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Zweiter Satz

Nicht schuldig

Der dreißigste November war ein nebelgrauer, trüber Tag. Man konnte kaum weit sehen. Sylvia brachte einen erstkategorisierten Brief zu Egons Schreibtisch. Die Zuordnung war ihr nicht ganz leichtgefallen, aber sie konnte diese gut begründen. Er lag jetzt ganz oben auf der Postmappe.

Egon Krenz betrat Sylvias Reich und ging zu seinem Arbeitszimmer. „Guten Morgen.“ Sie blickte auf ihre schmale, silbrige Armbanduhr. Es war 6.20 Uhr. „Guten Morgen“

Ihre zurecht gelegte Begründung sah etwa aus: Wir haben viele politische Kontakte und Absprachen oder Erklärungen erzielt, aber es sieht im Lande schlimmer aus als je zuvor. Es sieht schlimm aus, was Ideen für die Zukunft angeht, das Vertrauen in die Zukunft. Die Menschen haben das Vertrauen in die Zukunft verloren. Und hier ist ein Brief – nicht von einem Politiker, sondern einem Wissenschaftler, dem Direktor des Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR.

Egon blieb vor seiner Tür stehen und sah ihr ins Gesicht. „Mir gefällt gut, Sylvia, das wollte ich Ihnen schon lange sagen, dass da drüben immer eine frische Blume steht. Das ist sehr schön.“ Hier fiel der Sylvia etwas auf, was sie nie zuvor bemerkt hatte: Er ist weiß geworden. Innerhalb weniger Wochen ist er weiß geworden. Seine Haut wirkt grau. Er erscheint, als sinke er vor Müdigkeit gleich um, mit seinen eingefallenen Wangen.

Egon lächelte. „Sie sehen müde aus Sylvia.“

„Ja, mh. Ich habe…“

Egon lächelte weiter und sprach: „Denken Sie daran: Wenn Sie mir umfallen, haben wir alle nichts gekonnt! Und man fällt um, ehe man es ahnt.“

Idiot! dachte Sylvia ärgerlich. Warum lässt er mich nicht aussprechen?

An die Tür vom Gang wurde geklopft. „Ja?“ bat Egon.

Sie öffnete sich. „Guten Morgen!“ – „Morgen Anne“, sagte Sylvia. „Morgen, Anne!“ murmelte auch Krenz freundlich und wandte sich seinem Büro zu.

„Ich habe“, setzte Sylvia erneut an. Egon öffnete seine Tür und wandte sich zurück. „Ist was?“

„Ich habe…“, sagte Sylvia. Egon sah auf seine Armbanduhr. „Haben wir was Eiliges?“

„Idiot!“ dachte nun die Anne. „Warum lässt er sie nicht zu Wort kommen?“

„Nein, oder doch.“

„Wollen wir Frau Birkholz nicht warten lassen!“ mahnte Egon. „Noch viel offene Post?“ – „Anne“, wies Sylvia hin. „Da drüben der Stapel noch bis Zehn Uhr. Dann muss Genosse Krenz…“

„Viel offene Post?“ wiederholte Egon freundlich. Verärgert verzog Sylvia die Stirn. „Ungefähr zweieinhalb Millionen Tonnen. Ich habe einen Brief von Max Schmidt ganz oben aufgelegt. Der enthält einen Vorschlag.“

Sie überwand alle gewohnte Zurückhaltung und sprach hastig weiter. „Wenn ich meine Meinung sagen darf.“

„Bitte! Ich bitte darum!“ – „Dann stochern alle Menschen in der DDR jetzt im Nebel. Sie fühlen sich völlig verunsichert und verlassen. Sie fühlen sich nicht schuldig an der entstandenen Lage. Sie sind auch nicht schuldig. Man hat ihnen… uns allen immer gesagt: Wir stehen zusammen! Und jetzt zeigt sich, dass jeder im Nebel steht, und ganz allein einen Weg suchen muss.“

Sie schluckte. „Meine Tochter Jasmin hat mal…“

Egon lächelte etwas hilflos nickend und dachte: Ich wollte sie sofort beurlauben. Sie selbst wollte nicht.

Anne strich der Sylvia über den Arm. Diese setzte fort: „gesagt: Dann müsst ihr einfach eine Echte Sozialistische Erneuerung gründen! ESE – als ganz neue Partei! Wär doch lässig!“ Sylvia schluckte und sah dem Egon offen in die Augen. Ernst und bestimmt sprach sie weiter: „Entschuldigen Sie, das würde ich von mir aus nicht ansprechen. Aber da ist dieser Brief vom Genossen Schmidt. Ich denke, wir haben nur noch wenig Zeit, sehr wenig. Der Aufruf wird nicht helfen. Da gehen viele aus verschiedenen Einzelfragen nicht mit. Es muss eine radikale Maßnahme her, eine Sortierung. Damit alle diejenigen, die in der Sache zusammen gehören, sich in diesem Nebel auch finden.“

Egon nickte nachdenklich, Anne nickte eifrig.

Egon sprach: „Das sehe ich so ähnlich. So etwas ging mir durch den Kopf, als ich gestern diese demographischen Zahlen gesehn habe.“ Er drehte sich seiner Tür zu. Dann kam er ein paar Schritte zurück. „Da gibt es eine Hyperbelform. In den Zeiten als es eine vorwärtsgewandte Entwicklung gab, sind weniger ausgereist… Aber jedenfalls ist der Aufruf das einzige was wir jetzt haben. Und damit gibt es doch eine Sortierung! Natürlich muss es uns gelingen, den Bürgern der DDR wieder eine Perspektive zu geben.“

Er hielt die Türklinke in der Hand, wandte sich wieder um und fragte freundlich: „Und wie sehen Sie das, Frau Birkholz?“

Schulterzuckend antwortete Anne: „Vor der Perspektive steht erstmal der gemeinsame Rahmen, denke ich, eine Struktur. Und das ist eben jetzt unklar.“

Intelligent! dachte Egon. Wir haben uns viel zu wenig um die junge Intelligenz gekümmert! Welches Potential da brach liegt!

An seinem Schreibtisch fühlte er sich im Dunkeln. Es war eben ein grauer Tag. Er schaltete das Schreibtischlicht ein und nahm den Brief des Direktors zur Hand. Da stand zu lesen:

„Noch gibt es einen Grundkonsens der SED und der anderen Parteien mit den Gruppen des Neuen Forum, ‚Demokratie Jetzt’, ‚Demokratischer Aufbruch’ und der Sozialdemokratischen Partei, den Grünen sowie der beiden Kirchen, dass die Wiedervereinigung nicht erwünscht ist. Auch hinsichtlich der antifaschistischen Tradition und der sozialistischen Ordnung gibt es noch eine Übereinstimmung. Zu fragen ist jedoch: Wie lange kann dieser Grundkonsens noch halten? Es droht die Gefahr, dass gegen diese ‚Wiedervereinigung’ weder von innen noch vom Ausland Maßnahmen ergriffen werden.“

Das heißt – überlegte Egon – diese wird vom Gegner erzwungen. Wir bekommen keine Schützenhilfe der SU mehr und würden überrollt. Ist das möglich? Die drüben haben jetzt die ökonomischen Hebel; die Anbindung an die großen internationalen Finanzinstitute. Die haben auch die Meinungsmacht, da uns die medienpolitische Programmatik fehlt.

Ist es also möglich?

Er scheute vor der Antwort zurück und las weiter: „Es ist hohe Zeit, in offene Gespräche mit den Parteien und Organisationen zu treten, um dem Grundkonsens Ausdruck zu verleihen. Die geeignete Form könnte eine Volksbefragung sein. Die Bevölkerung sollte darüber abstimmen, dass die deutsche Einheit oder der Anschluss der DDR an die BRD nicht auf der Tagesordnung steht.“

Eine gute Idee! fuhr Egon durch den Kopf. Wirklich gut. Ich werde sie auf der nächsten Sitzung des Politbüros zur Diskussion stellen.

So hat er es sich tatsächlich gedacht. So teilt er es später wörtlich in seinen Erinnerungen mit. Und schreibt da in der Fußnote: Dazu kam es nicht mehr. Ich bin am 3. Dezember 1989 von meiner Funktion als Generalsekretär des ZK der SED zurückgetreten.

Ähnlich inspiriert zeigte sich die Regierung Modrow: Sie hatte beschlossen, den „Aufruf“ staatstragend zu begrüßen, mochte darin nun enthalten sein was wolle. Es schien die Zeit der Kompromisse. So in etwa hielt es denn auch der Thomas Arndt. Zwar hatte er gesagt: Interessiert mich nicht! – und der Bogen lag auf dem Tische und lag und wartete – und dieser und jener trat herein und heran und unterschrieb, und ging wieder. Schließlich trat am folgenden Morgen auch Thomas Arndt an den Tisch.

Er las nochmals, schüttelte den Kopf – und unterschrieb. „Für unser Land!“

Er glaubte nicht im Mindesten an irgendeinen Sinn, nicht einmal an einen ideellen oder indirekten. Er nahm den Bogen auf und hielt ihn dicht vor die Augen. Da standen die Unterschriften. Und niemand außer ihm las überhaupt noch durch, wer da stand. Da waren sie alle: die kindlich-unbeholfene Signatur von Schaltmeister, die sauber-naive von Narkose, die glatt geschwungene von Pjotr und ein krakeliger Zug von Haber, Züge vom Mainz und Weinkel, von LSD und Crab, von Kammersänger… Ja! Auch von diesem! Da hatte nun wohl doch die ganze Kompanie unterschrieben. –

Er schüttelte in alter Gewohnheit den Kopf.

Schließlich fand sich Ball ein. Er nahm die eng beschriebene Liste, stopfte sie in einen großen Umschlag, und trug diesen zur Post. Millionen unterschrieben diesen Anti-DDR-Salm nicht. Millionen aber unterschrieben nun im Lande. Sie unterschrieben nicht den Salm, sondern für ihr Land. Denn das stand darüber.

Für die Regierung erklärte Sprecher Mayer im Fernsehen, sie fühle sich bestärkt durch diesen Aufruf, dass „eine Wiedervereinigung die auf eine Vereinnahmung unseres Landes hinausläuft, nicht auf der Tagesordnung steht“.

Soweit so mager. Man konnte es schlucken, und Thomas Arndt schluckte. Was kam jedoch im nächsten Halbsatz:

„und dem Willen und Wollen breiter Bevölkerungskreise widerspricht.“

Die Journalisten aus aller Welt saßen im Saale, dem Mayer vor seinen Vorhangfalten gegenüber. Die Stifte glitten übers Papier. Handaufnahmegeräte wurden empor gehalten. Ball betrachtete mit runden Augen den Mayer vor den Vorhangfalten, wie er einem Schabe gelauscht.

Sarkastisch lächelte Haber.

Und eine seltsame Frage ging dem Arndt im Kopfe herum: Was soll der Vorhang? Alles geschieht doch davor! Was ist eigentlich hinter diesem Vorhang? Alles passiert hinter den Kulissen. Nur hier und für diese historische Minute geschieht alles für jeden offenkundig. Der Vorhang mag wohl sagen: Seht her! Dahinter ist noch was! Unsere Unbeholfenheit ist noch nicht alles! Jedenfalls ward gesagt: breiter Bevölkerungskreise. Er tauschte ein Grinsen mit Haber. Was steckt dahinter? Dahinter muss es heißen: Da ist wohl jemand… Wieviele können wir nicht genau sagen. Noch tiefer dahinter heißt es: Wir wollen es gar nicht genau wissen. Es gibt zwar soziologische Erhebungen, die sehr klar aussagen, dass die MEHRHEIT keinen Anschluss an die BRD wünscht. Aber wir haben ja diese Koalitionsregierung mit Leuten, die nicht ganz ehrlich sagen, an wessen Fäden sie hängen. Die es nicht sagen können, wollen oder dürfen. Wir müssen bitten, Rücksicht zu nehmen!

Zudem ist da der Runde Tisch: Auch an diesem werden wir alle bald zusammentreffen, und auch dort wollen wir gemütlich sitzen. Auch dort soll der Kaffee schmecken, darf die Atmosphäre nicht leiden. Das Klima ist gefährdet genug! – Daher diese Unbeholfenheit. Das ist nun keine geistige Beschränktheit weiter. Das muss so sein! Das ist gewollt.

Noch weiter gedacht, ergibt sich klar und zwingend der Eindruck den man im Übrigen unbewusst gewinnt: Hier ist ein Aufruf den wir begrüßen, dem wir uns auch anschließen. Glaubt bloß nicht, wir regieren! Wir laufen euch nach. Macht mal weiter; wir lassen uns zum Jagen schon von euch tragen! Wenn ihr dann zur nächsten Maßnahme schreitet, werden wir sie in unserer Koalitionsregierung auch bestimmt beraten.

Sein Grinsen vertiefte sich so stark, dass Haber ihn erstaunt musterte.

Der folgende Satz vom Mayer hieß: „Wahrung der Eigenständigkeit der Republik setzt eine funktionierende Wirtschaft und die Bewältigung einer Vielzahl ökonomischer Fragen voraus.“

Die erste Botschaft also ist: Wir haben das Regieren schon satt. Die zweite heißt: Wenn wir auch diesen Staat erhalten wollten… Es wird nicht gehen. Tut uns leid. Kurz darauf konnte man von Wirtschaftsministerin Christa Luft hören, dass bald ein Gesetz über Gemeinschaftsunternehmen vorgelegt würde, bei denen Fremdkapital bis zu 49 Prozent begrüßt würde.

Indessen begutachtete der Egon Krenz an seinem Schreibtisch die nächste Post: eine Beschlussvorlage der CDU – die an der Koalitionsregierung beteiligt ist – an die Volkskammer. Es wird eine Entschuldigung gefordert, dass „Einheiten der Nationalen Volksarmee der DDR 1968 in der ČSSR beteiligt waren.“ Damals hatten westliche Gelder und Vatikan und CIA zur Störung von Versorgung und Staat im Nachbarland geführt, um Konterrevolution einzuleiten wie in Chile… Unter Wahrung völkerrechtlicher Regeln und mit Hilfe der Bruderländer hatte die Tschechoslowakei dies beruhigt und das Volkseigentum gesichert. Der Westen hatte vor Wut geschäumt. Undeutlich sah Krenz die brisanten Tage noch vor Augen. Er glaubte aber auch zu wissen, dass keine Teilnahme der NVA stattfand. Er forderte eine verbindliche Erklärung von Generaloberst Streletz an, im Jahre 1968 stellvertretender Chef des Stabes.

Die Antwort lautete: „Zu keinem Zeitpunkt befanden sich im Zusammenhang mit Handlungen der Vereinten Streitkräfte Truppen der Nationalen Volksarmee auf tschechoslowakischem Territorium.“

Da hatte nur die kapitalistische Medienmacht zugeschlagen und dergleichen überall verbreitet. Und wenn die CDU es jetzt noch per Volkskammerdebatte verankern wollte, so lag deren Rolle im System-Kampf schon offen.

Egon Krenz fiel es nicht auf. Er las weiter. Roland Claus aus Halle schreibt ihm, einer der neuen SED-Bezirksleiter:

„Du solltest auf dem Sonderparteitag nicht wieder als Generalsekretär kandidieren. Im Gespräch mit vielen habe ich gespürt, dass man dir persönlich nicht das für die Leitung der Erneuerungsbewegung in Partei und Gesellschaft erforderliche Vertrauen entgegenbringt.“

Krenz ließ den Brief sinken und stützte das Kinn in die Hände. Ja! dachte er. Da schafft und ackert man und fällt fast um vor Müdigkeit… Aber vielleicht hat Roland Claus recht. Er schreibt nichts so dahin. Er muss sich seiner Sache sehr sicher sein.

Der Staat besteht noch – schien dem ungläubigen Thomas Arndt:

Er will sich nicht orientieren. Er will keine eigene Neudefinition und keine Selbstbestimmung mehr schöpfen, aber untergehen will er auch nicht. Die Menschen wollen sich nicht vereinnahmen lassen, einfach anschließen lassen. Was wird der Wolf tun? Er muss sie weiter locken. Er muss seine bunte Warenwelt verlockend glitzernd präsentieren und das dazu nötige Westgeld schwenken… Vor allem aber muss er so tun, als wünsche man hier eine „Vereinigung“.

Dies schien also die Zeit der Kompromisse. Die an der Koalitionsregierung beteiligten Leute schlossen mit dem Wolfe einen Kompromiss: Wir reden hier alle immer noch gemeinsam von Sozialismus. Und dann tun wir das genaue Gegenteil. Die Autoren des „Aufrufes“ sagten: Alles Mist, aber unterschreibt, dass wir ihn nur behalten! Thomas Arndt konnte darin kein Wort finden, dass er unterschreiben mochte – und unterschrieb.

Sonja Malmann hielt des Abends ein Schreiben der „Vereinigten Linken in der DDR“ empor. „Nonsens!“ sagte sie. „Die linken Brüder und Schwestern schreiben, dass sie sich dem Appell anschließen, Mutti.“

Mutti Malmann saß in einer plüschigen Sesselgruppe, beugte sich zur Seite und nahm ein Körbchen mit Nähzeug aus dem Durchreichen-Unterschrank.

„Woher haben sie denn deine Adresse?“ fragte sie neugierig. – „Ach, da lag am Eingang so eine Liste wo man sich eintragen konnte.“ Mutti nickte. „Und wie geht’s dort weiter?“

Sonja knurrte: „Es gibt eine Großdemo, eine Anti-BRD-Demo, am neunzehnten Dezember. Aber deine Frage war falsch.“

„Gehst du da hin?“

„Du hörst mir ja gar nicht zu! Deine Frage war falsch!“

„Achso… Ja, wie wäre denn die Frage richtig?“

Sonja verdrehte die Augen zur Zimmerdecke. „Mutti! Es ist kein Wunder, wenn wir alle baden gehen. Ihr schlaft ja.“

Die Mutti hatte einen Faden eingefädelt und nickte. Sonja mochte alle Wände empor kriechen – gleichzeitig. Heiser begann sie zu schreien: „Ich habe gesagt ‚Nonsens’!“ Sie schrie lauter, und die Mutter fuhr zusammen. „Oder nicht?! Das muss doch dann heißen Wieso?!“

Die Mutti hielt einen Knopf und nähte. Sie nickte und fragte sanft: „Willst du einen Tee trinken? Oder einen Kaffee? Wir haben auch Apfelsaft! Und danach erzählst du mir von deiner Clique. Ich meine, wenn du mir das andere erzählt hast.“ Müde ließ sich Sonja aufs Sofa fallen. Sie sah der nähenden Mutter zu. Nach einer Weile sagte sie: „Geh mal, mach Kaffee! Vielleicht bringt uns das wieder hoch. Gib her! Ich mach das schon.“

Die Mutter wackelte in die Küche und klirrte mit Geschirr. In der mehretagigen gläsernen Durchreiche standen Wein- und Biergläser, buntes Kristall und eine sowjetische Matroschka-Puppe sowie eine bunte ungarische Tänzerin. Sie rief durch die blanken Scheiben: „Nachher kommt ein schöner Miss-Marple-Film.“

Sonja entgegnete: „Bei uns?“

„Ja, bei uns“, rief Mutti. „Im Ersten. Was wolltest du mir denn erzählen?“

„Diese linken Chaoten schließen sich dem Aufruf-Appell an. Das ist Nonsens. Das wollte ich sagen“, rief Sonja zurück, packte das Nähzeug ein und stellte das Körbchen weg. Dann legte sie die Bluse zusammen. Die Mutter erschien mit einem Brett, darauf ein kaffeeduftendes Kännchen und zwei Zwiebelmuster-Tassen standen, außerdem ein Sahnekännchen und eine Zuckerdose. „Findest du den Aufruf falsch?“ fragte sie.

„Irgendwie halbgewalkt“, sagte Sonja nachdenklich. „So unentschieden. Die haben sich einfach gedacht: Alle hacken jetzt auf der DDR rum – also hacken wir auch mal ’ne Runde. Und dann fordern sie, dass man für dieses Land aktiv wird. Und das ist Nonsens. Das kann doch nicht überzeugen.“

Mutti goß Kaffee ein. „Man findet immer irgendwas das einem nicht schmeckt. Wichtig ist doch, dass jetzt alle DDR-Bürger diese Möglichkeit haben. Dass es wieder eine gemeinsame Plattform gibt. Aus meinem Betrieb höre ich, dass alle da unterschreiben, und auch von Vatis Arbeitsstelle. Das hört man von allen Seiten, sogar aus der Post. Das ist doch gut…“

„Es wird uns nicht mehr helfen.“

Abends saß man gemeinsam vorm Fernseher. Im langgestreckten Wohnraum stand auf einem runden Tischchen ein zierlich geschmückter Adventskranz mit vier weißen Kerzen. Es lief die „Aktuelle Kamera“. Da wurde natürlich auch der Mayer betrachtet. Dann war die Nachrichtensendung vorbei.

Hierauf kommentierte der Narkose-Vater: „Mir sind drei Dinge aufgefallen. Vielleicht fällt das noch anderen auf? Beim DTSB sagen sie, dass bei uns die Sportvereine die nichts einbringen, genauso gefördert werden wie die wo Gelder ’reinkommen, sogar Devisen. Das nenne ich solidarisch! Das ist echte Gemeinsamkeit. Dann haben sie erzählt, dass irgendwo im Westen ein Picasso-Bild für Millionen versteigert wurde. Dass es einen Verkaufs-Rekord erzielt hat. Dreihundert Millionen France! Kunst als Geldanlage: Das ist barbarisch.“

„Aber“, wandt Sonja ein, „es wurde null kommentiert! Einfach nur so berichtet. Als wären sie noch stolz darauf, so was erzählen zu können.“

„Jeder weiß doch“, sprach der Narkose-Vater, „dass bei uns die Kunst dem Volk gehört. Jeder darf gleichermaßen daran teilhaben. Das gibt doch zu denken!“

„Hoffentlich!“ sprach die Mutter. „Pass bloß auf deine Zigarette auf! Brenn mir kein Loch in den Teppich!“

Dieser Teppich leuchtete bunt wie verzaubert. Sonja fragte: „Und das dritte?“

„Zwischen dem 24. und 29. November gab es zweitausend Zoll- und Devisenvergehen“, antwortete der Vater langsam. Noch langsamer setzte er fort: „In fünf Tagen. Das kann man hochrechnen auf den Zeitraum seit die Grenze offen steht. Dazu kommen noch die unentdeckten Schiebereien. Sie machen ja nur Stichproben. Sieht man immer bei den Aufnahmen von den Grenzübergängen. Das geht in die Millionen! Was bleibt uns dann?“

„So ungefähr“, erklärte Sonja trübe. „habe ich’s mir gedacht. Und dann haben sie das erstemal einen DDR-Bürger erwischt, der Drogen bei sich hatte.“ Sie verstummte. „Und?“ fragte Mutti.

„Mir ist noch was anderes aufgefallen. Aber was sagt ihr zu diesem… zu diesem Schalck-Golodkowski und seinem Firmenimperium?“

„Forum-GmbH“, bestätigte Vati. Halb herausfordernd, halb spöttisch fragte Tochter Sonja: „Was sagst du denn dazu?“

„Das kommt jetzt rund um die Uhr, in jeder Sendung“, sagte der Vati langsam. Im Fernsehen wurde der Kriminalfilm angesagt.

Dann fügte er an: „Na und? Es gab eben auch Firmen die direkt von der Partei geleitet wurden. Da ging’s um die Devisenverwaltung. Wir haben nicht viel an konvertierbarer Währung. Außerdem werden wir ja boykottiert. Das muss damit zusammenhängen, dass sie externe Aufgaben hatten, also dem Volkswirtschaftsbereich nicht direkt zuzuordnen sind. Die waren international tätig. International gibt es doch keine sozialistische Planwirtschaft und kein gemeinsames Eigentum. Also können es nur solche Firmen sein.“

„Die haben“, ergänzte die Mutti, „aber doch ihre Aufgaben erfüllt! So gut wie es ging. Den Kaffee und den Kakao gab es immer, und alles was man im Alltag so braucht. Und wer unbedingt per Genex einkaufen wollte, der konnte es auch tun. Das muss ja jemand organisieren.“

„Und was meint ihr zu dieser ständigen Korruption?“

„Ich bin da skeptisch“, gab Mutti kund. „Aber der Film hat schon angefangen.“ Man sah zur possierlich-emsigen Margret Rutherford, die in diesem Fall noch in Schwarz-Weiß ihre Mörder jagte. Es war wirklich vorzügliche Filmkost. „Mutti!“ fuhr Sonja auf. Schuldbewusst senkte Mutti den Blick. „Man redet jetzt darüber, dass der Willi Stoph ein Freizeit-Objekt gehabt haben soll. Aber das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Ich kann mir das“, sprach Vati mit quälender Langsamkeit, „gut vorstellen.“

„Mein Gott!“ rief Sonja. „Was sagst du denn dazu?“

Ja! Was sagt man als Vater dazu? Jemand aus der alten Zeit, als man noch an den lieben Gott glaubte, der mochte wohl sprechen vom allwissenden und vergebenden Weihnachtsmann, von der Sündhaftigkeit des Menschen und allverzeihender Gnade.

„Man kann interpretieren. Millionen Leute…“ Er verstummte.

Dann schreckte er auf und schaute gerade in Sonjas ängstlichen Blick. „haben eine Datsche, eine Laube. Das ist alles ein ‚Freizeit-Objekt’. Was sonst?“ Er blickte auf den Bildschirm und fuhr übergangslos fort: „Bei diesen gutgemachten Krimis kann man schon in der ersten Häfte drauf kommen, wer der Mörder ist. Aber nur wenn man ganz scharf aufpasst. Und da fällt mir immer die klassische Kriminalistenfrage ein: Cui bono?“

„Wem nützt es?“ übersetzte Sonja. „Und diese… Aber diese Jagd-Gebiete?“ fragte sie begierig. Langsam erklärte Vater Narkose: „Jagden finden in Westdeutschland genauso statt – und mehr als hier, denke ich. Hier geht das vielleicht auf die Freunde zurück. Früher unterstanden wir ja der sowjetischen Besatzungsmacht. Drüben hatten sie die US-amerikanische und britisch-französische. Und wir waren, also die Deutschen waren ja die erbittertsten Feinde der Sowjetunion. Nach dem Krieg haben uns die Sowjets misstrauisch angesehen. Deutsche haben da drüben Dorfbewohner in Scheunen zusammengetrieben und diese mit Flammenwerfern in Brand gesteckt, haben gemordet, gefoltert, wie’s schlimmer nicht geht. Ganze Städte zertrümmert. Die Deutschen…“

„Es ging um die Jagd“, erinnerte Mutti.

„Die Deutschen haben sich da als reine Barbaren und schlimmer gebärdet. Sie wurden also mit Skepsis gesehen, auch die deutschen Kommunisten. Da musste erst Vertrauen entstehen, wachsen… Zur russischen Tradition gehört die Jagd, vielleicht noch mehr als bei uns. Da ist man zusammen unterwegs, muss zusammen schweigen. Ich denke, daher kommt das. Das hat sich eben erhalten, dass der eine und andere zur Jagd ging. Da wirken die alten Zeiten noch nach. Man weiß es ja überhaupt nur von Mittag und Honecker. Ich halte es für kein Verbrechen, nicht mal…“

„Vati!“

„…für ein Privileg. Drüben muss man Geld haben für das Weidwerk. Bei uns kann sich jeder in einer Jagdgenossenschaft organisieren. Wo ist das Privileg? Wo ist da ein Amtsmissbrauch?“

Man sah Miss Marple über den Bildschirm rasen. „Schade!“ seufzte Mutter Narkose. „Jetzt kommen wir nicht mehr rein!“

„Trotzdem“, beharrte Sonja. „Und was ist mit dem Schwimmbad und der Sauna da in Wandlitz?“ – „Ja, das Schwimmbad“, murmelte Vati. „Hast du das gesehen? Meine Kollegen haben mir erzählt, wie es da aussieht. Ziemlich klein… Ich glaube, das ganze Leben da in Wandlitz ist kein Vergnügen. Man kann natürlich sagen: Oh! Die haben ein eigenes Schwimmbad, eine Sauna.“

Der Narkose-Vater sann nach. „Jeder in unserem Land kann fast geschenkt in die Sauna gehen oder in ein Schwimmbad. Wo ist das Privileg? Das Ganze ist ja Unsinn. Da gibt’s einen Laden wo es normale Sachen gibt, und ein paar Delikat- und Intershop-Dinge. Dafür leben sie aber wie eingesperrt. Aber man muss sehen, was vielleicht noch kommt.“ –

Da kam nichts mehr. Sie waren schuldig. Aber nicht dessen.

Mutti sagte: „Trotzdem. Der schöne Film! Jetzt sind wir raus.

Jetzt ist es vorbei. Jetzt kommen wir nicht mehr rein.“

„Mir“, so redete Sonja ins Fernsehgeflacker, „ist bei den Nachrichten noch was ganz anderes ins Auge gestochen. Dieser Herrhausen! Jetzt hat’s ihn erwischt. Die machen einen Wind um den! Genau wie im Westen! Verbrechen, Terror und so weiter, schrecklich – Was hat das mit uns zu tun?“

Mutti sprach: „Vielleicht wissen sie gar nicht, was sie eigentlich berichten sollen.“ – „Kann schon sein“, bestätigte Narkose-Vater. „Das alles ist ja sowieso unklar. Sie haben da ein Bekennerschreiben der Rote-Armee-Fraktion gefunden. Das kann sonstwer geschrieben haben, ein Konkurrent oder ein Komplize.“

„Herrhausen“, murmelte Sonja. „Das klingt schon wie Herr im Haus der Bundesrepublick Deutschland. Deutsche-Bank-Chef! Und dann haben sie wirklich gesagt, er hätte mehr politischen Einfluss und mehr Macht gehabt als der Bundeskanzler Kohl.

Warum muss man da so ein Geheul anstimmen? Bei uns!“ Der Vater nickte. „Die Deutsche Bank ist natürlich nicht nur in der Bundesrepublik ein Strippenzieher. Die sind überall auf der Welt aktiv mit ihren schmutzigen Öl- und Waffengeschäften, Drogen und Vernichtung von Menschen und Natur. Ich schätze Millionen Opfer, hunderte Millionen.“

Eifrig setzte Sonja hinzu: „Na also! Da hat es jetzt einmal den Richtigen erwischt. Was soll das Geschrei? Bei uns?“

„Kapitalistische Bankiers sind immer Verbrecher“, bestätigte Vati. „Das liegt in der Natur der Dinge. Selbst wenn sie einen Schuldenerlass für die Dritte Welt veranstalten. Dann nur deshalb, weil zahlungsunfähige Staaten ihnen nichts einbringen. Sie verurteilen bei uns lang und breit den Terror“, sprach der Vater weiter. „Der wissenschaftliche Kommunismus lehnt den individuellen Terror auch ab. Nur, so lang und breit das zu bedauern, ist vielleicht übertrieben. Indirekt ist er natürlich ein Massenmörder. So wie der Schleyer damals ein SS-Verbrecher war. Drüben ist es normal, dass sie den Terror gegen die herrschende Klasse beweinen.“

„Und bei uns“, rief Sonja dagegen: „weinen sie dem Herrhausen genauso bittere Tränen nach! Oder noch mehr! Das ist doch sinnlos, absolut!“

Sie lauschte den eigenen Worten nach. „Man musste ihn ja nicht unbedingt töten. Ich würde ihn in einem großen Glaskasten ausstellen mit der Aufschrift: ‚Der Menschheit größten Maden eine’. Da kann er mit seinem BMW im Kreis fahren.“ Die Eltern lachten. „Drachenmade“, sagte Sonja. „Dicke Drachenmade! Es ist traurig, dass der Fahrer verletzt wurde. Aber der muss ja wissen, wen er da fährt. Oder nicht?“–

Dreißig Jahre später liest die Großmutter Sonja, dass das Herrhausen-Attentat nicht der RAF zuzuschreiben ist. Sie liest auch, wie Terrorakte vom kapitalistischen Staat selbst organisiert werden, um rigider zu herrschen, und wie eine Partei mit „linkem“ Etikett deren Vertuschung duldet. Und es überrascht sie nicht. Über dreißig Jahre später verdichten sich auch Hinweise, dass besagter Herrhausen seiner zögerlich bis ablehnenden Haltung wegen gemeuchelt wurde: zum hastigen DDR-Anschluss. Er wollte extra Zeit dafür. Als marode sollte die DDR dargestellt werden. Aber aus einer als marode deklarierten Wirtschaft konnte seine Bank zukünftig schlechter Zinsen saugen.

„Eine dicke Drachenmade“, spricht dann Großmutter Sonja vor sich hin, „war er also trotzdem.“

Mit diesen Worten nimmt sie bereits Abschied von uns.

Und die Maden kriechen und kriechen.

Pro tribunal

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