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Unwohlsein

Sie wurden von Gargamel und einem Unbekannten abgelöst. „Brauchst keine Runde mehr zu machen“, bestimmte Arndt eigenmächtig als die Ablösung durchs Stahltor eintrat. „Was hast du denn da?“

„Eine Kerze“, erklärte Gargamel und pflanzte sie auf einen Schaltkasten, der an der Mauer hing. „Erster Advent!“

Dumpf scheppernd fiel das Türchen im großen grauen Tor zu.

Sie gingen durch den Wald und schwiegen.

Vorm Wachgebäude kam ihnen in der Finsternis der Offizier vom Dienst entgegen. „Genosse Hauptmann, keine Vorkommnisse!“ flachste Arndt. – „Reißen Sie sich zusammen!“

„Komisch“, sagte Jörg, als man die Treppe stieg. „Jetzt klingt es lustig. Früher war es nur eine Formel.“

Im Aufenthaltsraum saßen ein paar Leute hinter Kaffeetassen, rauchten und blickten den beiden entgegen. „Ja, eine Formel“, bestätigte Arndt und zog den Mantel aus. „Genosse Hauptmann…“ „Aber nicht nur!“ sprach einer der Sitzenden am Tische, und nahm seine Tasse in die Hand, und erklärte: „Wenn man einen Höhergestellten mit Genosse anredet, wenn man sagt Genosse Generalmajor – dann wird Gleichwertigkeit als Mensch betont. Damit wird gesagt: kein Herr-Knecht-Verhältnis!“

Kommentarlos ging Arndt zum Ruheraum und legte sich hin. Er vermeinte, sogleich einzuschlafen. Doch es wurde nur ein dumpfbrütendes Dämmern.

Dann fuhr er auf. Wer hatte es gesagt? Slim? Der Kammersänger? Er sank auf die rauhe Decke zurück. „Genosse Hauptmann“ – Unversehens klingt es komisch. Vordem, bis soeben noch war es unvermeidlich. Da hatte man noch gleichrangig und gleichwertig eingestanden. Es war eine Formel; gut. Aber war die Wirklichkeit deswegen nicht so? Nun war von oben die Weisung erfolgt, man sei kein Genosse mehr. Und prompt ist man keiner mehr. „Reißen Sie sich zusammen!“

Das ist dann wohl der Opportunismus. Aber eine schönere Bestätigung jeder Marxistischen Weltanschauung und Leninschen Revolutionstheorie ist ja nicht denkbar! Widerständler gleich Genosse! Opportunist gleich Herr und Knecht! Der Staat dieser „Opposition“ kennt keine Genossen mehr. Demnach serviert sich der Staat selbst ab, auf eine sehr konkrete, sehr unmittelbare Weise. Er will sich nicht mehr. Und zwar von oben. Das ist denn also die Konterrevolutions-Theorie zu Lenins Revolutionstheorie: Dort können die oben nicht weiter wie bisher, und wollen die unten nicht weiter wie bisher. Hier nun wollen die „oben“ nicht weiter, und die unten können deshalb gar nicht weiter… Die System-Alternative scheint aufgegeben. Niemand sagt es ausdrücklich von oben. Indirekt besagen es alle offiziellen Verlautbarungen sehr deutlich. Alles läuft darauf hinaus. Man verdrängt es dabei. Was wird kommen? Wenn dieser Staat der Menschen nun wirklich komplett eingepackt werden sollte: Was müsste geschehen? Wie macht man wohl in dieser Hinsicht Nägel mit Köpfen? Dann käme zur bislang blumig-vernebelten Ansage jetzt die gesetzliche. Dann würde die sozialistische Verfassung geändert… abgeschafft.

Was ist eigentlich eine Verfassung? Sie ist ein theoretischer Anspruch, eine gewissermaßen begrifflich-identikative Prämisse. Und anderseits beschreibt sie annäherungsweise einen Zustand – eine reale Situation. Die Führung der marxistisch-leninistischen Partei ist nichts, was man einem sozialistischen Staat einfach amputieren kann. Sie ist Voraussetzung dafür, dass alles erkannt wird wie es ist, wenn auch nicht die einzige. Die wissenschaftliche Weltanschauung ist Voraussetzung für wissenschaftlichen Sozialismus. Wenn es keine solche Weltsicht und keine solche Partei mehr gibt, müsste wirklich eine neue Sicht und Partei doch her! – Da kam dem Arndt auch folgender Gedanke: In der Verfassung steht durchaus nichts von SED. Wenn diese Partei marxistisch-leninistisch nicht mehr gilt – dann schreibt die Verfassung eine Neugründung wohl vor! Statt dessen wird der Passus komplett getilgt. Aber es ist ja zwangsläufig!

Natürlich! Auch so wird der Widerspruch aufgehoben!

Er genoss die Wärme, welche unter der rauhen Decke entstand. Unvermittelt fiel ihm die mehrbändige Ausgabe „Mayers kleines Lexikon“ ein, die im elterlichen Wohnzimmer stand: eine gigantische Enzyklopädie, bestehend aus unwahrscheinlich dicken Bänden und enthaltend hunderttausende Stichwörter, lange Textbeiträge, sauber gegliedert und bunt illustriert. Ein Ergebnis unvorstellbarer Arbeit. Die Welt in DDR-Sicht.

Wie kann das alles vorbei sein?

Unmöglich! – so schien es. Und wie sollte es nicht vorbei sein? Unmöglich!

Er drehte sich von links nach rechts. Die Dinge sind wie sie sein müssen. Der erste Artikel der Verfassung besagt: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“

Inzwischen hatte er es wieder einmal nachgelesen. So steht es dort. In Artikel Zwei hieß es: „Der Mensch steht im Mittelpunkt aller Bemühungen.“

So steht es dort. Arndt drehte sich von rechts nach links.

Es ist ein Zusammenhang! Äußerst deutlich formuliert, fast spürbar, dass beides nur zusammen funktioniert: Der Marxismus-Leninismus postuliert das Verständnis jeder Welt wie sie wirklich ist… mit all ihren Schleifen, mit allen Haken und Ösen. Nur von diesem Verständnis ausgehend, kann der Mensch praktisch im Mittelpunkt stehen.

So muss und soll es also sein. So steht es dort. Aber so ist es nicht mehr. Denn die Partei ist keine marxistisch-leninistische mehr. Zwar hatte man Leninsche Sicherungshebel im Statut der SED eingezogen, gegen Erstarrung und Bequemlichkeit. Zwar waren dort Kollektiv, Offenheit und Kritik und Selbstkritik gefordert. Doch wenn sich niemand mehr daran hielt, waren die Hebelchen nutzlos. Man hatte nur nach oben gestarrt, wo nach und nach und Stück um Stück vereinfacht ward: Lasst uns mal machen – und wenn ihr keine Lust zu Selbstkritik mehr habt, dann ist es gut verständlich. Sie ist nicht sehr bequem. Aha. Dann ist es eure eigene Schuld. Wir haben auch keine Lust mehr.

Und da stehen Modrow und Krenz und scheinen zu denken: Dann gesteht nur auch uns zu, keine Lust zur Selbstkritik zu haben!

Was kann man da tun? Sie halten sich am Händchen und singen im Duette: Bakerman is baking bread!

Er drehte sich von links nach rechts. Ja! dachte er. So habt ihr es euch gedacht! Auch ihr wollt sofort die bequemste Lösung – für euch selbst. Und wir haben es verlernt, euch auf die Finger zu hauen. Bei uns haut man eben nicht mehr gern. Nein, korrupt seid ihr nicht. Materielle Vorteile habt ihr euch nicht verschafft. Das behauptet ja von euch auch niemand. Denn ihr serviert dem Wolfe. Behauptet wird es von euren Vorgängern, die dem Wolfe noch nicht zu servieren bereit waren!

Wieder fuhr er empor. Natürlich! So ward ein Schuh daraus!

Er sank auf die Wolldecke und vernahm ein Schnarchen. Es gibt in der DDR jedenfalls eine Putschregierung. Dann schlief er doch ein. –

Da kam es ja zum „Runden Tisch“, ursprünglich angeregt oder gefordert von der Evangelischen Kirche in der DDR. Die Weisung aus West hieß: „Noch immer wird die Regierung zu stark getragen von der Sympathie für den SED-Funktionär Modrow. Dieses Fundament muss jetzt aufgelöst werden durch reale Machtverschiebung. Dazu ist ein Runder Tisch mit den Oppositionsgruppen zu bilden für die tatsächliche Machtausübung.“

Die Evangelische Kirche hatte dann geschoben. Zuerst wurde eine der obskuren Gruppen losgeschickt, die Forderung „Runder Tisch“ zu formulieren. Als dies verhallte, weil es niemand von den Demonstranten aufgriff, wurde die Liberaldemokratische Partei mit Gerlach vorgeschoben. Dann schob sich die SED noch hinzu und vor diese. Und so kam der „Runde Tisch“ wirklich zustande.

Mit offenen Augen lag Sylvia auf dem Wohnzimmer-Sofa. Ihre Wangen brannten und waren feucht. Das große Weinen war es nicht geworden. Woran liegt das? Abends hatten sie Bestandsschau gehalten. „Nimm dir, was du brauchst!“ hatte ihr früherer Mann erklärt und mit weiter Geste in die Drei-Raum-Wohnung gewiesen. „Ich brauch nichts mehr.“

Das war bemerkenswert. Ebensogut hätte sie es selbst sagen können. Die Grenze war geöffnet. Ihr Kind war tot. Die DDR auch. Keine Chance, erwachsen zu werden. Es war ein Schrecken ohne Ende. Wo denn war jetzt die Freundlichkeit des Seins… Des Grauens schien ja nie genug. Sie stand auf und schaltete das große Licht ein. Aus dem Bücherregal zog sie einen großen alten Wilhelm-Busch-Band und legte sich aufs Sofa. Da ist „die Zeit“ zu sehen. In Riesenschritten rennt sie, und in groben Schuhen voran; ihr Gesicht ist nicht erkennbar. „So ist nun mal die Zeit allhie – Erst trägt sie dich, dann trägst du sie. Und wann’s vorüber, weiß man nie.“

Nie, nie. Nie. Sie nickte bei Licht ein, das Buch in der Hand. –

Am folgenden Morgen stahl sie sich gegen fünf Uhr leise aus dem Hause. Unbedingt wollte sie schon im Büro sein, bevor der Egon erschien. Niemand niemals sollte je sagen können, es habe nun an ihr gelegen.

Im Büro, im Haus des Zentralkomitees lagen die Anträge aller fünf Fraktionen der Volkskammer. Sie unterschieden sich nur im Wortlaut und gering – dem Wunsch der SED folgend ging’s um die Abschaffung ihrer führenden Rolle. Diese führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei werde aus Artikel Eins der Verfassung gestrichen. Die Arbeiterklasse werde gestrichen. Die CDU des neuen Vorsitzenden Lothar di Misere will den Artikel noch weitergehend kürzen; der „Staat der Arbeiter und Bauern“ solle verschwinden. Es bleibe allein der „sozialistische Staat“.

Wie die sich das vorstellen? Was ist ein sozialistischer Staat ohne seine Menschen? Wenn diese nicht im Mittelpunkt stehen? Dann stehen sie eben nicht mehr da.

Sylvia sortierte die Anträge auf dem Bürotisch nebeneinander, auf schnellen Blick hin zu erfassen. Sie drehte sich einmal um sich selbst. Die Fraktion der SED will die marxistisch-leninistische Partei aus der Pflicht nehmen. Sie will sich selbst verbannen, nicht anders ist es zu interpretieren: Sie lächelte irre. Wir wollen nicht weiter führen. Wir wollen ja gar nicht! Die Kommunisten wollen den Kommunismus nicht. Sie tat einige Tanzschritte und schwenkte grazil ihre Arme, als lüde sie den Plenarsaal zum Tanze. Dazu lachte sie laut. Dies Gelächter tönte durch das Büro im Haus des Zentralkomitees und hallte in ihren Ohren. Sie erschrak. Ich bin ja wahnsinnig!

Sie wusste nicht mehr, wann sie zuletzt geraucht hatte. Nun fingerte sie aus dem Kleiderschrank eine uralte Schachtel „Duett“. Auch Zündhölzer fanden sich. „Ich bin ja verrückt!“ sagte sie laut. Rauchend ging sie zur Sesselgruppe und sank nieder. Wer hatte hier nicht schon gesessen!

Staatssekretär Schalck-Golodkowski fiel ihr als einziger ein. Eben hier hatte er gesessen und eine Fliege betrachtet. Plötzlich kam ihr ein anderer irrer Gedanke: Diese Fliege habe ich später dann wohl erschlagen.

Etwas anderes! Wo hat eigentlich die Diskussion um die führende Rolle begonnen? Im Allgemeinen war dies kein Thema gewesen. Hier und da war sie im Zuge der Krenz-Wende aufgetaucht; nur vereinzelt. Da hatte man nicht über das Ob diskutiert; sondern über das Wie. Es war um die Frage gegangen, wie die Führung jetzt konkret auszusehen hätte. Auslöser war die Frage, ob es ausreicht eine führende Rolle in die Verfassung zu schreiben; ob es genüge, zu verschriftlichen. Ob sie nicht in der Praxis und für jeden täglich erfahrbar mit Leben zu erfüllen sei, diese Rolle. Diese Diskussion versandete dann im Verlauf der Wende. Krenz und die SED hatten die Frage nicht klären gekonnt, wie Führung in Zukunft aussähe. Darum waren Krenz und andere der Klärung aus dem Weg gegangen. Die Frage trat zurück… wie diese und jene Funktionäre zurücktraten. Dafür tauchte bei ein oder zwei Demonstrationen der Ruf nach Abschaffung dieser Rolle auf. Daraufhin hatten Krenz und Modrow selbst die Führung ihrer Partei in Frage gestellt. Damit hatten sie sich wohl im Klassenkampf auf die Seite des Gegners begeben. Dann hatten sie durchblicken lassen, diese Führung auch durchaus selbst beseitigen zu wollen. Und soweit führten sie denn immer noch: Alle verbündeten Parteien und Fraktionen waren dem schließlich nach und nach gefolgt. Was sollten und konnten sie dagegen tun, wenn die führende Rolle sich selbst aufhebt?

Sylvia wurde ruhiger. Wozu hat man Marxismus-Leninismus studiert.

Im Sinne des wissenschaftlichen Kommunismus – so weit glaubte sie sich zu erinnern – muss die Organisation der Klasse im Klassenkampf führen. Das Volk muss sich organisieren lernen. Es muss sich selbst führen lernen. Es ist seltsam genug, wenn das Volk die Macht hat und daneben noch andere Parteien duldet. Wenn die Vernunft erklärt: Ich habe die Macht, lasse aber auch Fraktionen Vernunftgeminderter zur Wahl. Jetzt erscheint die Vernunft eingeschnappt. Modrow und Krenz sagen: Macht doch was ihr wollt! Eine eingeschnappte Vernunft ist aber keine. Anders benannt: Krenz und Modrow sind weder Kommunisten noch Vertreter von dessen Vorstufe, des Sozialismus. Auch wenn das Volk im Sozialismus die Macht hat, setzt sich der Klassenkampf lange fort; verschärft sogar, weil die von der Macht verdrängten Kapitalkräfte nun alles daran setzen, ihre alte Macht zurück zu erobern. Dafür gibt es die Staatsform der Diktatur – der Diktatur des Volkes gegen die Störer und Terroristen. Wenn diese Diktatur wieder endet, beginnt erneut die Diktatur des Kapitals, sie mag das zehnmal Demokratie nennen.

Soweit ist die Sache klar.

Auch dem Krenz war alles klar: Die Führung der SED, seiner eigenen Partei, muss natürlich verschwinden. Pluralismus für alle und jeden! Er dachte ungefähr: Vielleicht ist es ganz gut, wenn auch andere Leute sich stärker einbringen. Vielleicht ist es sogar ganz gut, wenn unsere Parteigenossen sich jetzt herausgefordert sehen, um Vertrauen zu ringen, und ihre und unsere Positionen mit mehr Nachdruck vertreten müssen.

Dass es eine Existenz-Frage ist, wenn die Vernunft keinen führenden Anspruch mehr erhebt, leuchtete ihm nicht ein; dass entweder Geld und Geldmacht entscheiden – oder Vernunft.

Er betrat sein Arbeitszimmer. „Guten Morgen, Sylvia! Wie geht’s Ihnen?“

„Guten Morgen“, dankte Sylvia kühl. „Es geht mir gut. Ich habe eine Frage, Genosse Krenz.“ Egon blieb vor seiner Arbeitszimmertür stehen und drehte sich ihr zu. „Ja bitte! Gern!“

„Ist es wirklich wahr, dass die…“ Sylvia stockte und sagte langsam und betont: „Sozialistische Einheitspartei jetzt selbst den Antrag stellt, ihre führende Rolle aus der Verfassung der DDR zu streichen?!“

Etwas irritiert blickte Krenz sie an. „Ja. Wir geben damit gewissermaßen einen Impuls. Wir setzen ein Zeichen für die… für eine Demokratisierung in diesem Land. Hans Modrow wird heute den Antrag für die Fraktion der SED…“ – „Damit“, hielt Sylvia entgegen, „setzen wir aber den Impuls zur Entkernung der ganzen Verfassung!“

„Das Wesen dieses Staates“, erläuterte Krenz, „ist Demokratie.“

Sylvia blickte ihm starr in die dicken Augen. „Ja, die sozialistische, die wirkliche, die Herrschaft des Volkes. Wenn dieses Volk insgesamt von niemand mehr vertreten wird, wenn das nicht mehr führt – Was dann? Liberale Ideen? Religiöse Ideen?“

Krenz blickte noch irritierter. „Ich hoffe nicht. Ich denke…“

„Was bleibt dann?“

„dass wir möglichst viele Anregungen aus vielen Bereichen…“

„Dann“, sagte Sylvia und fühlte sich sicher wie seit langem nicht. „Dann bleibt nichts. Damit wird die Klassenherrschaft aufgegeben. Und die Volksherrschaft dazu. Und außerdem wird ausdrücklich aller Welt gesagt: Wir geben sie auf.“

Müde deutete sie auf die Papiere. Wozu ein Schrecken ohne Ende? Dann lieber ein Ende mit Schrecken.

In einem Westberliner Café saßen zwei Leute einander gegenüber. Ein CIA-Captain namens Mueller sagte zum Abgesandten des Grüppchens ‚Demokratie Jetzt’: „Erstens können Sie Unruhe auf der unteren Ebene stiften soviel Sie wollen. Krawalle, Anschwärzen – Bitte sehr. Natürlich keine großen Geschichten, Bomben oder so. Sie haben aber völlig freie Hand. Dürfen sich nur nicht erwischen lassen. Wir haben von einem unserer Leute, einem der ziemlich nahe am Politbüro sitzt, die Bestätigung, dass Partei- und Staatsführung unter keinen Umständen mehr Sicherheitskräfte einsetzen werden. Die Sowjettruppen rühren sich sowieso nicht. Das habe ich Ihnen schon gesagt… Zweitens: Überhaupt keine Bambule oben! Das läuft von selbst! Am Runden Tisch muss es ruhig und gesittet ablaufen. Sonst ist die ganze Übergabe wertlos. Dann hätten wir eine breite Widerstandsbewegung in der DDR. Also: Gehen Sie dem Modrow zur Hand. Der macht schon alles klar. Alles klar?“

Unruhig rutschte der Hartmut Jost auf seinem Plenarsaal-Sitz herum. Die Unzufriedenheit der Volkskammer-Abgeordneten mit der aussichtslosen Lage ihres Volkes kannte keine Grenzen. Sie waren die Rechenschaftspflichtigen; nun war alles aussichtslos. Welche Rechenschaft können sie geben? Da kann man nichts rationalisieren. Man kann verschieben. Unter politischem Aspekt war nichts zu verschieben, denn politisch war man eben selbst verantwortlich. Man war nicht einmal hintergangen worden; man hatte alles selbst mitvollzogen. Jedes beschlossene Gesetz lag offen zutage. Man kann höchstens auf dem Schalck-Golodkowski und seiner KoKo herumreiten, deren Aktivitäten im Einzelnen unklar waren. Aber das ist wenig genug. Besonders brisant scheint es leider ebenfalls nicht. So bleibt nur die persönliche Ebene. Darin ist man hintergangen worden! Persönlich hatten die führenden Leute versagt! Jetzt sollen sie den Bericht der Untersuchungskommission über „Amtsmissbrauch und Korruption“ um die Ohren kriegen.

Dies indes fürchtete der Krenz, als er den Saal betrat. Wer weiß, was man alles unter „Privilegien“ fassen kann! Auch der Modrow fürchtete es, als er durch die Volkskammer zum Präsidium schritt. Diesen Bericht sah die Tagesordnung vor. Doch zuerst ging es um den Artikel Eins der Verfassung der DDR. Später schreibt Modrow: „Mir wurde klar, dass die führende Rolle der SED mit unserem Wirken aus nationaler Verantwortung nicht mehr vereinbar war. In der Fraktion der SED stellte ich daher am 1. 12. 1989 den Antrag, aus Artikel 1 der Verfassung den Passus ‚unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei’ zu streichen.“ –

Wirken aus nationaler Verantwortung? War die DDR-Nation wohl noch gemeint, von der bislang die Rede gegangen? Wie rechtfertigt die später nicht mehr vorhandene Nation der DDR dies? War bereits das neue Großdeutschland gemeint? Wie vertrug es sich aber überhaupt mit einer SED? In Wahrheit übersetzt hatte der Modrow eine absurde Angst vor eben dem angekündigten „Bericht“, vor dem was die Untersuchungskommission nun offenlegen könnte. Er hatte einfach das große Flattern. Vielleicht half ein großes Zu-Boden-Sinken? Ein kompletter Kniefall? Vielleicht konnte ein kompletter Verrat die Abgeordneten versöhnen!

Und er stellte seinen Antrag.

Wir sehen sein nettes Gesicht das etwas unruhig grimassierend lächelt und heiser spricht: „Das soll ein Zeichen setzen für den durchgreifenden Prozess der Demokratisierung im Land und die neue Form gleichberechtigter Zusammenarbeit in der großen Koalition unterstreichen.“

Natürlich wusste er zugleich, dass die Agenda seines Schutzpatrons Gorbatschow und die der West-Regie nichts anderes vorsah. Aber einen großen Verrat begeht man nicht so ganz einfach. Irgendwo zwickte und zwackte ein Rest Ehrenhaftigkeit. Er war auch nicht geistig behindert. Er wusste sehr genau, dass dies Land von seiner Gesellschaftsform abhing, und dass eben dieser „Passus“ eben diese gewährleistete. Er wusste: Ohne dies kein „Land“. Er bastelte sich nur seine Rechtfertigung vor sich selbst, auf die er später verweisen kann, wenn sie auch nicht taugt. Also sprach der Modrow sehr leise und heiser und dachte: Es ist ein Mittelweg: Ein klar ausgesprochener Verrat, aber ich begehe ihn leise und heiser!

Er stand am Mikrofon und hatte fertig gesprochen. Und unvermittelt herrschte im Plenarsaal Stille. Der Hammer Weltgeschichte hatte wieder einmal zugeschlagen. Man spürte es. Hartmut spürte es. Es ist geschehen.

Jeder hier hatte zumindest ansatzweise eine Idee davon was geschah. So schläfrig oder erstarrt wie auch immer – fuhr dem Hartmut Jost durch den Schädel –, ohne sozialistische Führung kann es kaum einen Sozialismus geben! Es ist ja klar. Da ist es völlig unwichtig, ob man den Sozialismus-Begriff dann noch selbst aus der Verfassung streicht oder nicht. Es ist eine unwissenschaftlichschläfrige, eine selbstverhohnepiepelnde sozialistische Partei. Es war ja auch ein unwissenschaftlich-schläfriger Sozialismus geworden. Es stimmt alles. Real zeigt die sozialistische Partei wieder, dass sie die Führung hat. Selbst jetzt führt sie, indem sie sich selbst ad absurdum führt – und man folgt ihr. Die SED, fiel dem Hartmut Jost weiter ein, bestand ja immer schon auch aus Sozialdemokraten! Damit hängt es wohl zusammen. Die hatten wohl die interne Führung in diesem Verein lange schon übernommen und die Kommunisten weggebissen. Wenn jetzt die Führung selbst sagt, sie wolle nicht mehr führen – Wie kann man da überhaupt gegen diesen Antrag stimmen? Sie zwingen einen ja! Sie lassen einem gar keine Wahl. Das ist ja Stalinismus!

Der weitergehende Antrag der CDU von Lothar di Misere erregte den Unwillen des Parlaments. Diesem gemäß bleibe nur noch die nackte Feststellung, die DDR sei ein sozialistischer Staat. Ohne die Arbeiter und Bauern.

Das war zu wenig! Leichter Tumult kam auf. Man rumorte etwas und verwarf diesen CDU-Antrag: Schließlich macht man nicht für irgendwelche Lobby hier Politik. Es waren die Arbeiter und Bauern selbst die man vertrat. Genau jene, die durch diese Christen jetzt gestrichen werden sollten.

Später löste der dann neue Regierungschef di Misere auch pro forma den Sozialismus auf. Warum sollte gerade er denn ehrlich sein?

In diesem Moment packte Egon Krenz noch kein körperliches Unwohlsein. Er überlegte: 1968 wurde die Verfassung durch Volksentscheid angenommen. Wir haben kein Recht, sie schrittweise zu amputieren. Da müsste vielleicht doch ein Volksentscheid her? Er fragte sich nicht, ob das Volk den eigenen Entscheid jetzt in Frage stellen mochte und eine Verfassungsänderung wünsche. Es folgte jedoch der allseits gefürchtete Bericht der „Untersuchungskommission“: Sogar die CDU- und sonstigen Bündnisabgeordneten fürchteten sich. Womöglich schlüge man ihnen ihre eigene Datsche, ihr eigenes Auto um die Ohren?

Nun war diese Kommission nur noch per Zufall zusammengesetzt, wenn es auch im engeren Sinne keine Zufälle gibt. Sie hatte weder Profession noch geeignete Kenntnis noch Verständnis für solche Untersuchungen. Sie hatte nur eine Intuition, die keine Sachgrundlage im Auftrag fand, sondern allein die politische Situation kannte: Man muss den SED-Oberen etwas nachsagen!

Damit war sie befasst gewesen. Und es folgte nun ihr Bericht über Datsche und politische Administration und Badezimmerfliesen… hinsichtlich der SED-Oberen. Es ging um Belanglosigkeiten, die zudem auf Hörensagen beruhten.

Der Bericht wurde von der Aktuellen Kamera geflissentlich übertragen. Und kein DDR-Bürger wusste ein halbes Jahr später noch, was eigentlich die „Privilegien“ gewesen waren. Krenz und Modrow ward gar nichts angekreidet. Doch hier packte den Egon Krenz das Unwohlsein. Er hörte jetzt eine Menge Vorwürfe, die mit menschlicher Sauberkeit von Leitung in seinem geliebten Lande unmöglich zu vereinbaren waren. Sein Herz raste; ob vor Empörung über Vorwurf selbst oder dessen Inhalt, wusste er selbst nicht genau. Ihm war übel. Er erhob sich. Er konnte nicht aufrecht stehen und setzte sich wieder. Er wollte aufstehen, der Plenarsaal drehte sich und tanzte vor seinen Augen. Er sank auf den Sitz zurück und flüsterte dem Modrow zu: „Ich muss raus.“

Modrow nickte.

Im Fraktionszimmer der SED erschien ein Arzt. Flüchtig untersuchte er den Egon und sprach: „Sie stehen kurz vor einem kompletten körperlichen Zusammenbruch, sehr kurz.“

Krenz’ Blick war unstet und fiebrig. „Sie müssen“, eröffnete der Arzt, „sofort ins Krankenhaus. Für alles andere halte ich nicht her.“

„Nein!“ flüsterte Egon Krenz.

„Außerdem schreibe ich Sie krank.“

„Nein…“

„Machen Sie es, wie Sie wollen. Das tun Sie auf eigene Verantwortung.“

Er fertigte das Formular aus. Jetzt krank machen? – ging es durch Egons Hirn. Das sieht aus wie Flucht aus der Verantwortung! Außerdem bin ich noch nicht fertig… als Staatsratsvorsitzender.

Er erholte sich zwanzig Minuten. Dann ging er in den Plenarsaal zurück und hielt eine Rede, darin er betulich-begütigend alles bedauert und für alles die politische Verantwortung übernimmt, nicht ohne zu betonen, dass er selbst weder zur Jagd gegangen noch ein Jagdhäuschen benutzt… Da kam ihm, am Rednerpulte stehend, ein sinnvoller Gedanke: Vielleicht sollte ich die Vertrauensfrage stellen? Leider kam ihm der Einfall auf die obskure Privilegien-Schau hin und weniger aus politischem Motiv. Folglich dachte er: Ich kann ja gar nicht die Vertrauensfrage stellen! Ich müsste mich erst mit der Fraktion beraten!

„Ich glaube“, sagte in der Sitzungspause der Hartmut Jost allen Ernstes zu seinem Fraktionskollegen Friseurmeister Hahn: „der Stalinismus ist eigentlich sozialdemokratisch. Das ist mir gerade klar geworden…“

„Jedenfalls“, erklärte Friseurmeister Hahn bestimmt, „haben wir jetzt mal die da oben von ihrer ‚führenden Rolle’ weg. Jetzt können sie keinen Mist mehr machen.“

„Dafür“, so sprach Jost unwirsch ein, „machen jetzt andere den Mist! Was ist daran besser?“ Man stand im Vorraum zum Plenarsaal auf beigefarbenem Textilboden. „Wir haben“, ergänzte Fraktionskollege Rainer, „die Verfassung entkernt. Nein, in Wirklichkeit haben wir sie wahrscheinlich geköpft. Denn Präambel und Artikel Eins stehen ja mit gutem Grund da vorn. Das ist das Haupt. Ohne das geht das andere wahrscheinlich sowieso nicht: soziale Gerechtigkeit und humanistische Werte.“

Friseurmeister Hahn zog ein verschmitztes Gesicht. „Wenn das aber gar nicht stimmt? Oder gestimmt hat?“ Er hob einen Zeigefinger: „Das ist nur Frisur! Keine Substanz! Drüben in Westdeutschland steht auch ganz vorn: Die Würde des Menschen ist unantastbar! Nicht der Mensch, sondern die Würde. Meint ihr vielleicht…“ Geheimnisvoll senkte er den Ton. „das stimmt? Das stimmt drüben wahrscheinlich noch weniger als bei uns!“

„Wenn du recht hättest“, bemerkte Rainer grüblerisch, „würde in Zukunft auch bei uns die Würde des Menschen weniger gelten als jetzt.“

Hahns Miene änderte sich. Er sah trübe nach unten. „Gehen wir in die Kantine. Holen wir uns ein belegtes Brötchen.“

„Und irgendwann“, knurrte Jost, „heißt es: Privilegien!“

Rainer lachte auf. „Dann könnten sie uns alles als Privileg ankreiden, auch die Luft die wir hier atmen!“ Man lächelte unzufrieden. Genauso geschah es jedoch.

Nach der Verschiebungs-Tagung standen die drei liberalen Abgeordneten vorm Palast der Republik zusammen. „Gehen wir noch ein Bier trinken!“

„Ohne mich“, brummte Hartmut Jost und zottelte unzufrieden nach Hause. „Ohne mich! Prost!“ Im hell-weißlichen Schein der hohen Bogenlaternen suchte seine Unzufriedenheit mit sich selbst Entlastung: Das also ist des Pudels Kern! Die Sozialistische Partei ist gar keine sozialistische. Vielleicht nie gewesen. Und schon gar nicht ist es eine Partei des wissenschaftlichen Kommunismus. Blödsinn, fiel dem Jost ein; das geht sowieso nur gemeinsam. Die sind nur ein stinknormal sozialdemokratischer Verein! Also weg damit! Ich bin für freiheitliche und liberale Werte, aber im Sozialismus! In einer gerechten Gesellschaft! Und nicht in einer stinknormalen Kapitalgesellschaft, da sind diese Werte doch Etikettenschwindel! – Stalinismus!

Pro tribunal

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