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Lynch-Justiz

Was wissen wir von gewesener Wirklichkeit, vom wirklich Gewesenen? Was hatte ein gewisser Edgar Haureich vorm Staatsratsgebäude getan?

Er ging dieses Vormittags am ZK-Gebäude vorbei und stutzte. Aus einer schwarzen Limousine stieg ein großer Mann, den er schon einmal gesehen, mit dem er gesprochen… Am Tor stand unbewegt ein grauer Posten mit braunem Koppel und Schirmmütze. Dieser sprach soeben zu Egon Krenz: „Sie sind noch Vorsitzender des Staatsrates? Tut mir leid, Herr Krenz. Ich darf Sie nicht reinlassen.“

Herr Krenz musste sich an seinem schwarzen Wagen festhalten.

Haureich stand da und riss die Augen auf. Herr Krenz griff in seine Innentasche. Er zog mehrere Papiere heraus und sagte zum Posten: „Sie sind Angehöriger des Wachregiments und unterstehen damit dem Nationalen Verteidigungsrat. Ja?“ Haureich bedauerte, die Worte nicht verstehen zu können. Indes ließ sich der Posten auf gar keine Diskussion ein und stand unbewegt.

Herr Krenz spürte ein Zittern.

Was, überlegte Haureich, hat er damals eigentlich zu mir gesagt? Ich weiß nur noch was ich ihm dann hinterher rief: ‚Mach was draus, Egon!’

Aber er hat nichts daraus gemacht, gar nichts. Er ist nicht der Mann dazu.

Neugierig besah er die Szene.

„Ich will nur meine Sachen holen“, erläuterte Herr Krenz dem Posten. „Ich bin in Eile! Ich habe heut ein Treffen mit dem Vizepräsidenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, mit dem für Außenbeziehungen zuständigen EG-Kommissar.“

Unbeweglich stand der Posten.

„Ich weiß, ich verstehe“, sprach Herr Krenz, „dass Sie Ihre Befehle haben. Aber was denken Sie…“ Er ward energisch. „Was berechtigt eigentlich einen Arbeitsausschuss zur Vorbereitung des Außerordentlichen SED-Parteitages dazu, mich daran zu hindern meine Unterlagen aus dem ZK zu holen?“

Der Posten zeigte keine Miene.

Haureich erriet das Geschehen und verspürte Schadenfreude: Hast es vergeigt! Hast ein Provisorium durchs nächste ersetzt, ein Gremium nach dem andern ausgeschaltet! Und dein letztes Provisorium sperrt dich jetzt selber aus… Wundervoll! Köstlich! Das nennt man wohl einen Treppenwitz. Hättest eben damals doch zurücktreten sollen, wie wir es wollten!

„Hören Sie mal!“ forderte der Herr Krenz vom Posten und war sehr nervös.

Dann geschah was ihm geschieht, sobald eine Situation eintritt, in der für ihn alles, wirklich alles an der Lösung liegt: Sie fiel ihm ein. Er sah seinen Stapel Papiere aus der Innentasche durch und hielt dem Posten leicht zittrig ein glänzendes Klapp-Kärtchen hin. „Kennen Sie diesen Ausweis?“

Der Posten besah den Ausweis. Wir kennen diesen Posten nicht, aber es hat keine Bedeutung. Ein jeder den wir kennen, hätte eben das vollzogen, was geschah: ein Schaltmeister oder ein Arndt oder Crab. Man war ein DDR-Bürger. Im Endeffekt stand man für Sauberkeit. „Ja, Genosse Vorsitzender“, sagte der Posten sauber. Denn da stand sauber zu lesen: Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates.

„Lassen Sie mich auf diesen Ausweis rein?“

„Natürlich.“

Nervös stieg Herr Krenz die Treppe in die zweite Etage empor. Er fühlte sich fast schon wie ein Dieb, dem vielleicht ein Coup gelingt. Vor seinem Arbeitszimmer blieb er stehen wie in den Boden gerammt. Das Zimmer war versiegelt.

Wo ist eigentlich Sylvia? Er riss die Tür zum nächsten Büro auf. Kein ‚Guten Morgen’. Heiser und wild entschlossen forderte Krenz: „Sofort eine Verbindung zu Genossen Modrow! Sofort!“

„Hans“, dröhnte Herr Krenz daraufhin in die Muschel. „Ich protestiere! Erstens bin ich in diesem Moment noch Staatsratsvorsitzender. Zweitens brauche ich für mein Gespräch mit dem EG-Kommissar nachher meine Unterlagen. Mein Zimmer ist versiegelt! Was soll das heißen? Ich verlange sofort…“

Modrow gab den Ahnungslosen: „Warum wendest du dich an mich? Ich habe selber in diesem Moment alle Hände…“

„Hans! Ich muss in mein Zimmer! Wie soll ich ohne Vorbereitung das Treffen…?“

„Natürlich“, lenkte Modrow ein. „Du kannst in dein Büro. Ich werde es sofort veranlassen.“

Was der Modrow dann veranlasste, sah aus wie folgt. Herr Krenz betrat seinen eigenen Arbeitsraum als Staatsoberhaupt unter Aufsicht. Zwei Herren der Verwaltung beäugten misstrauisch, wie er Papiere durchsah und zwei Koffer mit Dokumenten packte. „Darf ich“, fragte Herr Krenz devot, „diese Koffer hier erstmal stehen lassen? Ich benötige sie dann. Zuerst habe ich noch einen anderen Termin.“

„Bitte“ sagte einer der Verwaltungsherren.

„Bitte“, sprach Herr Krenz, „lassen Sie das auch vom Genossen Gysi bestätigen. Er ist Vorsitzender des Arbeitsausschusses.“

Herr Krenz fuhr zum Staatsratsgebäude, seinem offiziellen Amtssitz. Hier war er mit dem Rechtsanwalt Vogel verabredet. Er saß in einem Sessel seines eigenen Vorzimmers und wartete. Dabei ging ihm durch den Kopf:

Vogel ist ein Vermittler zwischen den Welten, zwischen Ost und West. Er hat sich für Ausreisewillige eingesetzt, sogar für die aggressiven. Er hat Lösungen gefunden, damit der Westen der von solchen Fällen politisch profitierte, uns die Ausbildungskosten ersetzt. Dann lief im allgemeinen alles reibungslos. Freikauf nennen sie das drüben. Hüben wie drüben wird Vogel vertraut. Er kommt jedoch nicht. Er ist doch die Pünktlichkeit in Person!

Die Verabredung fand nicht statt. Unverrichteterdinge stieg er wieder in seinen Wagen. Herr Krenz ist nicht nur weiß geworden. Er ist unsicher geworden. Er hat Furcht. Er fühlt, dass die Dinge ihn überrollen, seine eigenen Dinge. Seine historische Rolle, sein historisches Versagen verschlingen ihn, fressen ihn wohl mit Haut und Haar. „Winne“, sprach er zum Fahrer. „Was ist bloß los? Jetzt kommt Vogel nicht zum Gespräch! Es geht um ein paar Fragen zur General-Amnestie, die morgen im Staatsrat behandelt werden sollen.“

„Eine Amnestie?“ fragte Fahrer Winne ruhig und blickte konzentriert auf den dichten Verkehr der Karl-Marx-Allee. „Schon wieder? Und jetzt für alle?“

„Ja, für alle! Wir wollen eine echten Neuanfang machen, einen radikalen Schnitt.“

„Aber in welche Richtung?“ fragte Winne ruhig. „Für alle… Vielleicht ist das falsch?“

„Aber was“, stammelte Herr Krenz und bewegte flattrig die Hände, „sollen wir denn tun? Was? Was?“

„Das hättest du vielleicht vor vier Wochen fragen sollen. Vielleicht war alles…“ Oh Gott! dachte der Fahrer Winne. Wie soll man es sagen?

„…falsch was seit deinem Amtsantritt damals geschehen ist?“

Herr Krenz schwieg. Besehen wir ihn noch einmal genau. Er ist wirklich obsolet, so weiß und flattrig er nun ist. Die Geschichte hat ihn überholt, denn sie kennt solche Leute nicht. Vollzogen ist der Abschied. Da sitzt er. Nichts bleibt. Seine müden Augen blicken in jenen endlos tiefen Tunnel von Nacht dem Erich Honecker anheim fiel. Er hat wohl sich der DDR gefreut, wie nahezu jeder ihrer Bürger.

Er erinnert sich seiner Dorfschule. Vielleicht war es falsch… wegzugehen.

Im ZK-Gebäude traf er Sylvia. Auf dem Gang stand sie ihm gegenüber. ‚Ach ja“, sagte sie. „Ich bin jetzt mit der Volkskammer-Vorbereitung beschäftigt. Es soll ja eine Amnestie beschlossen werden.“

„Ist das falsch?“ Sylvia sah an die Decke. „Wen interessiert es noch?“

„Sylvia! Was ist los? Ich komme gerad von einem Termin deswegen mit Rechtsanwalt Vogel. Aber er war nicht da.“

„Rechtsanwalt Vogel“, sagte Sylvia kalt, „ist auf dem Weg zum Staatsratsgebäude verhaftet worden.“ – „Nein!“ Krenz schnappte nach Luft. „Warum denn bloß?“

„Befehl der Staatsanwaltschaft“, bemerkte Sylvia.

„Das kann doch nicht sein! Sylvia! Sie glauben doch auch nicht, dass es allein das Werk irgendeines Staatsanwaltes ist, den international bekannten Anwalt der einen Termin beim Staatsoberhaupt hat, zu verhaften?“

„Wen interessiert es noch?“

Er wandte sich ab und ging in sein Büro. Die aufmerksamen Herren sind zur Stelle und beobachten, wie er die beiden Koffer nimmt.

Als Herr Krenz am heimischen Majakowski-Weg eintraf, kam ihm seine Gattin entgegen. „Schnell!“ sagte sie. „Am Telefon ist ein Stellvertreter des Generalstaatsanwaltes.“

Er hastete ins Haus. „Herr Krenz“, sprach es aus dem Hörer. „Sie wurden beobachtet, wie Sie aus dem Haus des Zentralkomitees zwei Koffer mit Akten mitgenommen haben. Ich schicke zwei Herren vorbei, die diese Koffer wieder abholen.“

„Ich denke“, hauchte Herr Krenz in sein Telefon, „ich höre nicht richtig! Ich habe diese Akten mit Genehmigung des Genossen Gysi mitgenommen.“

Das war wohl etwas geschwindelt?

„Tut mir leid“, sprach es aus dem Hörer. „Ich habe Weisung so zu verfahren.“ Das Herz schlug Herrn Krenz bis zum Halse. Was ist ein Herzinfarkt?

„Nach der Verfassung der DDR“, sprach er mühsam und beklommen, „ist der Generalstaatsanwalt dem Staatsrat gegenüber verantwortlich.“ Seine Stimme kippte etwas. Ist sie gleich weg? „Sie reden jetzt mit dem Vorsitzenden des Staatsrates.“

Am andern Ende schnaufte man erwartungsvoll.

„Genügt Ihnen das?“ schnaufte Herr Krenz.

Mehr Trümpfe hatte er nicht.

Bis auf einen: Er würde jetzt seinen Rücktrittsgesuch an den Staatsrat schreiben. „Entschuldigung“, bat der Anrufer.

Ja, ja, sprach der alte Oberförster. Und seine Tochter Käthe saß am Fenster und nähte. Da stach sie sich in den Finger. Tropf, tropf machte das Blut. Ja, ja, sprach… Der Parteisekretär Fred im Geräte- und Reglerwerk Teltow befand sich auf dem Weg zum Mittagstisch. „Mahlzeit!“ sagte es von der Seite.

Jemand ging im breiten Flur neben ihm und hatte „Mahlzeit!“gesagt. Vorn lag der helle Speisesaal. „Was macht Dynamo Dresden?“ fragte der Kollege. „Das was Lok Leipzig nicht macht“, entgegnete der Parteisekretär schlagfertig. Er stellte sich an und griff ein lindgrünes stabiles Plastik-Tablett vom Stapel. Vor ihnen standen fünf Mitarbeiter entlang der gläsernen Durchreiche.

„Wenn die den Pesskow nicht herausgeholt hätten“, maulte der Kollege. „Solange jemand einfach in den Stasi-Verein delegiert werden kann…“

Der Parteisekretär merkte auf und sondierte: „Die Formulierung ist mir neu, wenn du den BFC meinst.“ Aus der gläsernen Etagerie nahm er ein goldgelb gefülltes Saftglas. Trüb nickte der Kollege. „Ist mir selber neu. Früher hat man nur so flapsig gesagt ‚Die Firma’ oder ‚Mielke-Verein’ – oder so was. Jetzt ist eben der Begriff Stasi angesagt.“

Die Warteschlange vor ihnen hatte sich bis auf drei Leute verringert. Dafür standen weitere Kollegen hinter ihnen. „Das Fernsehen macht wirklich Stimmung“, bemerkte der Parteisekretär. „Das ist wirklich meinungsbildend! Jetzt!“ Er schob sein Tablett vor sich her. Vor ihm standen nun noch zwei Leute, eine Mitarbeiterin sagte: „Den Sauerbraten mit Klößen bitte.“

„Da gibt’s eben jetzt so was wie einen allgemeinen Stasi-Hass“, sprach es in sein Ohr. „Oder nicht?“

„Woher kommt denn der?“ wollte der Parteisekretär wissen.

Unschlüssig zuckte der Kollege die Schultern. „Ich stell mir das ganz einfach vor: Da hieß es immer, die sind da um uns abzusichern, um uns zukunftsfest zu machen. Und was ist jetzt sicher? Was ist zukunftsfest? Na? Die haben unsere Gelder verbraten. Aber wozu?“

Die Warteschlange vor ihnen war bis auf einen Kollegen geschrumpft. „Das ist doch dasselbe wie bei deiner Partei“, setzte der Kollege fort. „Wenn man den Mitgliedern sagt: Deine Meinung ist gefragt, deine Überlegung – dann machen sie mit. Veränderungsgeist hat jeder. Wenn man ihnen später sagt: Lasst mal alles laufen, lassen sie eben alles laufen. Nur vorwärts gehen muss es trotzdem. Und wenn’s das nicht mehr tut, dann laufen sie euch eben weg. Bist wohl inzwischen sowieso noch der einzige.“

„Mir ist die Sache nicht ganz so klar“, gab der Parteisekretär zu. „Aber eines fällt mir auf. Das Fernsehen und die ganze Presse sind interessant – und meinungsbildend – weil sie jetzt unorthodox, unüblich berichten. Weil sie jetzt Dissonanzen bringen statt ewiger Harmonie, weil sie unbequeme Fragen stellen und von den vorherrschenden Auffassungen abweichen. Wahrscheinlich ist das überhaupt Grundlage für eine erfolgreiche Meinungsbildung.“

„Ich nehm den Broiler“, erklang es vor ihm.

„Wenn es im richtigen Rahmen bleibt, bittesehr!“ brummte der Kollege hinter ihm. „Wenn es zu schräg ist und zu komisch, nimmt es aber wieder keiner für voll. Übrigens bist du gleich dran.“

„Ja, mit Butterbohnen!“ sprach es vor ihm.

„Medien brauchen immer jemand auf den sie zeigen können“, erklärte der Kollege von hinten weiter. „Einen bösen Buben. Der hat entweder die sozialistische Moral verletzt und die Kollektivität, oder er hat sich bereichert. Oder er hat das Statut verletzt. Ich weiß schon, warum ich damals nicht bei euch eingetreten bin. Jetzt ist die Stasi der böse Bube, weil die Partei noch zuviel Einfluss hat. Morgen ist die Stasi abgeräumt. Dann ist die Partei der böse Bube.“

Der Parteisekretär hatte gespannt zugehört. „Was wollen Sie?“ fragte es aus der Küche. Er nahm es nicht zur Kenntnis.

„Was wollen Sie?“

„Und jetzt“; wandte er sich zurück an den Kollegen, „willst du nicht der böse Bube sein. Und in kluger Voraussicht bist du deswegen gar nicht erst eingetreten. Aber du kannst zehnmal sagen: Ich habe nicht den Schwarzen Peter! Das hilft nichts, wenn du ihn trotzdem hast. Denn es geht jetzt um deine Zukunft.“ Hinter ihnen erhob sich Grummeln. „Darf ich“, fragte die weiß behauptete Küchendame bärbeißig, „Exzellenz bitten, eine Wahl zu treffen? Hinter Euer Majestät warten noch mehr Leute.“

Sie schwenkte die Kelle. „Darf es zunächst ein Süppchen sein? Tomatensuppe wäre zu empfehlen.“

„Mach schnell!“ mahnte der Kollege. „Nimm irgendwas, damit’s weiter geht! Jetzt ist keine Zeit für Palaver. Du hast zu lange geredet, statt dich konkret mit der Hauptsache zu befassen. Jetzt ist keine Zeit mehr.“

Der Parteisekretär machte indes keine Anstalten. „Ist ’ne prinzipielle Frage!“ widersprach er. „Soll man auf Zeitdruck hin irgendeine Wahl treffen? Nur damit entschieden ist? Kann das richtig sein?“ Das Grummeln verstärkte sich. „Geht’s mal weiter da vorn? Pause ist bald um!“ Die Küchendame kippte ein halbes gebratenes Huhn auf einen Teller. Eine Küchenhilfe schaufelte Kartoffeln und Mischgemüse hinzu und goss mit ihrer Schöpfkelle Soße darüber. Man schob ihm den Teller zu: „So! Guten Appetit! Weiter geht’s!“ – „Sauerbraten mit Mischgemüse, nein… mit Rotkohl!“ sagte der Kollege an der Durchreiche schnell.

Inmitten des Stimmengewirrs schritt man zwischen den Tischen einher.

„Ist hier noch Platzt?“ Am quadratischen Tische mit orange geblümter Decke saßen zwei Leute in blauen Kitteln und nickten kauend.

„Mahlzeit!“

Durch die großen blanken Scheiben, braun getönt, drang mild die freundliche Spätherbstsonne. „War das im Prinzip nun richtig oder falsch?“ fragte der Kollege und setzte sich. Er stellte ein Kompottschälchen mit Vanille-Pudding und Kirschen hinter seinen Teller, legte die Papierserviette ordentlich links davon ab und schwang das Blechbesteck. „Richtig? Falsch?“ murmelte der Parteisekretär. „Die Küchenhilfe hat richtig gehandelt; im übergeordneten Sinne aller Kollegen. Lass dir schmecken.“

„Danke. Dito.“ Man schnitt gemächlich und gabelte und speiste. „Aber es ging ja auch nur um Broiler und Sauerbraten“, sprach der Parteisekretär, „Wenn anderes zur Debatte steht, Schwerwiegendes…“

„Was denn zum Beispiel?“

„Pass auf, du kleckerst. Na zum Beispiel die Frage, wie der Weg prinzipiell aussehen soll. Vernunft? Planung? Mitbestimmung? Oder Kapitalismus – Schattendemokratie, Bereicherungsdiktatur? Rücksichtslosigkeit? Egoismus?“ Der Parteisekretär verschluckte einen heißen Kartoffelbrocken, verdrehte die Augen und griff nach dem Saftglas. „Mmmh… Und genau darum geht’s jetzt. Gut, gut, wir haben die Orientierung verloren, haben Zeit vergammelt. Schmeckt’s?“

„Ja, schon!“ grinste der Kollege. „Wenn der Vortrag nicht wäre.“ Der Parteisekretär sah sich in einer Zwickmühle. Der Kollege wollte in Ruhe speisen – doch die blau Bekittelten hatten ihr Besteck auf die Tellerränder gelegt und sahen erwartungsvoll aus. „Ja, ja“, sagte er deshalb und schnitt am Huhn herum. „Ihr sitzt ganz unbefangen da! Ihr könntet jetzt aufstehen und ‚Mahlzeit!’ sagen und einfach gehen. Jederzeit könnt ihr… gehen. In dieser komfortablen Lage könnt ihr natürlich auch noch eine Minute dasitzen und gemütlich lauschen, wie der Vortrag weiter geht.“

Er stopfte sich einen Broiler-Abschnitt in den Mund und wies mit dem Messer auf den Kollegen. „Der war entschlossen mit mir essen zu gehen. Er mich eben selber hat noch gefragt. Jetzt bereut er es schon wieder und möchte fast aufstehen und sich woanders hinsetzen.“

Die Blauen grinsten.

„Aber das wäre unhöflich. Also hofft er nur, dass mein Vortrag rasch endet. Dabei…“ Nun grinsten alle drei. „Dabei bist du selber die Ursache. Nicht? Du hast mich gefragt: War’s im Prinzip richtig?“

Indirekt bestätigte der Kollege: „Der Sauerbraten ist überraschend zart. Es geht also. Es geht doch!“

„Iss erstmal!“ mahnte einer der Blaukittel den Parteisekretär. „Sonst wird dein Huhn kalt. Damit hast du auch nichts gekonnt. Aber interessant ist das schon. Wir beide sind unbefangen. Haben jetzt freie Wahl. Damit haben wir die Möglichkeit, unsere Entscheidung zu durchdenken. Und aus freien Stücken macht es ja auch fast Spaß zu bleiben und dir zuzuhören. Wenn man sich aber immer irgendwie gezwungen fühlt, macht es eben keinen Spaß. Auch dann nicht, wenn man weiß, dass es richtig wäre.“

„Wie seid ihr eigentlich darauf gekommen?“ fragte der zweite Blaukittel neugierig. „Es ging“, sprach der Kollege „um Fussball-Mannschaften.

Dass der Mielke für seinen Lieblingsklub immer gute Spieler zusammensucht, damit die ja nicht baden gehen.“

„Das ist doch drüben sowieso das Übliche. Da holen sie prinzipiell überall die guten Spieler weg.“ – „Wer?“ – „Die mit dem meisten Geld.“

Das Besteck klapperte. „Habt ihr mal den Film ‚Ödipussi’ gesehen?“ fragte einer der Blauen. „Hab ich“, bestätigte der Parteisekretär kauend. „Vor kurzem sogar den zweiten Film von Loriot: ‚Papa ante portas’.”

„Das ist niedlich.“ – „Ja. Komischerweise ist das ein Ost-West-Film. Sozusagen Joint Venture. Diese Szene in der Bibliothek zeigt Bücher von uns. Das Philosophische Wörterbuch, zweibändige DDR-Ausgabe. Scheint ganz gut zusammen zu passen; Loriots politische Harmlosigkeit und die Arglosigkeit bei uns.“

„Was dir alles auffällt!“

„Ich find den Film schon gut!“, sagte der Parteisekretär. „Da kann man schön sehen, wie beknackt und kaputt die Westwelt sogar aus bürgerlicher Sicht ist.“

„Wir hatten auch über Sündenböcke geredet“, erinnerte der Kollege. „Jetzt gibt es einen neuen Sündenbock. Und das ist eben der Mielke. Zeit wurde es.“

„Leider gibt’s keine gravierende Sünde“, wandte ein Blaukittel-Tischnachbar mutig ein. Man fuhr hoch und starrte ihn an. „Na ist doch wahr!“ rechtfertigte er sich. „Jetzt muss wieder der siebente und achte Oktober herhalten. Sie bringen immer weiter Berichte über diesen Untersuchungsausschuss. Und immer ohne Ergebnis.

Wird ja langweilig.“

„Aber auch um Korruption geht’s“, erinnerte sein Partner.

„Der Mielke hat sich doch da nicht geprügelt. Die sagen in der Aktuellen Kamera, er hätte angewiesen, unangemeldete Demonstrationen aufzulösen. Die Vierundzwanzig-Stunden-Frist soll auch überschritten worden sein auf seine Anordnung. Sogar dieser Polizeipräsident Rausch verweist auf den Mielke. Der Hauptverantwortliche für den siebenten und achten soll Mielke gewesen sein. Der hätte auch Schutzausrüstungen für die Sicherheitsorgane ausgeben lassen, aber das sind doch alles stinknormale Geschichten, so wie eben jeder Staat sich selber schützt.“

Der Parteisekretär hatte seinen Broiler vergessen und starrte ihn an. „Meinst du?“ fragte der blaue Nachbar. „Hast du die Nachrichten ganz aufmerksam verfolgt? Das war der reine Krimi! Ich habe so was noch nie gesehen. Diese Bezirksämter für Nationale Sicherheit werden von der Volkspolizei UND von Bürgern und den gesellschaftlichen Gruppen gesichert. Ziel ist, das Beseitigen von Dokumenten zu verhindern. Es besteht die Vermutung… Der stellvertretende Leiter dieser KoKo soll 200 Millionen DM ins Ausland verbracht haben. Ist festgenommen worden.“ Ringsum saß man und sah etwas blass auf den Sprecher.

„Über Schalck-Golodkowski“, meinte der andere im Kittel, „weiß keiner was.“

Der Parteisekretär hielt links die Gabel und rechts das Messer in der Faust und zog die Stirn kraus. Das Huhn erkaltete.

„Schalck-Golodkowski in Fahndung! Rechtshilfeersuchen an alle möglichen Länder! Eine Intrag-GmbH aus diesem Firmenimperium soll 800 Millionen Valutamark erwirtschaftet haben.“

Zufrieden begutachtete der blaue Sprecher die Spannung auf ihrem Höhepunkt. „Laut Generalstaatsanwalt gibt es 340 Hinweise und Anzeigen zum Thema Amtsmissbrauch und Korruption! Dreihundertundvierzig!“

„Nun mal ruhig“, forderte der Parteisekretär. „Das alles klingt ja erstmal nur nach Korruption. Über die ganze Korruptionskiste wurde nur bekannt, dass der Mittag ein Haus besessen haben soll.“

„Und seine Töchter!“

„Und die auch… Das kann was heißen, muss aber nichts heißen. Hunderttausende Leute haben ein Haus. Sonst habe ich nichts Konkretes gehört. Ihr?“

Man suchte sich zu erinnern. „Was anderes war“, fuhr der Parteisekretär fort, „kaum irgendwo zu hören. Nur irgendwas von Bierkasten oder Badezimmerfliese.“ Unwillkürlich nickte der Kollege und sah an die Wand, wo das „Paar am Strand“ hing. Die blauen Kollegen rührten sich nicht.

„Mir“, sagte der Parteisekretär, „ist das Gestammel von diesem Staatsanwalt aufgefallen! Der Generalstaatsanwalt Wendlandt ist zurückgetreten. Jetzt zittert jeder übriggebliebene Staatsanwalt davor, zu wenig durchzugreifen. ‚Ich versteh’s auch nicht’ – hat dieser Staatsanwalt gesagt. ‚Ja, ich muss Ihnen sagen, ich hab…’ – Habt ihr das Rumgezittere verfolgt?“

„Ja! Ja!“

„Der wusste ja überhaupt nichts zu sagen! Wenn man diesen ganzen Komplex hätte untersuchen wollen, musste dies von der Regierung ausgehen… so hat der sich da gerechtfertigt.“

„Ja, ja! Das hat er gesagt! Ich hab’s auch gehört.“

„Das heißt: Wenn zu wenig aufgeklärt wird, muss die Regierung schuld sein! Aber was heißt denn das?“

„Was heißt es denn?“ fragte der Kollege mit dem Pudding.

„Das heißt nur: Wir – die Staatsanwaltschaft – sind nicht schuld! Wir lynchen schon nach besten Kräften! Alles geht nach dem Motto: Rette sich wer kann. Seit Tagen werden immer neue Informationstelefon-Nummern eingeblendet und genannt. Und was kommt heraus? 340 Hinweise und Anzeigen! Alles in allem! Im ganzen Land! Und da ist wirklich jede Badezimmerfliese bei!“

Unschlüssig und stumm wurde dazu genickt.

„Günter Mittag“, sagte der Parteisekretär, „ist mir genauso wenig sympathisch wie jedem andern im Land. Aber der Mittag ist doch nicht die DDR!“ Man nickte etwas energischer. Der Kollege zog sein Schälchen heran und wirkte neugierig. Er löffelte zwei Kirschen mit etwas Pudding. „Und jetzt kommt der I-Punkt!“

„Und der I-Punkt ist“, sagte der Parteisekretär und betrachtete sein kaltes Huhn, „dass wir einfach mal zwei Zahlen gegenüber stellen. Die KoKo soll 200 Millionen D-Mark ins Ausland verbracht haben. Das war aber deren Aufgabe. Sie sollten mit dem Geld international arbeiten, damit mehr für die DDR-Bürger ’raus kommt.“

„Wenn’s nur so wäre!“ sagte der Kollege und leckte das Löffelchen ab.

Der Parteisekretär schloss die Augen. „Und das ist leicht zu begreifen. Die ebenfalls zu diesem sogenannten KoKo-Imperium gehörende Intrag hat achthundert Millionen D-Mark erwirtschaftet. ERWIRTSCHAFTET! Das teilen die Mitarbeiter in einem Offenen Brief mit. Also nicht für private Zwecke, sondern für uns alle.“

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