, das vor der Küste Maltas ankerte. Nur eine sorgfältig getroffene Auswahl an Journalisten war zugelassen.

Nun aber der Bush unter kommunistischen Symbolen!

Im abendlichen Häuschen der Beatrice erzielte es ähnliche Wirkung wie bei Thomas Arndt im Aufenthaltsraum der Wache, wie auch bei Annelies Happelt und Töchterchen Madelaine und bei Familie Borseck. In Paris oder Tivalu: Alles erlebte ähnliche Momente. Man kann diese Wirkung beschreiben mit: Bakerman is baking bread. Alles hat seine Richtigkeit… Und alles, aber auch alles was zuvor in diesen höchstdramatischen Wochen und Tagen und Stunden geschehen war; aber auch alles! – erschien vor diesen Aufnahmen, da Bush und Gorbatschow lächelnd und lachend unter roter Fahne saßen… nichtig. Ahnen Sie was? Bakerman is baking bread. Strenggenommen gibt es keine Zufälle.

Ebenso wie der Krenz ungeplant vor der falschen Wandzeitung gestanden hatte, saß George Bush sen. sehr bewusst und kalkuliert unter dem falschen Symbol. „John“, hatte der Präsident Bush gefragt; „Bei der gemeinsamen Pressekonferenz, wenn ich unter Symbolen des Kommunismus mit Gorbatschow sitze: Das stimmt doch zusammen? Oder spielt es noch eine andere Rolle?“

„Gorbatschow sitzt da wohl noch“, sagte John. „Aber er hat keine Macht mehr. Im Gegenteil. Diese Bilder werden aller Welt zeigen: Keine Panik! Alles ist ruhig. Sitzen Sie unter diesem Symbol, Sir! Dadurch kommt man nicht drauf, dass wir schon alle Macht und den Gorbatschow im Sack haben. Es ist UNSER Treffen. Wir haben es veranlasst.“

„Sehr schön, John. Das wollte ich hören.“

Gesehen oder gehört: Alle Meldungen von soeben verblassten. Weder Beatrice noch Eltern noch Pjotr kommentierten das Bild selbst. Es war einfach zu groß. Klein und erschüttert blickten sie darauf und vergaßen fast vollständig, was eben noch grundstürzend schien. Man vergaß alles; mitsamt Gysi und Schabe und Schalck. Auch auf das was direkt vom Gipfeltreffen gesagt ward, vermochte sich eine halbe Stunde später niemand mehr zu besinnen. Es waren die Bilder, die zählten.

Da wurde denn gesagt, Präsident Bush bezeichne das Treffen als „Beginn einer neuen Ära in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen“. Er redete vom Ende der Blockkonfrontation.

„Lüge!“ – so bekundete Pjotr spontan und behielt mehr recht als erwartet. Er hatte dreifach recht. Die neue Ära gab es bereits seit Gorbatschows Amtsantritt. Das Ende der Blockkonfrontation war in Wirklichkeit das Ende des einen Blocks, und die sowjetischamerikanischen Beziehungen waren bald dem Ende der Sowjetunion geopfert. Gorbatschow log desgleichen. Er kündigte eine fünfzigprozentige Reduzierung der Kernwaffenarsenale an und das Verbot von chemischen Waffen – auf beiden Seiten.

„Lüge“, vermutete Mutter Tricky dazu skeptisch.

Es war ja auch wirklich kaum zu glauben. Gorbatschow sprach für alle? In Wirklichkeit wollte der Westen weiterhin Russland mit seinen unermesslichen Bodenschätzen erbeuten, wurden auch die chemischen und Bio-Waffen von den USA niemals aufgegeben. Später gingen dann aus USA-Waffenlabors allerlei Viren über die Welt.

Auf die Frage der deutschen „Wiedervereinigung“ antwortete Gorbatschow, beide deutsche Staaten seien im Ergebnis des zweiten Weltkrieges entstanden. Beide seien Mitglieder der UNO und souverän. Ein Eingriff von außen sei für keinen der deutschen Staaten von Nutzen.

„Lüge“, murmelte Beatrice. „Die machen doch mit uns was sie wollen.“

Unter der roten Fahne sitzend, die über einer stilisierten Weltkugel mit Längen- und Breitengraden weht, erklärte Bush, die USA ständen auf der Position von Helsinki. – Diese Schlussakte von Helsinki sah die Nichteinmischung aller Staaten vor. Denn nur auf freiwilliger Vereinbarungsbasis lassen sich Konflikte beilegen. Die USA allerdings mischen sich ab sofort überall ein, wo ihre „Interessen“ bedroht schienen, ihr Beuteinteresse. Sie mischen sich nicht nur diplomatisch ein, sondern bombardieren die Menschen, verbrennen und zerreißen sie und vergiften sie radioaktiv. Und dabei sprechen sie von Menschenrechten.

Es war also wirklich eine Lüge.

Auf Journalistenanfrage zur Entwicklung in Osteuropa erklärte Gorbatschow, er spreche nicht für alle Staaten, aber die Sowjetunion habe tiefe Beziehungen. Es war als Lüge noch nicht erkennbar.

In derselben Nachrichtensendung wurde mitgeteilt, dass im tschechoslowakischen Bruder- und Nachbarland die Kampfgruppen der Arbeiterklasse entwaffnet worden seien. Die Macht des Volkes lag in seiner Bewaffnung. Dort also hat das Volk bereits stillschweigend auf seine Macht verzichtet. Was erhielt es dafür? Nichts. Kam je dem Krenz diese Wirkung vor Augen? Die neugebildete Regierung in der ČSSR umfasst mehrere Bürgergruppen. Allerdings hatte diese „Opposition“ keine eigenen Kandidaten aufzustellen vermocht. Vierzehn Mitglieder der neuen Regierung gehörten deshalb wiederum der „kommunistischen“ Partei an.

In der ersten Nachthälfte hatten Pjotr und Beatrice das Zusammensein nochmals ausgiebig ausgekostet. Sie lagen dann zusammen, indes die Nacht verging und Jörg und Arndt ins Kerzenlicht am Muni-Punkt schauten.

„Du hast gesagt“, sprach Pjotr verschwitzt im Dunkel, „dass ein Mann nicht weiß was in einer Frau vorgeht. Aber ich weiß was los ist. Und da sind wir uns ziemlich ähnlich!“

„Aber du kannst es nicht wissen!“

„Doch. Ich weiß, dass du an mich denkst und an dich denkst, und da sind wir uns ähnlich. Ich denke auch an dich und mich.“

„Aber ich denke“, sagte Beatrice nachdenklich, „nicht nur daran. Und du auch nicht. Das habe ich heute abend gemerkt. Du denkst noch an was anderes. Und ich denke auch an so vieles was du nicht wissen kannst. Ich denke auch, du weißt nie was wirklich mit mir los ist.“ Sie lächelte im Dunkeln. „Keine Frau kann wissen, was einen Mann wirklich treibt. Und kein Mann kann wissen was eine Frau wirklich fühlt.“

„Was denn?“ erfragte Pjotr mit geschlossenen Augen.

„Zum Beispiel was in einer Frau vorgeht, die vergewaltigt wird. Das ist reiner Irrsinn!“

Irritiert und prüfend beschaute der Pjotr sie, obgleich er nichts sah. „Wieso?“ Beruhigend und unsichtbar lächelte sie. „Ich stell es mir vor. Nur so. Aber ist ja doch fast unvorstellbar. Totaler Abgrund. Irgendwo ist immer ein Trieb und Angst, dabei gleichzeitig Abwehr, vielleicht auch Reaktion und gleichzeitig spürst du totalen Ekel, Abscheu.“ Sie blickte vor sich hin. „Selbstabscheu, Selbstverachtung. Und deswegen fühlst du den größten Hass auf den Vergewaltiger den man sich vorstellen kann, so groß, dass man ihn sich gar nicht vorstellen kann. In Wirklichkeit ist es so: Du willst nicht. Du wolltest nicht! Man gehört nicht zusammen. Da kann es dann auch keine Vereinigung geben. Und was bleibt, ist Ekel, Ekel, Ekel. Wenn da einer sagt, die Frau hätte was davon – das ist der Gipfel der Lügen. Sie wird es dem Drecksack nie vergessen. Da wächst kein Gras drüber.“ –

Am Nachmittag des folgenden Tages besehen wir kahle Baumwipfel. Krah! rief eine Krähe aus ihrem Eichenbaume angesichts zweier Besucher, die einen grauen Weg entlangschritten. Krah! Was wollen die hier? Was haben die noch zu melden? Schlimm genug, dass die Posten hier stehen!

Dora! Kräh! schrie eine andere Krähe aus der zehn Meter entfernten Linde. Der eine sieht aus wie die Posten!

Krähe Dora auf ihrem Eichenbaume antwortete: Krah! Ja!

Über Wandlitz lag eine bedrückende Atmosphäre. Vor den stillverschwiegen liegenden Häuschen der Waldsiedlung waren Posten aufgezogen: in steingrauen Uniformen, Hand auf der Pistole am Koppel.

Vor fast jedem Häuschen stand einer. Die Soldaten waren nicht Pjotr und Arndt, aber ihre Kameraden. Auf Weisung der Regierung Modrow bewachte nun das Wachregiment nicht mehr die Volksinteressen, sondern dessen frühere, erfolgreichere Repräsentanten; erfolgreicher zumindest als Modrow und Konsorten. Vor jedem Häuschen, hinter jedem Waldstück stand einer.

Krah! Weg mit euch!

Dort schritten Krenz und der Verteidigungsminister Heinz Keßler in Generalsuniform den grauen Weg entlang. „Es ist nicht leicht“, sprach Egon Rudi Ernst, „einem Mann wie Honecker, der seit 1971 die Partei geleitet hat, seinen Parteiausschluss mitzuteilen. Aber ich wollte auch nicht, dass er es aus dem Fernsehen erfährt. Das wäre zu würdelos. Ich bin dir dankbar, Genosse Keßler, dass du mitkommst.“

„Das halte ich für selbstverständlich“, erwiderte General Keßler kurz, knapp und präzis. Krenz sah sich um. „Was ist hier los? Warum stehen vor den Häusern Posten?“

„Anordnung der Generalstaatsanwaltschaft“, antwortete Keßler. „Aber das müsstest du besser wissen als ich.“

„Warum?“

„Staatschef bist du“, erwiderte General Keßler kurz, knapp und präzis. Als die beiden sich dem Hause Honeckers näherten, erhob der graue Posten keine Hand zu Ehrenbezeugung und militärischem Gruß. Aber Keßler war doch General!? Egal! dachte der Posten im Unteroffiziersrang. Ich steh hier. Und weiter gilt nichts mehr. Notfalls setze ich die Waffe gegen diese komischen Repräsentanten des Arbeiter- und Bauernstaates ein.

Heinz Keßler hatte den Zweiten Weltkrieg als zum Tode verurteilter, heldenhafter Kämpfer gegen Hitlers Barbarei durchgestanden, aber das wusste der Posten gar nicht. Egon schüttelte den Kopf.

Es öffnete Honeckers Ehefrau Margot, gewesene Volksbildungsministerin. Wie stets wirkte sie diszipliniert, aufrecht und geradlinig wie ihr Mann. „Egon…“ murmelte sie. „Heinz! Kommt rein.“ Im Halbdunkel des Entrees nahm Margot ihnen die Mäntel ab. „Erich“, teilte sie leise mit, „ist ansprechbar aber fassungslos. Wir beide können es nicht mehr verstehen. Das bricht zu plötzlich herein.“

Dann saß man im Wohnraum in Sesseln. An der Wand hing ein schlicht gerahmter Stich. Margot brachte Tee. Er dampfte aus schmuck gezierten, braunen Tontassen. „Also“, sprach Erich Honecker sanft. „Was habt ihr mitzuteilen?“

Keßler sah auf Krenz. Krenz sah auf Keßler.

„Genosse Honecker“, teilte Keßler notgedrungen mit, „Auf der heutigen Tagung des Zentralkomitees wurde dessen Selbstauflösung beschlossen.“

Egon senkte die Lider und fühlte Scham. Honecker nickte.

„Ich habe“, eröffnete der Krenz hastig und riss die Augen auf, „versucht, es unbedingt zu verhindern! Ich habe auch dagegen gestimmt, Erich.“ Honecker nickte, Keßler sah starr geradeaus. Egon fühlte Scham. Es schien seine Bilanz zu sein.

„Erich!“ sprach er eifrig. „Ich habe schon bei der Begrüßung dem ZK gesagt: Die Existenz der Partei steht auf dem Spiel! Die Deutsche Demokratische Republik ist in Gefahr!“

Egon fühlte tiefe Scham. Keßler sah starr geradeaus. Honecker nickte.

„Bei diesen Worten“, fuhr Krenz fort, „sind mir die Tränen gekommen. Und ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal geweint habe.“

Heinz Keßler räusperte sich. Ein Militär spricht nie gern über Tränen. Er hört auch nicht gern darüber sprechen. Hier nun ging der letzte ehrliche Verteidigungsminister der DDR einen Kompromiss ein. Natürlich war es so! Natürlich war dem Krenz das Ganze nicht leichtgefallen.

Ob er nun dafür oder dagegengestimmt hatte. „Genosse Honecker“, sagte Keßler sachlich. „Das stimmt. Genosse Krenz hat mit allen Mitteln versucht es zu verhindern.“

Honecker nickte. Unsicher blickten die beiden Besucher auf Margot. Des Nickens war genug. Ist Honecker wirklich ansprechbar? Da sprach der Honecker: „Was habt ihr noch mitzuteilen?“

Unruhig rutschte Krenz her und hin. „Also, das Politbüro hat seinen Rücktritt erklärt. Man wird… Wir werden jetzt einen Arbeitsausschuss berufen, der den Außerordentlichen Parteitag vorberei…“ Er brach ab. Das gefürchtete Nicken zeigte sich. Honecker brauchte den Mund gar nicht aufzutun. Man wusste was er meint: Das habe ich erwartet.

Krenz sah hilflos umher, nahm die Tasse auf und betrachtete seinen Tee. „Und dann wurde beschlossen…“ Er stellte die Tasse ab. „Man hat dann auch beschlossen…“

Wozu ist der Keßler da? Im sachlichen Stile einer Meldung sprach dieser: „Genosse Honecker, eine Reihe von Genossen wurde aus dem ZK ausgeschlossen und zudem aus der Partei ausgeschlossen. Dazu gehörst auch du.“

Margot erstarrte. Die Kanne, die sie in der Hand hielt, neigte sich. Damit war der Besuch denn wohl erfüllt. Die Gäste erhoben sich. Honecker erhob sich. Er war ein schwankender Kleinbürger, aber er war kein durchschnittlicher Kleingeist. Er sagte nicht: Siehste! Er sagte nicht einmal: Das habe ich erwartet. Er sagte gar nichts. Er nickte. Er reichte die Hand. Durch die geöffnete Haustür traten sie ins Freie.

Der Posten wandte kaum den Kopf.

Dies war der Abschied von Honecker. Man wusste es nur nicht. Die beiden grau ummantelten Gestalten wandelten den grauen Weg entlang.

„Mir liegt eine Liste vor“, sprach Krenz, „wo sich -zig Geistesschaffende aus dem Westen, aus der Bundesrepublik; Schriftsteller und Kommunalpolitiker und Gewerkschaftsführer, Wissenschaftler und Theologen… gegen eine Vereinnahmung der DDR einsetzen. Der Text heißt: Für euer Land – für unser Land!“

Nebeneinanderher schreitend, schwieg man einige Zeit.

„Es scheint so, als ob keiner eine.Vereinigung wünscht. Weder in Ost noch in West.“

Bedächtig antwortete Keßler: „Da drüben wissen einige, dass es für sie selbst gut ist, wenn es eine Systemalternative gibt. Wir sind ein sozialpolitisches Korrektiv.“

„Sicher, Heinz, das verstehe ich.“

„Die Frage ist nur, was wir daraus machen.“

„Das weiß ich auch nicht, Heinz“, sagte Krenz. „Da wohnt Willi Stoph.“

„Aha“, sagte Armeegeneral Heinz Keßler.

„Gehen wir mal hin!“ regte Krenz an.

Das graue Haus rückte heran.

Vorschriftsmäßig grüßte der Posten.

Stoph öffnete selbst und ging eilig den Besuchern voran. „Ja, entschuldigt. Ich packe gerade.“ Tatsächlich sah man eine Menge Kisten stehen, offen und verschlossen. „Setzt euch“, bat Stoph zerstreut. Er setzte sich selbst in einen Sessel, den Gästen auf dem Sofa gegenüber. „Ach ja… die Auszeichnungen.“

Er zog einen Pappkarton heran, der auf dem Boden stand. „Heinz“, sagte Willi Stoph. „Ich ziehe um. Das ist mein letzter Umzug.“

„Warum?“ fragte Keßler.

„Hier in Wandlitz gelten wir nur noch als Verbrecher“, erklärte Stoph sachlich. „Da brauch ich keine Bewachung mehr. Da kann ich… Wir sind von gestern her. Wir konnten uns auf die neuen Bedingungen nicht einstellen.“ Plötzlich lächelte er ruhig und blickte den Keßler aufmerksam an. „Ihr werdet es selbst noch merken.“ Dann sah er zur Kiste und griff hinein. Zum Vorschein kam ein Ehrendolch, ein blitzendes Relikt der Vergangenheit. Solche Abzeichen tragen die Offiziere der Nationalen Volksarmee. Nur war dieser für Generale und feuervergoldet. Stoph reichte ihn dem Keßler. „Später einmal“, sagte Stoph, „kannst du… oder ein anderer erzählen, dass es einen Staat gab und eine Armee, die nicht dem Krieg sondern dem Frieden verpflichtet waren. Eine Armee, die für den Frieden gewappnet war. Eine Anomalie in der Geschichte.“

„Ja“, sagte Heinz Keßler. „Warum gibst du ihn mir? Ich habe selber einen.“

Stoph dachte nach. „Ich weiß. Aber wir standen im zweiten Weltkrieg auf verschiedenen Seiten. Ich habe zwar illegale politische Arbeit gemacht, aber du hast noch mutiger die Seiten gewechselt und warst in der Befreierarmee.“ Er lächelte und blickte den Keßler aufmerksam an. „Ich weiß. Übergib ihn einem Enkel Freund oder sonsteinem Streiter für Gerechtigkeit als Merkzeichen, damit er nicht falsche Hände kommt.“

Zwei Generale des Volkes, zwei Generale des Friedens sahen sich aufmerksam in die Pupille. Krenz saß daneben und war vergessen. Stoph sprach: „Was ist der Sinn unseres Daseins? Ich verstehe mich als Bewahrer, als Erhalter. Heute, für jetzt muss es reichen. Mir geht es darum, mein Zeugnis anzubieten. Das ist alles was bleibt. Ich tue es in meiner Familie, in meinem Umfeld. Du tust es wahrscheinlich in deinem Umfeld. Woanders haben wir keine Stimme mehr. Vielleicht habe ich weniger Möglichkeit als du. Meine Möglichkeit, zu geben, weiterzugeben, ist begrenzt. Ich werde vor dir sterben.“

Er sann den eigenen Worten nach. „Nur du verstehst was mich bewegt. Der Dolch ist bei dir am besten aufgehoben. Für’s erste, Heinz! Für’s erste!“ Heinz besah den Stoph aufmerksam. „Fürs’s erste“, wiederholte Stoph. „Wir hatten die Macht. Die einfachen Menschen hatten sie – erstmals unbesiegbar. Wir haben nur verlernt sie zu nutzen. Und das darf nie vergessen werden. Wir hatten die Macht, und wir haben sie aus der Hand gegeben. Das sagst du deinem Enkel und gibst ihm diesen Dolch.“

„Genossen!“ redete Krenz hinein, denn er war schließlich auch noch da. „Warum stehen hier in Wandlitz überall Wachposten herum? Das ist ja gespenstisch!“

Die beiden Generale lächelten sich an. Dann sagte freundlich der Stoph: „Hausarrest.“

Krenz zuckte empor. „Was?“ Dabei dachte er: Käse! Jetzt bin ich selber kompromittiert. „Ja“, so Stoph. „Auch unsere Telefonleitung ist gesperrt. Das geht wohl auf den Regierungschef zurück. Und die Staatsanwaltschaft hat einen Hausarrest verhängt, als ob wir hier irgendwelche Geschäfte tätigen. Also…“, fragte Stoph nun den Egon Rudi Krenz. „Warum? Die Strafprozessordnung der DDR sieht das nicht vor.“

„Sofort!“ tönte Egon entschlossen. „Sofort wird das wieder aufgehoben! Wo ist dein Telefon?“ Jetzt kann er doch beweisen, dass er wirklich noch da ist! Er ließ sich mit dem Amt für Nationale Sicherheit verbinden. „Genosse Schwanitz, Ihnen untersteht das Wachregiment?“

Schwanitz bejahte.

„Dieser Einsatz in Wandlitz… Worauf geht das zurück?“

„Das kommt vom Ministerratsvorsitzenden, und von Ihnen doch!“

„Die Posten werden wieder abgezogen!“

Schwanitz schwankte. „Sind Sie…sicher?“

Krenz dröhnte ins Telefon: „Da bin ich mir jetzt ganz sicher!“

„Aber das ist eine Frage der Kompetenzen“, hielt Schwanitz entgegen. „Modrow ist Regierungschef. Und Sie selbst…“

„Und ich“, dröhnte Krenz in die Muschel, „bin jetzt in diesem Augenblick noch immer der Vorsitzende des Nationalen Verteidigungsrates!“

Ja! dachte er; so ganz ohne Titel stehe ich noch nicht da!

Es dauerte genau zweieinhalb Sekunden. Dann antwortete Schwanitz: „Die Posten werden abgezogen.“

Kurz darauf erfolgte die Verhaftung Willi Stophs.

Er wurde zu keinem öffentlichen Forum mehr zugelassen. Auch am Parteitag durfte er dann nicht mehr teilnehmen. Frau Alice Stoph teilt dereinst mit, ihr Mann ist mundtot gemacht worden. Aber warum?

Er stellte ein Risiko dar.

Es rückt der Moment näher, auch Krenz zu verabschieden. Das Englein auf Rudis Schulter säuselte: „Was soll nun werden – ohne dich als Generalsekretär?“ Das Teufelchen wisperte: „Das hast du ganz richtig getan! Als die Rolle dieser Partei eine staatstragende war, warest du der parteitragende Kopf. Nun ist sie durch dich zurückgetreten und versinkt durch dich in Bedeutungslosigkeit. Bist noch rechtzeitig abgesprungen. Da nun aber die staatstragende Partei keine mehr ist, wird auch der Staat untergehen. Du musst nur noch als Staatschef rechtzeitig verschwinden!“

Wer da sagt; man könne nicht von Fehlern der letzten DDR-Führungen beim Untergange sprechen und hierbei den Modrow oder den Krenz im Auge hat, dem ist wohl beizupflichten. Wie kann man noch von „Fehlern“ sprechen?

Eine neue Untersuchungskommission gegen Amtsmissbrauch und Korruption hatte die Modrow-Regierung einberufen: Etwas anderes war ihr nicht eingefallen. Das neue Attribut hieß: zur „schonungslosen“ Aufdeckung. Hierzu verlautete die Meldung, das Ergebnis der ersten Pressekonferenz sei „mager“. Gleichwohl und dessen ungeachtet verkündete das CDU-Präsidium des Lothar di Misere den Rückzug aus dem gemeinsamem Forum der Volkskammer-Fraktionen, dem Demokratischen Block. Dafür wolle man nur noch am „Runden Tisch“ präsent sein.

Modrow war noch immer sympathisch. Aber er schien schon fast bedeutungslos. Es bliebe dann noch Gysi. Wir haben den Gysi in der Sicht des Wolfes kennengelernt. Wir sehen ihn auch als Messias letzter – wirklich allerletzter – Hoffnung der Ostdeutschen. Wie sah sich Gysi selbst? Gysi sieht sich selbst „zuerst als Anwalt“. Sagt er. Nun kann auch ein guter Anwalt durchaus eigenen Charakter haben. Bei jemand der sich ZUERST als Anwalt sieht, liegen die Dinge etwas komplizierter. Sein eigener Charakter ist dann Charakterlosigkeit. Er hatte auf der Vierter-November-Demo in Berlin ungefragt den Krenz verteidigt. Ebenjenen Krenz der die SED in die Irre geführt, dann enttäuscht, dann verleugnet, dann gelähmt, dann zweimal enthauptet und schließlich komplett verraten hatte. Vorm ZK-Gebäude verteidigte Gysi daraufhin die SED-Mitglieder gegen den Krenz und krähte: „Wir setzen uns an die Spitze! Und wir dürfen uns das auch nie wieder aus der Hand nehmen lassen!“

Man johlte dazu. Befriedigt schrie Gysi: „Und wenn wir hier jeden Tag demonstrieren, bis die Sache in Ordnung gebracht ist!“

Nun jedenfalls stand die DDR wirklich kopflos da – ein Zustand den sich niemand je erträumen ließ, bei aller zuvor gewahrten eindimensionalen Kopflastigkeit. Und selbst eingebrockt hatte sie diesen Zustand sich zudem. Was lag für die verbliebene Spitze näher als nach dem Wolfe zu rufen:

Lieber Onkel, der du uns all die Jahre begleitet hast! Hilf! Wir wisen ja nicht ein noch aus!

Aber gern; brummte der Wolf. Bin schon da! Da kann ich ja die Kreide zur Seite legen. Nein! – fiel diesem ein. Noch nicht. Noch immer wollen die DDR-Bürger absolut keine Vereinigung. Und unsere Westdeutschen wollen sie auch nicht. Ich muss zumindest noch ein paar Versprechen anbringen!

Wie kann ein solches Versprechen lauten? überlegte Helmut Kohl. Wir werden sagen… Ich werde sagen: Keinem soll es schlechter gehen als bisher! Aber vielen wird es besser gehen! Helmut Kohl überlegte hin. Das reicht noch nicht. Er dachte her. Ich werde sagen: Hier im Osten werden bald die Landschaften blühen! Ja! Ein schönes Wort: Blühende Landschaften! Das brezelt!

„Achtung! Quantensprung!“ – meldet da die chronologistische Zeitmaschine: Selbigen Tags trafen zur Tagung des Politisch-Beratenden Ausschusses der Warschauer Vertragsstaaten die letzten Vertreter des Bruderbundes in Moskau zusammen. Doch sie vertraten kaum noch sozialistische Staaten. Einst waren diese Staaten angetreten, eine neue Gesellschaft zu errichten – als gänzlichem sozialen Neubeginn nach Krieg, Terror, Verwüstung und Chaos. Sie waren eingestanden für ein Etappenziel zum Kommunismus, auch wenn es galt, Widersprüche auszuhalten. Gemeinsam hatten sie dem Wolfe getrotzt. Dann wurden die Widersprüche unbequem: Ausreichend Lebensmittel und Gesundheitsfürsorge, Trabant und zwei Sorten Kaffee können nicht dauerhafte Lösung sein! Es ward jetzt eine Einpack-Konferenz, von Gorbatschow dirigiert. Impulsgebend angestoßen war sie vom Lande mit der Block-Grenze, vom Lande an der Nahtstelle der zwei Systeme, direkt am „Eisernen Vorhang“.

Diesen Impuls hatten zwei Leute zu verantworten. Sie hießen Krenz und Modrow. Folgerichtig waren beide anwesend. Allerdings hatte der Krenz nicht mehr teilnehmen wollen: Teufelchens Stimme folgend, hatte er bereits beschlossen, jetzt auch als Staatschef und Nationaler Verteidigungschef zu verschwinden. Das Chaos war ja angerichtet.

Im Flugzeug hatte Krenz zum Modrow gesprochen: „Deine Mitarbeiter schienen etwas überrascht, mich am Flugplatz zu sehen. Mein Eindruck war, die denken: Der Krenz hat immer noch nicht begriffen, dass ihn niemand haben will. Ich hatte dir doch gestern abend Gorbatschows Entscheidung mitgeteilt, dass er uns beide begrüßen möchte?“

Sprach der Modrow zum Krenze: „Tut mir leid. Ich konnte nicht mehr alle informieren. Wenn Bundeskanzler Kohl nach Dresden kommt, möchte ich übrigens die Gespräche allein führen. Du kannst ihn ja noch als Staatsoberhaupt im Gästehaus der SED-Bezirksleitung Dresden empfangen.“

„Aber“, setzte Krenz dagegen, „das Gästehaus ist doch aufgelöst.“

Gorbatschow jedenfalls wollte beide dabei haben – als maßgebliche Initiatoren oder Impulsgeber beim großen Einpacken.

Geschichte geht nicht ohne Symbole.

Gelöst und leicht sprach er jetzt über seine Papst-Audienz in Rom: Was sei dieser für eine gebildete Person! Und der USA-Präsident repräsentiere nicht mehr den Gegner, sondern eher einen Partner. Die Vereinigung Deutschlands läge nahe…

Heiser und sympathisch bekräftigte es Modrow der Konferenz: Man wolle alle Möglichkeiten einer Gemeinschaft mit der BRD voll ausschöpfen.

ALLE Möglichkeiten. VOLL ausschöpfen.

Die übrigen Vertragspartner des Bruderbundes notierten alles und dachten: Gut, die Messen sind gesungen. Her mit den Krediten vom Internationalen Währungsfonds! Ein einziger wich ab und störte das Orchester. General Jaruzelski, noch polnischer Staatspräsident, wandte ein: „Zur deutschen Einheit sollte angesichts der Wichtigkeit des Problems eine gemeinsame Formel erarbeitet werden, in der die übereinstimmende Position zum Ausdruck kommt.“ – Er war der einzige, der noch Übereinstimmung forderte. Und dieser war kein Politiker. Gorbatschow überging es und log noch beim Abschied. Er drückte jedem die Hand. Er sprach: „Auf Wiedersehen, Genossen!“ Er log noch simpler dem Egon ins Gesicht und umarmte ihn. „Egon, weiche nicht zurück!“

Als er es später seiner Ehefrau Raissa und seinem Intimus Jakowlew erzählte, lachte er schallend.

Ein UvD namens Meyer klatschte einen Stapel Briefe auf den Tisch, sowie zwei Zeitungen; Junge Welt und Thomas’ Streifband-Exemplar. Dieser saß am Tisch und zeichnete mit Kugelschreiber eine kubistische Landschaft. „Mensch Meyer“, sagte er ohne hinzusehen und deutete auf den Besenschrank. „Da steht der Eimer.“

Der Meyer ging zur Tür. „Warte mal!“ forderte Arndt, ohne hinzusehen. „Wie heißt’n du?“ Er strichelte eine Kugel auf eine Pyramidenspitze, welche dort unmöglich halten konnte. Und doch hielt sie.

„Welches Schweinerl hätten’s gern?“ fragte es aus LSD’s Bette. „Ditte is ’ne Westsendung“, erklärte es von Andreas’ Bett her, „die Thomas überhaupt nicht kennt.“

„Robert“, sagte der UvD.

„Ja?“ fragte Thomas erstaunt und sah hoch. „Seltener Name. Ich meine, er ist selten geworden. Hört man kaum noch.“

Robert Mayer stand in der offenen Tür und deute mit dem Kopf zum Gang. „Komm mit!“

Thomas griff nach der Feldjacke. „Brauchst du nicht“, sagte Mayer. „Wir gehen nicht weit.“

Fünf Zimmer weiter öffnete Robert Mayer eine Tür und ging zu einem Bett, auf dem zuoberst ein schwarzgelockter Junge im Halbschlaf lag. „Darf ich bekannt machen? Thomas – Robert.“ Thomas Arndt staunte.

„Siehst du“, sagte der Mayer. „Das ist ungewöhnlich! Aber warum soll nicht mal etwas Ungewöhnliches passieren? Auch wenn es unwahrscheinlich ist… Und je länger etwas Unwahrscheinliches nicht geschieht, desto wahrscheinlicher wird es doch.“

Pro tribunal

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