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Letzte Versammlung

Die beiden blauen Mitarbeiter erhoben sich und brachten ihre Tabletts zur Durchreiche der Geschirr-Rückgabe. „Der glaubt wenigstens dran“, sagte der eine. Er feixte. „Der macht auch ganz allein weiter.“

„Er tut mir leid“, meinte der andere. „Mir sind solche Leute immerhin lieber als diese Schabes. Wer sagt auch, dass er unrecht hat? Aber es ändert jetzt alles nichts mehr.“ – Der andere bestätigte: „Jetzt sitzt er vor seinem kalten Huhn, beguckt e

s und denkt an die DDR. Da war ja wohl auch noch mehr drin. Aber jetzt ist alles kalt. Jetzt ändert niemand mehr was und nichts mehr.“ –

Der Parteisekretär schaute durchaus nicht auf’s Resthuhn, sondern auf das „Paar am Strand“ an der Wand. „Womacka“, sprach er dabei vor sich hin. „Der lag schon richtig, wie es bei richtiger Kunst immer so ist. Die beiden da gucken vor sich hin, so sinnend…“

„Man weiß gar nicht, ob sie es schon hinter sich oder noch vor sich haben“, bekräftigte satt und zufrieden der Kollege.

„Ist gar nicht so wichtig. Beide gucken nicht sinnlich-sinnend, sondern nur abwesend. So wie wir alle abwesend waren, geistig abwesend.“

„Sieh mal, da kommt dein Winkler!“

Dieser trat an den Tisch. „Gehen wir rüber, oder bleiben wir hier?“

„Parteiversammlung“, sagte der Kollege am Tische und stand ebenfalls auf. „Na dann viel Spaß! Wieviele Versammlungen wird es noch während der Arbeitszeit geben, wo wir anderen inzwischen weitermachen müssen? Ich sag dir: Keine mehr!“

„Bleiben wir doch gleich hier“, sprach der Parteisekretär zum Winkler.

Dies war der siebente Dezember. Nach und nach trudelten die SED-Genossen ein und nahmen an den Tischen Platz. Es waren deutlich mehr blaue Arbeitskleidungen erschienen als weiße Hemden, doch man sah wirklich: Es lohnt nicht mehr, in den Versammlungsraum zu gehen. Es lohnte auch nicht mehr, eine Sitzordnung zu bauen. Indes war der Ablauf der Übliche. Man saß und wartete des Kommenden. Nun erlaubte sich auch der Parteisekretär den Luxus, einfach abzuwarten. „Siebenunddreißig Leute“, murmelte er. „Die Mehrheit ist noch da!“ Dennoch saß man im großen Speiseraum wie der verlorene Haufe, schwieg sich an, räusperte sich und schwieg. Die Stille begann zu drücken. Da sprach etwas schrill eine junge Mitarbeiterin: „Lösen wir uns doch auf!“

„Göre!“ sprach ein älterer Genosse.

„Schlechten Fick gehabt?“ fragte die Göre. Beide wurden etwas rot.

„Nachher kannst’n paar hinter die Löffel haben! Ich will jetzt die Tagesordnung wissen!“ forderte der Ältere. Die Stille ringsum setzte sich fort.

Dann sagte der Parteisekretär von seinem Tische: „Wir sind alle nicht auf die jetzt entstandene Lage vorbereitet. Ihr nicht, die Leitung nicht. Ich persönlich auch nicht. Bislang hatten wir immer eine Tagesordnung, sogar noch auf der letzten Versammlung wo wir die verbleibenden Mitglieder gezählt haben. Inzwischen fehlen alle außer uns, oder sind ganz verschwunden. Und zwar nicht deshalb, weil sie plötzlich Antisozialisten geworden sind, sondern weil wir als Partei… Ich meine, es lief wahrscheinlich immer zu sehr nach Tagesordnung. Es gab zu sehr Vorbereitung bis ins Detail. Ich schätze, Genossen, irgendwann war uns die Vorbereitung wichtiger als das was vorzubereiten war.“

„Überlegen wir, was wir jetzt noch tun können!“ schlug frisch ein pausbäckiger blonder Jugendlicher vor.

Man saß ringsum, wiegte den Kopf oder nickte. Der Parteisekretär sprach weiter: „Und deshalb sind sie jetzt alle weg; weil wir in der Sache nichts mehr zu sagen wussten, also nichts mehr zu sagen hatten. Weil wir gar nicht mehr geführt haben. Auch schon zu Honeckers Zeiten nicht mehr. Das war nur nicht ganz klar. Jetzt stellt es sich heraus. Jetzt, wo es so auf eine Führung ankommt. Wir haben von der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik gesprochen. Das war ganz nett und auch etwas kurzatmig. Nun beweist sich, dass es nicht einfach kurzatmig und dümmlich war, sondern alles Leben aufgefressen hat wie manche Schädlingsarten, so dass bei uns nur die äußere Hülle übrig blieb. Man muss also wieder generell denken. Und deshalb halte ich den Vorschlag der jungen Genossin trotz der schlechten Form für gar nicht so verkehrt.“ Das Publikum riss die Augen auf.

„Ich möchte die junge Genossin… Wie ist dein Name?“

„Miriam“

„Also Miriam; willst du uns deinen Vorschlag erläutern?“

„Möchte ick!“ antwortete diese. „Und ich entschuldige mich für de schlechte Form. Also, meene Kollegen fragen mich: Wat willst’n noch da? Und ick sage denen: Ich bin Mitglied, also geh ich hin.“ Man nickte eifrig zu Miriams Worten. Der ältere Kollege nickte äußerst eifrig.

„Durch die DDR-Mannschaft…“, setzte Miriam fort, dann wurde sie wiederum etwas röter, kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich. „geht ein Riss. Weiß bloß keiner an welcher Stelle.

Man sieht immer Demonstrationen und Kundgebungen. Aber wenn zehn Leute gefilmt werden und das dann zehnmal von verschiedener Seite gebracht wird, sind es hundert Leute. Wenn die hundert Leute aufnehmen und die zehnmal zeigen, sind es schon tausend. Und zehntausend Mann auf einmal gefilmt – das sieht schon nach was aus. Wenn man’s zehnmal zeigt, sieht das aus wie hunderttausend.“

Man saß, lauschte und suchte dieser Rechnung beizukommen.

Miriam sagte: „In Wirklichkeit glotzen bloß alle doof und staunen. Jeder sagt: Also das ist de DDR-Bevölkerung? Komisch! Wo ist der Riss? Wer geht denn eigentlich auf Demonstrationen? Aber es muss ja woll so sin? Das war früher wohl immer eine Täuschung, dass die DDR-Leute irgendwie zusammenstehen. Muss doch wohl! Aber wo jenau ist jetzt der Riss? Wer ist sich denn nu nicht einig? Am Ende bin ich der einzige, der sich hier einig ist? Wat, wenn jeder sich selber für gut hält? Dann denkt jeder doch, die andern ringsum sind nicht so gut wie er selber. Vielleicht sind den andern allen de Bananen und de Westautos doch wichtiger als unser Staat? So wie es im Westfernsehen gezeigt wird!?“

Verdattert wurde dieser Vortrag ringsum zur Kenntnis genommen. Man lachte auch etwas. Und es sprach Miriam: „Det war Nummer eins. Jeder denkt nu, er steht alleen. Und wenn er sich dann umguckt, sieht er nur so wat wie ’ne große Unordnung. Aber damit kann keener umgehen. Und jeder denkt: Weg mit de Unordnung! Jede Art Ordnung ist besser als diese Unordnung! Deshalb schielen manche ooch nach Westen. In’n Nachrichten warnt de Bauernpartei vor… vor…“

„vor Abgleiten des Landes in Anarchie und Chaos“, half der Parteisekretär.

„Ja. So hieß et. Und deshalb schielen se ooch alle nach Rücktritten. Weg mit den Leuten, die uns diese Unordnung ingebrockt haben! Un denn verlangt die Bauernpartei und ooch die CDU, Rücktritt von den Krenz. Un denn tritta zurück, und man merkt et gar nicht mehr. Gestern abend haben’se bei der Aktuellen Kamera gesagt, dass Manfred Gerlach als neuer Staatsratsvorsitzender gewählt is; un denn kam kurz raus, dass Krenz nu ooch schon als Staatschef zurückgetreten ist.“

Mit fast unerträglich wachsender Spannung verfolgte man allseits Miriams Referat. „Und Knall und Zack und Schnitt! Denn haben se erzählt, dass der Rechtsanwalt Vogel festgenommen und derzeit schon wieder ma freigelassen ist. Und Knall und Zack und Schnitt sagt die SDP plötzlich: ‚Lassen Sie uns gemeinsam alles tun, dass nicht der letzte Zipfel an Sozialismus den Bach ’runter geht!’ Und vorgestern sagt der ‚Demokratische Aufbruch’, er ist für den Zehn-Punkte-Plan von Kohl. Und gestern sagt derselbe Demokratische Aufbruch, er ist dagegen. Weil… die sind nämlich gegen ’ne Wiedervereinigung. Weil‘s einfach zu ville Protest dagegen gab.“

„Na gut, na schön“, fuhr der Parteisekretär hinein. „Das wäre also die besagte Unordnung. Aber du wolltest uns deinen Vorschlag erläute…“

„Schön, dass du es gemerkt hast!“ widersprach ihm der Ältere. „Weiter, Miriam!“

„Chaos!“ sagte Miriam hastig. „Knall und Zack und Schnitt – die nächste Chaos-Meldung! Da wird plötzlich nicht mehr gesagt: Krise des Landes oder tiefe Krise. Jetzt heißt et: galoppierende Krise! In unsan eigenen Nachrichten! Zwischendurch zeigen’se ein falsches Hintergrundbild, dann fehlt et sogar komplett.“ Sie hob die Stimme: „Chaos! Wir machen uns selber fertig! Und die SED, unsere Partei, hat überhaupt keinen Generalsekretär mehr!“

Ihr weißes Gesicht zeigte rote Flecken wie bei Ball. Sie atmete unruhig. „Weiter, Miriam!“ drängte der Sekretär.

„Das ist Nummer zwei“, sagte sie. „Und denn kieken wa uns mal an, wie sich die staatliche Leitung ufführt! Das ist dann Nummer drei. Der VW-Konzern will mit IFA eine gemeinsame GmbH gründen. Muss ja mit de Regierung schon abgesprochen sein. Und det unter da Überschrift ‚Zusammenarbeit mit VW’. Anliegen soll sein, ein Nachfolgemodell für den Trabant zu entwickeln.“

„Richtig!“ sprach der Winkler, da Miriam außer Atem war. „Ein neuer Trabant ist ja nicht schlecht. Aber vor zwei Tagen oder so hat die Wirtschaftsministerin Christa Luft noch gesagt: ausländische Beteiligungen nur bis neunundvierzig Prozent, damit wir noch das Sagen haben. Sonst können wir uns ja gleich komplett an den Westen ausliefern. Aber jetzt haben sie gemeldet, dass es eine 50-zu-50-Prozent-Beteiligung sein soll. Und konkrete Planungen für das Unternehmen soll es noch gar nicht geben. Ist doch oberfaul! Das kann ja nur ’n Versuchsballon sein, um die Stimmung zu testen. Und unsere bringen das einfach so. Ist doch oberfaul!“

Eine ältere Genossin meldete sich ordentlich. „Und außerdem hat die Christa Luft mitteilen lassen, dass Betriebe jetzt privatisiert werden. Produktionsmittel werden also wieder an die Kapitalisten verschenkt. Das ist jetzt offizielle Restauration, Eröffnung des Kapitalismus!“

Erschüttert blickte sie in alle Richtungen. Konsterniert und fassungslos hörte man dem zu. „Ich weiß nicht, ob ‚Chaos’ das alles richtig trifft“, sprach sie weiter. „Was Miriam meint ist, dass es systematisch rückwärts geht! Und es geht blitzartig rückwärts! Dieser BRD-Seiters hatte mit Modrow ein Treffen. Sie wollen einen gemeinsamen Devisenfonds mit einem substanziellen Beitrag der DDR gründen. Bei uns gibt es aber kein Westgeld für die Westtouristen. Woher kommt es? Das kann doch nur heißen, dass ein Schwindelkurs zu unseren Ungunsten dabei rauskommt. Das ist finanzielle Verantwortungslosigkeit pur!“

„Da gibt es jetzt eine Sonderausstellung im Schauspielhaus“, sprach eine füllige Kollegin in lustig geblümtem Kittel, „zu ‚Opfern des Stalinismus’ – Könnte mir bitte mal jemand erklären, was das ist?“

„Das ist nur“, erklärte der pausbäckige Blonde, „konzertante antikommunistische Stimmungsküche. Und der Kulturminister erzählt was über Kultur und sagt dazu sofort Marktmechanismus. Kultur hat doch mit Markt nichts zu tun. Aber der Mann ist Regierungsmitglied in Modrows Kabinett!“

„Er hat auch gesagt“, ergänzte sein Sitznachbar: „Es geht um Erhalt der kulturellen Infrastruktur unseres Landes und damit um die kulturelle Versorgung für alle Schichten.“

„Weiter!“ drängte der Sekretär, „Miriam woll…“ – „Ich finde aber das Wort ‚Chaos’ doch richtig“, meinte unbeirrt ein hagerer Kollege mittleren Alters. „Plötzlich sind ALLE Leiter irgendwie im Zwielicht. Ganz egal wer und wo! Und die Aktuelle Kamera sagt allgemein: Verantwortliche Personen haben sich ins Ausland abgesetzt. Damit können sie nur den Schalck-Golodkowski meinen. Wen denn sonst?“

Der Sekretär kommentierte: „Es sind jetzt eben nur noch die Medien der Opposition. Von diesem Untersuchungsausschuss mit der Gitta Woll haben sie’n Aufruf gebracht, dass die Mitarbeiter der KoKo-Firmen Betriebsversammlungen veranstalten sollen und Informationen an die Öffentlichkeit bringen. Aber wenn da nichts ist, kann auch nichts kommen. Es kommt ja auch nichts. Es ist natürlich auch merkwürdig wie das Ganze genannt wird: Aufruf zu Gewaltlosigkeit. Damit reden sie Gewalt ja erst herbei. Am Tag danach entschuldigt sich die Aktuelle Kamera, dass der Aufruf unvollständig gesendet wurde. Und dann wird er gleich noch mal gebracht, weil irgendeine Gruppe sich beschwerte.“

Ein junger dunkelhaariger Mann rief: „Diskussion von Bürgergruppen in der Normannenstraße! Sprecht doch mal darüber! Wie kommen irgendwelche Oppositionsgruppen ins Ministerium für Staatssicherheit? Das sind doch Verräter, die so was zulassen!“

Ein Raunen erhob sich im Saale.

„Das heißt nur“, sagte der Parteisekretär, ohne die Stimme zu heben, „dass diese Gruppen inzwischen mehr Macht haben als die Volksorgane.“

„Man spricht von Demokratie! Allenaselang! Wer hat diese Gruppen denn gewählt?“ Im Saale stieg die Unruhe. „Und die Landeskirche“, krähte jemand, „spricht von der Schuld aller Menschen in diesem Land! Wurde so gesagt!“

Es ward leicht tumultarisch. „Dann sind sie wohl auch selbst gemeint!“

Durch hektisch-fiebriges Rufen ertönte ein Lachen. „Es häufen sich Übergriffe auf Objekte der NVA!“ Lachen. „Hat jetzt eben keiner mehr Achtung vor der!“ Gebrüll, Lachen. „Die gehör’n in Wirklichkeit der Grünen Partei an.“ – „Kollegen!“ rief der ältere Teilnehmer mahnend. „Genossen!“ korrigierte es hitzig aus der aufgeregten Versammlung. „Mit der Grünen Partei in der DDR“, rief jemand anders, „kann man was anfangen! Die rufen auf zu einer Demo gegen Neofaschismus, Wiedervereinigung und Ausländerfeindlichkeit!“

„In denselben Nachrichten“, ertönte es, „haben sie drei große Demonstrationen angekündigt! Alle gegen Wiedervereinigung!“

„Eine soll sogar in Westberlin geplant sein!“ – „Auf dem Adenauer-Platz…“

Die desorientierte Spannung entlud sich. Gebrüll. Eine Wende im Kleinen. Man stand und rief durcheinander, fuchtelte herum. Anstatt die Wogen zu glätten, wedelte der Parteisekretär mit beiden Armen und stimmte ins Geschrei ein: „Habt ihr das mit der Amnestie gesehen? Das gilt jetzt für alle Personen die wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Verbrechen verurteilt sind!“ – „Nee!“ brüllte es zurück. „Justizminister Heusinger…“ – Auch die letzten sprangen auf. „Entsprechend der Anregungen durch die Öffentlichkeit wurde diese Amnestie eingegrenzt! Mörder und Sexualtäter sind ausgeschlossen!“ – „Das muss jetzt die Öffentlichkeit anregen! Dass man nicht einfach alle freilässt!“

„Reinste Konterrevolution!“ Auch Miriam war aufgesprungen.

Den Sekretär durchzuckte der Gedanke: Unruhe, Unübersichtlichkeit! Keine Konzeption dieser Versammlung! DEINE Schuld! „Passt ma uff!“ schrie Miriam. „Die haben ooch diesen Außerordentlichen Parteitag bequatscht. Der soll einem Demokratischen Sozialismus hintaherloofen! Wat die allet schon wissen! Da zieht doch irgendwer die Strippen!“

Ja – Das war nun bereits öffentlich. Neue Leitungen würden dann geschaffen, hatte der Nachrichtensprecher im Namen des seltsamen Arbeitsausschusses angekündigt, welcher kurzerhand die Macht im Lande an sich gerissen hatte.

„Wer“, rief Miriam, „das durchgestochen hat, weeß ooch warum!“

Ruhig ging der Parteisekretär durch den Raum. Sogleich ließ die Unruhe nach und verebbte. „Ja. Das ist alles schlechte Führung. Habt ihr auch gesehen: Diese Figur, diese CIA-Marionette Dalai-Lama wurde von ‚Demokratie Jetzt’ eingeladen. Und der ist sogar schon da, hier bei uns. Der hält sich nun wirklich bei uns in der DDR auf. Der antichinesische Separatist wird aber genau von den Leuten hier eingeladen, die angeblich für Einheit sind! Dieser Terror-Pate von der USA-Gnaden.“

„Schlechte Nachrichten“, sprach die runde Kollegin in der lustig geblümten Kittelschürze. „Und die ČSSR“, sprach der Parteisekretär, „ist jetzt ganz offiziell nur noch ein ‚sozialer Staat’ – ohne Begriff Sozialismus. Den haben sie gestrichen.“ Er blieb an der Tür stehen. „Da hat man einfach nur noch den Wunsch wegzulaufen. Ich kann es fast schon keinem mehr verdenken.“

„Weglaufen hilft doch nichts“, widersprach die lustig Geblümte leise.

Es sprach der junge Blonde mit den runden Wangen: „Eine Frage! Vorhin wurde was gesagt über diesen Untersuchungsausschuss… zum siebenten und achten Oktober. Sie untersuchen da und untersuchen und es ist nicht bekannt, WAS sie da eigentlich untersuchen! Weiß das jemand?“

„Was stehst du da eigentlich an der Tür ’rum?“ fragte der ältere Genosse.

„Er weiß es nicht!“

– „Genau“, beglaubigte der Parteisekretär. „Ich weiß es nicht.“ „Steht sich gut da, wie? Bist dann schnell weg?!“

Der Winkler meldete sich zu Wort. Etwas nervös sprach er, und man vernahm es schweigend: „Ich habe jetzt alles genau verfolgt. Ich muss euch sagen, ich habe mich in den letzten Wochen neu sortiert. Ich habe nachgedacht. Ich meine, wir haben es früher wirklich falsch gemacht. Nicht so sehr in den Anfangsjahren, sondern in den letzten zwanzig. Wir haben dies und das genossen, und was uns nicht geschmeckt hat, haben wir gleich mit ’runtergeschluckt. Und beides war falsch. Einfach nur bequem das Leben genießen, ist genauso falsch wie auf Kritik verzichten, auf Mitdenken. Ich kann was sagen zu diesem Untersuchungsausschuss. Ich weiß auch nicht mehr als ihr. Aber ich habe es genau beobachtet. Die Polizei war überfordert, die Demonstranten waren überfordert. Hätten beide gewusst, was aus diesem siebenten und achten Oktober noch wird, hätten sie wohl ganz schnell alles sein gelassen und wären nach Hause gegangen.“

Reglose Stille herrschte.

„Nun zur Sache. Diese Gitta Woll und der Hein wollen unbedingt spektakuläre Neuigkeiten entdecken. Die sind hochgradig unzufrieden, dass nichts Neues mehr aus kommt. Der Polizeipräsident Rausch zeigt auf Mielke. Der wäre schuld. Aber woran? An einer Lageeinschätzung! Und was steht in dieser Lageeinschätzung? Es würde sich um eine Störung des Ablaufes handeln, eine Störung des normalen Lebens. Und es würde sich um eine konterrevolutionäre Tendenz handeln.“

„Buh!“ machte jemand. Winkler wartete. Man beobachtete ihn.

„Warum Buh?“ fragte der Winkler. „Warum denn Buh? Vorhin wurde ja schon gesagt Konterrevolution. Egon Krenz war der Meinung, es handelt sich um eine Revolution. Und wo ist der Krenz jetzt? In Pension?“

Ich geh mal wieder auf meinen Platz, dachte der Parteisekretär.

Winkler fragte: „War es denn keine Störung des normalen Lebens? Was haben wir denn jetzt? Eine Verbesserung des normalen Lebens? Womit soll denn der Mielke eigentlich unrecht gehabt haben?“

„Grünau!“ bemerkte Miriam.

„Cicero gilt“, sagte Winkler, „als guter Redner, Liebknecht auch und Thälmann. Ich bin kein guter Redner. Bin selber von mir überrascht. Ich spreche nur aus, was mir gerade einfällt. Damals am Siebenten und Achten hätte es eine Einsatzleitung der Sicherheitskräfte gegeben, sagen sie. Aber diese Einsatzleitung ist noch nicht mal zusammen getreten. Nicht ein einziges Mal. Und was macht der komische Untersuchungsausschuss jetzt? Jetzt stellt er Strafanzeigen gegen den Berliner MfS-Chef Hänel, gegen Mielke und zur Sicherheit gegen Rausch gleich mit. Und wenn es kein Gesetz gibt, wogegen sie verstoßen haben, dann muss man die Gesetze eben verändern, sagt der Gysi. Und nennt das Ganze dann Rechtssicherheit. Der Hein teilt selber mit, dass keiner der Anwesenden darauf Wert legte, dass Medienvertreter den Raum verlassen, obwohl die Möglichkeit vereinbart war. Die bösen Buben sind mit der Presse und der Öffentlichkeit einverstanden!“

Er ist doch ein guter Redner.

„Vorhin“, sagte Winkler mit gesenktem Kopf, „hat meine Nachbarin zu mir gesagt: Sieh dir diese riesige Grünpflanze da vorn an. Die steht da ’rum und schafft Fluidum. Und man nimmt sie gar nicht bewusst wahr. Und wenn sich keiner um sie kümmert, geht sie ein.“

Es war still wie in der Kirche. Da schließlich jemand etwas sagen musste, sagte der Parteisekretär: „Ja… Was tun wir übriggebliebenen Hanseln? Hundertzwanzigtausend ehemalige DDR-Bürger sind im Westen ohne Arbeit und ohne Aussicht. Was ist, wenn sie gesundheitliche Probleme haben? Bei uns gingen sie einfach in die nächste Poliklinik und wurden versorgt, mit Untersuchung, Beratung und Medikamenten, alles kostenlos. Jetzt steh’n sie da… Was diese Leute jetzt wohl denken?“

Das Publikum suchte, es sich vorzustellen.

„Habt ihr die Initiative von den 89 Unterzeichnern bei uns in Berlin gesehen? Es gäbe zahlreiche Gefahren für die Existenz des Planeten, sagen sie. Sie fordern einseitige Abrüstung der DDR bis zum Jahr 2000. Darunter sind Schriftsteller und Antifaschisten, der Theologe Heinrich Fink. Eine solche Initiative hätte Signalwirkung für eine totale Abrüstung in der Welt.“

„Fink, Fink“, murmelte die bunt Bekittelte. „Der Namen kommt mir bekannt vor.“ – Fehler! Fehler! meldet unsere chronologistische Zeitmaschine.

Warum?

Es geht schon weiter: „…der Rudolf Hirsch ist dabei, Kurt Goldstein. Das gehört auch zu Nummer zwei von Miriam! Es ist doch aber eine Machtfrage! So kommt man der totalen Abrüstung auf der Welt sicher keinen Millimeter näher! Das Neue Forum fordert jetzt die Abschaffung der nach innen gerichteten Strukturen der Staatssicherheit. Was bleibt denn von unserer Macht, wenn wir sie nach außen UND nach innen weggeben?“

„Die Kampfgruppen wurden entwaffnet“, stellte der ältere Genosse mürrisch fest. „Aber das will doch gar keiner. Wer hat das verlangt?! Wie kommen die dazu? Es ist ein Fehler, ja sogar ein Verbrechen! Waffen sind doch immer die Waffen der herrschenden Klasse! Das sind doch bei uns die Waffen – von uns allen! Hier wird das Volk entwaffnet! Und keine Begründung! Und keine Erklärung! Und völlig unklar, wer so was anordnet. Wenn es die Modrow-Regierung war, gehört sie ja vor ein Gericht.“

Es waren die deutlichsten Worte dieses Nachmittags. Der Saal lag in gleißendes Licht der Deckenfluter getaucht. Die freundliche Spätherbstsonne verblich. Man schwieg.

Hastig sprach Miriam: „Das war Nummer drei. Wenn man diese Parteiführung unterstützt und weiter trägt, macht man sich mitschuldig!“ –

„Was liest du denn da?“ fragte Haber am Tische. „Effi Briest von Fontane“, antwortete Thomas Arndt. – „Lies mal vor.“

„Es sei wer von einer fröhlichen Tafel abgerufen worden“, las Arndt laut, „und am anderen Tage habe der Abgerufene gefragt, wie’s denn nachher gewesen sei. Da habe man ihm geantwortet: Ach, es war noch allerlei; aber eigentlich haben Sie nichts versäumt.“ –

Er stand von seinem Bette auf. „Wohin?“, fragte Haber.

„Ausgang.“ Arndt zog sich Zivilsachen an. „Mit Brandy Westberlin erkunden.“ Aus dem Spind nahm er eine blaue Rauhlederjacke und erstarrte. Haber erhob sich am Tische und sagte leise lächelnd: „Na, dann werd ich mal.“ Allerdings blieb er in der Tür stehen. Im Radiorecorder auf dem abendhimmelblauen Leiterregal wurde soeben nochmals die Reise Modrows nach Moskau berichtet. „Die Regierung der UdSSR“, so zitierte der Sprecher den Gorbatschow, „und das ganze Sowjetvolk stehen fest an der Seite des Volkes der DDR.“

Durch die offene Tür trat Ball hinein und warf einen fragenden Blick auf Arndt. Dann ließ er sich am Tische nieder. Der Rundfunkbeitrag endete. Kammersänger trat ein. Ohne den Haber zu beachten, setzte er sich zu Ball an den Tisch. Haber ging hinaus und schloss leise die Tür.

Sogleich öffnete sich die Tür erneut. Slim erschien. Umstandslos setzte er sich an den Tisch. Man erwartete, dass er etwas von sich gab. Doch sagte er nichts.

„Krenz ist schon vergessen“, stellte Arndt fest.

„Er soll“, entgegnete Ball und studierte dessen Gesicht, „eine Erklärung vorm Staatsrat abgegeben haben. Das haben sie schon gar nicht mehr gebracht.“ –

In dieser Erklärung hatte Herr Krenz verlautet: „Motiv unseres Handelns war die über einen längeren Zeitraum gereifte Erkenntnis, dass die alte Führung den Widerspruch zwischen Volkswillen und realitätsferner Politik ständig vertiefte und unser Land in eine tiefe Krise führte.“ Dies sprach Herr Krenz und ward nicht rot dabei. „Inzwischen sind Ereignisse eingetreten, die zum Zeitpunkt meiner Wahl zum Vorsitzenden des Staatsrates nicht vorauszusehen waren.“ Rot wurde er nicht.

Hinter den Spinden in 202 erschien Schaltmeister und gesellte sich der Runde zu. „Tom fährt nach Westberlin“, petzte er Ball.

„Es wird schon dunkel“, tönte es hinter den Spinden. Dort hervor trat Narkose. Aufmerksam beäugte Ball den Schaltmeister und sprach bemüht-leichthin: „Na und? Ich war schon da. Mit Ivo. Hab mir eine Lederjacke gekauft.“

Brandy in Zivil trat ein und strahlte unbekümmert wie gewohnt. „Na? Geht’s los?“ Hinter ihm erschien Pjotr und besah spitzbübisch die Runde. „Ist ja fast eine Vollversammlung“, konstatierte LSD vom Bette und nahm die Kopfhörer ab. War es eine? So war es die letzte Vollversammlung in 202. „Wa-wa-wa“, sagte Narkose und LSD stülpte die Kopfhörer wieder auf. „Was macht Modrow ei-eigentlich in Moskau?“

„Der Krenz war doch gerade eben dort!“ ergänzte Schaltmeister. „Es wird dunkel“, zitierte Thomas dunkel.

„Das ist doch nur das Übliche“, bemerkte Ball. „Antrittsbesuch. Der Modrow weiß schon was er will. Und vor allem: Er weiß wie er’s will!“

Es klang fast unbefangen. Vorsichtig lächelte Ball. „Ich glaub ihm jedes Wort.“

„Ich“, sagte Arndt ebenso leicht, „glaub ihm kein Wort.“

Hilflosigkeit kam auf und senkte sich über die Szene.

Eifrig widersetzte sich der Ball. Er bekundete: „Ihr werdet es noch sehen! Der kann was! Und vor allem weiß er, worauf es ankommt!“

„Worauf es ihm selbst ankommt?“ fragte Schaltmeister boshaft. „Oder“, sprach Brandy, „worauf es insgesamt ankommt?“

„Wenn er das erste weiß, ist er weiter als seine Parteikollegen“, erklärte der Arndt finster. Kammersänger setzte hinzu: „Wer weiß schon ganz genau worauf es ihm ankommt? Man ist doch ständig von sich selber überrascht!“ Er bemerkte die Aufmerksamkeit und fuhr fort: „Auf der Pressekonferenz der Generalstaatsanwaltschaft haben sie gesagt: Das Recht war nie ein Maß für die Politik! Haben sie bei uns gesagt! Und nicht über den Kapitalismus! Das haben sie gesagt mit SED-Parteiabzeichen an der Jacke! Das heißt: Wir sind alle nur noch von uns selbst überrascht. Alle Ratten verlassen jetzt das sinkende Schiff! Dann geht’s um Abzweigen von Mitteln der Verteidigung für Privatzwecke und um Beiseiteschaffen von Unterlagen. Etliche Vorwürfe gibt’s. Und Ermittlungsverfahren. Nur kein konkreter Fall. Die sagten: Da stehen wir eben vor einem Widerspruch. Weil die alle überrascht sind.“

Dies sprach komischerweise der Kammersänger. Niemand nahm Anstoß. Ball nickte. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf ihn. „Stimmt. Hat ein Vertreter des Generalstaatsanwaltes gesagt.“

„Wat denn?“ fragte vom Bette her Andreas.

Unschlüssig setzte Pjotr sich an den Tisch. „Widerspruch…“, sprach Ball leise. „Sie können gar nicht richtig ermitteln, weil dann alle verdächtig sind. Sie selber auch.“ Slim setzte eifrig ein: „Die Dynamik wegen krimineller Machenschaften hat sich verselbständigt! Da soll irgendwo ein Dieb gewesen sein. Jetzt schreien sie sich gegenseitig an: Haltet den Dieb! Und weil niemand der Dieb gewesen sein will, schreien alle. Das funktioniert nur, weil kein richtig fetter Dieb da ist!“

„Wodurch“, teilte Arndt mit, „wiederum jeder verdächtig wird, denn irgendjemand muss es ja gewesen sein. Denunziantentum, allgemeine Lynchstimmung. Und nachdem die Regierung diese entfaltet hat, ruft sie auf zu Ruhe und Besonnenheit.“

Die Hilflosigkeit griff Raum. LSD nahm die Kopfhörer wieder ab. Vom Bett in der Ecke ließ sich Andreas vernehmen: „Jeder braucht zuerst ein Ziel. Aber nur ditt Ziel zu kennen, reicht nicht. Es reicht nie zu wissen, wohin man will. Man muss ja wissen, wie man dorthin kommt. Wat man tun muss! Icke kann mir nicht vorstellen, dass Modrow dett all die Jahre nicht wusste und jetzt weeß was er machen will.“

Ball schwieg vor hilfloser Entrüstung. Sowieso schwieg Pjotr im allgemeinen zu alldem. Er hob nur die Schultern, wirkte etwas verlegen, legte den rotblonden Kopf schief und verkündete: „Keiner weiß, wer was weiß. Und wer’s weiß, muss auch nicht wissen wie er es will.“

„Quatschkopp!“ – so Arndt. Pjotr errötete. „Und ihr wollt wissen, ob jemand weiß was Modrow will.“ Es klang vorwurfsvoll.

„Aber wer’s weiß, weiß ja immer noch nicht worauf es ankommt“, erörterte LSD genüßlich auf dem Bette. „Und wer weiß, worauf es ankommt, muss nicht wissen, ob jemand weiß wie.“

Nein, dem LSD ist man kaum gewachsen. „Warum“, fragte der LSD mit arrogantem Blick auf den Kammersänger, „geht Haber eigentlich immer aus dem Raum, wenn du auftauchst?“

„Modrow weiß die Richtung!“ beharrte Ball. Man schwieg dazu und wartete.

„Mir ist Habersaat nicht sympathisch“, bemerkte Kammersänger ruhig.

Nun ja, das war bekannt. LSD grinste. Thomas Arndt überlegte: Was soll es nur bedeuten? In Ergänzung zu Habers „Wir sind uns nicht grün“ ergibt es einen Sinn. Aber hatte es einen wirklichen Sinn? Wo lag der denn? Der zart-muntere Geselle, der im Chor sang und interessiert alles aufsog das ihm begegnete – und der gutmütig-melancholische Haber: Was hatten diese harmlosest denkbaren Gemüter auszufechten?

Nach einer Weile erhob sich Kammersänger. Er pfiff mit spitzen Lippen: „Eine kleine Geige möcht ich…“ – und ging auf sein Zimmer.

Dies aber war Habers Zimmer.

Es erschien wohl reizvoller Überlegung wert. Ungeniert und etwas unangenehm klingend nahm Slim den Faden auf: „Ich find’s blöd, dieses… vom Kammersänger, dieses: Der Haber ist mir unsympathisch! So was muss man ja nicht sagen.“ Er hätte es wohl näher ausgeführt. „Weißt du“, fuhr ihm grob der soeben noch abwartende LSD in die Parade: „was DU willst? Ist doch für’n Arsch! Ist doch total unwichtig, ob du’s unpassend findest!“

Er spürte die Blicke auf sich und sagte unwillig: „Es geht doch darum was dran ist!“

Die Blicke waren nun auf Arndt gerichtet, welcher schwieg. Dafür trat Narkose auf den Plan: „Vielleicht weiß er gar nicht wawa-was er will.“

„Wer?“ fragte LSD.

„Ka-ka-kammer-sä-sänger.“

Ball lächelte. „Da hat er recht.“

„Wieso hatta recht?“ fragte Andreas von seinem Bette. „Die Ansage vom Kammersänger war doch klar. Der weeß doch wat er sagt! Und was er sagt – das meint er ooch.“

Überraschend sprang Pjotr dem Narkose bei: „Etwas wissen heißt nicht, alle Zusammenhänge begreifen! Weiß Kammersänger die alle? Vielleicht erinnert ihn der Haber nur an jemand anders. Er geht doch jetzt zum Haber. Zusammenhänge kann man nur begreifen, wenn man auch alle Grundlagen einbezieht. Dann kann er wissen, was richtig ist. Und wie er’s richtig machen muss, und wie er’s richtig sagen muss!“

„Vielleicht, aber…“, gab Andreas vom Bette zu bedenken, „hat er… Er hat’s eben indirekt gesagt. Kammersänger schätzt, dett is allet schon klar. Da kann er genauso uff sein Zimmer gehen. Der denkt, dett man sich die Zusammenhänge schenken kann, wenn er gleich die Grundlage sagt. Er mag den Haber einfach nicht – und dett is die Grundlage. Das heißt nur: Da wird nichts draus.“

„Und das soll der Kammersänger gemeint haben?“ fragte Schaltmeister ungläubig. In der Tat! Es war schlecht vorstellbar.

Arndt, am Tische stehend, sprach nun: „Die Sache liegt viel einfacher. Kammersänger meinte nicht Haber…“

Allgemeines Erstaunen.

„Wen denn?“ fragte LSD, und sein Bass durchdröhnte den Raum. „Den Modrow“, deklinierte Arndt. „Kammersänger sagte zwar: Mir ist der Haber nicht sympathisch. Aber erinnert euch mal, wovon die Sache ausging. Das ‚Haber’ ist ihm nur so rausgerutscht. Um Haber ging es die ganze Zeit doch gar nicht. Der Modrow ist gemeint, kein anderer. Es war ein kleiner Versprecher.“

Ein allseitiges Aufatmen von Erkenntnis durchzog 202. Modrow war gemeint! Damit ist dies wohl erledigt? Hat Kammersänger damit jedoch recht? Und weiß er gänzlich was er will?

Ball murmelte: „Ich hätte eher gedacht, dass Kammersänger den Modrow gut findet.“

„Icke ooch!“ sprach Narkose in Andreas’ Tonart und völlig glatt. Ein jeder fand Modrow doch sympathisch. „Ein kleiner Versprecher“, klärte Ball schief grinsend auf, „der gar keiner war! Und das mit einer Freudschen Note! Vielleicht dachte er noch an den Modrow, hat den Namen in Gedanken gesagt, aber trotzdem Haber gesagt und gemeint!“

Demnach hätte Kammersänger schlicht seine persönliche Abneigung mitgeteilt – wie gesagt und direkt und doppelt indirekt?

Er hätte indirekt für Modrow plädiert – und Ball unterstützt?

„Ich kenne den Kammersänger“, sagte Arndt. Wohl, wohl; nundenn. Wer kannte den Kammersänger nicht.

„Vielleicht kann er Modrow“, sagte Arndt, „doch nicht so besonders leiden. Sonst wäre er nicht auf die Frage der Abneigung gekommen. Er will zu freundlicher Beschaulichkeit, also will er wieder VOR Modrow ansetzen. Aber er will alles. Er will den Gysi UND den Modrow, obwohl er ihn gar nicht so besonders mag, und ein bisschen auch den Honecker und den Kohl dazu. Und der Wolf möge mit dem Schaf einen Freundschaftsvertrag schließen. Er will die deutsche Einheit und kompletten Sozialismus. Und dazu will er singen: Eine kleine Geige möcht ich haben!“

LSD feixte stumm. „So iss’et“, sprach Andreas von dem Bette.

„Der Haber“, sagte Thomas Arndt, „sieht es gänzlich anders. Deshalb können sie sich nicht leiden. Aber sie akzeptieren sich doch! Hans Modrow, ob er nun weiß“, erläuterte Arndt, „was er will und worauf es ankommt oder nicht, steht noch für so was wie Hoffnung auf eine sozialistische Erneuerung in diesem Land.“

LSD legte sich auf sein Bett zurück, stülpte Kopfhörer über und winkte lässig ab. „Das ist allerdings“, verwunderte sich der Arndt, „nichts was Kammersänger ablehnt.“ Er dachte: Schneller geredet als gedacht! Das bist du ja selbst, fiel ihm weiter ein. Das sind ja DEINE Ideen, die du dem Kammersänger andichtest! Du weißt ja nicht was du willst und meinst!

„Nee“, setzte Andreas auf dem Bette fort. „Es ist aber ziemlich unklar, wat da raus kommt! Das ist nur eene von drei Möglichkeiten. Die andere ist, det Kammersänger den Modrow ablehnt, gerade weil er die Hoffnung teilt: Dit ist zwar noch ’ne Hoffnung die der Kammersänger hat, aba es is keene Erwartung mehr dabei.“

Das allseitige Erstaunen wuchs, soweit man bei der Sache war. „…und einfach skeptisch ist, ob’s dem gelingt.“

Brandy lärmte: „Und ob er’s will! Und deswegen ist der Kammersänger eben misstrauisch. Von Modrow kommt kein Sozialismus mehr. Aber Tom, nun los! Es ist stockfinstere Nacht!“

„Gehen wir ein andermal“, verlautete Tom.

„Okay“, bestätigte Brandy gleichmütig. „Gehen wir ein andermal.“

Auch Narkose und Schaltmeister waren ernsthaft bei der Sache. Es war noch der Normalzustand in Straßen und Betrieben.

Flattrig fuhr Slim auf: „Hey, Moment! Ich kenne doch Kammersänger auch! Und so sympathisch ich ihn finde und so naiv wie er ist: Dass Modrow seit Jahrzehnten der SED-Chefetage angehört und das den Leuten teilweise bekannt ist, wird ihm wohl nicht entgangen sein!“

„Eben“, sagte Andreas kurz und sachlich vom Bette. „Eben.“

Ernsthaft fragte Schaltmeister den Andreas: „Und die dritte Möglichkeit?“

„Dass er als einziger den einfach nicht sympathisch findet.“

„Und nichts davon“, versetzte Arndt, „wirkt irgendwie glaubhaft.“

Pro tribunal

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