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1.3. Russlands Weg in die Diktatur

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In Russland braute sich am Beginn des Jahrhunderts eine explosive Mischung zusammen. Der Russisch-Japanische Krieg (1904/05) um Einflusssphären in der Mandschurei und in Korea ging verlustreich verloren – nur ein Hinweis auf die wirtschaftliche und technologische Rückständigkeit des Landes, das im Konzert der großen europäischen Spieler nur mehr eine untergeordnete Rolle spielte. In den Städten hatte sich auf der einen Seite ein Industrieproletariat gebildet, auf der anderen die unzufriedene Schicht einer Intelligenzija. Rezession und soziale Missstände wurden durch Zar Nikolaus II. mit Repression beantwortet. 1905 probte eine bunte Mischung aus Arbeitern, Bauern, Matrosen, aber auch Adeligen und Intellektuellen den Aufstand. Ihren traurigen Höhepunkt fanden die Aufstände am 22. Januar, an dem Soldaten ohne Vorwarnung auf friedlich demonstrierende Arbeiter schossen und 130 Todesopfer liegen blieben. Einen berühmt gewordenen Filmstoff lieferte die Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin (Regie: Sergei Eisenstein; 1925).

Winkler 2009, 1146

1912 spaltete sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in die Anhänger Lenins (Bolschewiki), die dem bewaffneten Aufstand das Wort redeten, und den rechten Flügel (Menschewiki), der eine Reform auf legalem Weg und über Koalitionen mit der kritischen Intelligenz in der Duma anstrebte. Trotz dieser Konstellation und der verbreiteten Proteste resümiert Heinrich Winkler: »Revolutionär aber konnte man die Situation in Rußland am Vorabend des Ersten Weltkrieges nicht nennen: […].« Der Ausbruch dieses Ersten Weltkriegs verschaffte dem Zaren nur kurz Luft, bald machte sich der Unmut wieder breit, was schließlich 1917 die Februarrevolution auslöste, die das zaristische Regime beendete. Aufstände und Meutereien einzelner Truppenteile, angefeuert von Räten der Arbeiter und Soldaten (Sowjets), zwangen Nikolaus II. am 15. März 1917 zur Abdankung. Ein Jahr später wurden er und seine gesamte Familie ermordet.

Unter der Führung Lenins, der am 3. April aus dem Schweizer Exil zurückgekehrt war, errangen die Bolschewiki in wichtigen Städten eine Mehrheit. Das Geld für die politischen Kampagnen stammte aus Bank- und Postwagenüberfällen. Unter dem Schlagwort »Alle Macht den Sowjets« wurde darauf geachtet, die provisorische bürgerliche Regierung nicht Tritt fassen zu lassen. Für Lenin war es eine historische Notwendigkeit, dass der Weg in die »Diktatur des Proletariats und der Bauern« über die bürgerliche Revolution führt. Dieser Weg implizierte eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen, Ziele, für die sich auch viele Vertreter der künstlerischen Avantgarde begeisterten – freilich mit erheblich anderen Vorstellungen über Formen und Methoden, um diese Ziele zu erreichen.

Oktoberrevolution

Die Oktoberrevolution (nach Julianischem Kalender) am 7. November desselben Jahres begründete gegen geringen Widerstand die »Russische Sowjetrepublik« und durch einen Sonderfriedensvertrag mit Deutschland endete für Russland der Krieg im März 1918, ehe er mit der Niederlage der Zentralmächte im November mit weit mehr als zehn Millionen Toten und einem ruinierten Europa zu Ende ging. Verstaatlichungen und Enteignungen von Großgrundbesitz in Russland hatten eine Hungersnot zur Folge, die Ausschaltung der unabhängigen Gerichtsbarkeit und der Pressefreiheit waren die Grundlage einer nun folgenden Diktatur.

Lenin 1920a, 513; im Orig. kursiv

Altrichter Helmut in Kat. 2016d, 36

Lenin 1920b, 307

Der Bürgerkrieg zwischen den Kriegsanhängern auf der einen und den Pazifisten auf der anderen Seite wurde von Lenin mit dem Anspruch einer neuen proletarischen Weltmacht geführt. 1922 wurde ein bolschewistischer Vielvölkerstaat gegründet (»Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken«, UdSSR), erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er durch den Gewinn der Staaten Osteuropas zu einem internationalen Mitspieler. Lenin schwebte eine Industrialisierung nach westlichem Vorbild vor, die er mit den Charakteristiken des Sowjetsystems verbinden wollte: »Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.« Die kurios anmutende Gleichung ergab sich aus der Hoffnung, durch Elektrifizierung des riesigen Bauernstaates gleich »mehrere Entwicklungsstufen zu überspringen und unmittelbar zu einem kommunistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem überzugehen.« Dazu kam eine große Bildungsoffensive gegen den Analphabetismus – durchaus mit Erfolgen. Mit dieser neuen Ideologie wurde die gesamte Kultur als »proletarische Kultur« auf einen instrumentellen Gebrauch für die Staatsideologie verkürzt. Lenin schrieb: »In der Sowjetrepublik der Arbeiter und Bauern muß die gesamte Organisation des Bildungswesens, sowohl auf dem Gebiet der politischen Bildung im allgemeinen als auch auf dem Gebiet der Kunst im besonderen, vom Geist des Klassenkampfes durchdrungen sein, den das Proletariat zur Verwirklichung der Ziele seiner Diktatur führt, […].«

Josef Stalin

1924 starb Lenin. Aus einem heftig geführten Nachfolgeringen ging Josef Stalin als neuer Generalsekretär der Kommunistischen Partei hervor und er sicherte sich seine Macht durch Säuberungen und brutalen Terror gegen Links- und Rechtsabweichler. Mit äußerster Brutalität setzte er neue landwirtschaftliche Produktionsordnungen (Sowchosen und Kolchosen) durch. Es kam zu Verfolgungen, Deportationen und Hinrichtungen missliebiger Personen, darunter auch ganzer ethnischer Gruppen. Schätzungen gehen von bis zu 20 Millionen Ermordeten aus.

Auch die Kunst wurde sehr bald auf die Verherrlichung der neuen Ideologie funktionalisiert. Man erwartete mimetische Kunst, welche heroische Ereignisse, bedeutende Persönlichkeiten und den Sozialismus schlechthin glorifizierte. Entwürfe für Denkmäler waren ein wichtiges Thema, ebenso wie Agitationsplakate und Rednerbühnen. Gehörte man den Schulen der in Russland so kreativen und aktiven Avantgarde an, war das ein Disqualifizierungsmerkmal. Kurze Zeit liefen diktatorische Repression und international anerkannte Avantgarde nebeneinander. 1936 ließ Stalin seiner Wut in einem Artikel in der Prawda freien Lauf, nachdem er Dmitri Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk (1934) gesehen hatte. Der dem russischen Futurismus nahestehende Musiker hatte in dem aufrührerischen Stück eine politische Provokation verpackt. Es handle sich um einen »Anschlag auf den guten Geschmack« und um ein Stück »hässlicher Musik«. Stalins Aufsatz zeigte, dass Künstler, die solches wagten, in Lebensgefahr gerieten und es war ein Wendepunkt der Kultur Russlands, hin zu der anspruchslosen Doktrin des Sozialistischen Realismus. Grundsätzlich war Kunst als Topos des Überbaus eine bloße Widerspiegelung bestehender Produktionsverhältnisse.

Sozialistischer Realismus

zit. nach Klein Wolfgang in ÄGB 5, 180

In den Dreißigerjahren des 20. Jh.s bildete sich der Sozialistische Realismus als die offizielle Kunstpolitik der Sowjetunion und ihrer Satelliten heraus. Es war eine ideologische und dogmatische Doktrin. Im Statut des Verbandes der Sowjetschriftsteller von 1934 heißt es: »Der sozialistische Realismus, der die Hauptmethode der sowjetischen schönen Literatur und Literaturkritik darstellt, fordert vom Künstler wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung. Wahrheitstreue und historische Konkretheit der künstlerischen Darstellung muß mit den Aufgaben der ideologischen Umgestaltung und Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus verbunden werden.« Louis Aragon, der Anhänger des Sozialistischen Realismus, prägte 1935 auf einem Schriftstellerkongress den Ruf retour à la réalité.

Trotzki, zit. HW, 537

Am offensten in der Funktionärsriege stand noch Leo Trotzki der Avantgarde gegenüber. Er war vor allem von den utopischen Ideen der sogenannten Kosmisten beeindruckt, die, ausgehend von der Weltbewusstseinsvorstellung (Noosphäre) des russischen Philosophen Nikolai Fjodorow, vom neuen Staat die Umsetzung der Unsterblichkeit des Menschen und die Besiedelung des Kosmos erwarteten. Sogar eine gewisse Autonomie für die Kunst erkannte er an. »Es stimmt nicht, daß bei uns nur jene Kunst als neu oder revolutionär gilt, die vom Arbeiter redet, und Unsinn ist es, zu glauben, wir forderten von den Dichtern, daß sie unbedingt den Fabrikschornstein oder einen Aufstand gegen das Kapital schildern.« Aber: »Es versteht sich von selbst, daß die neue Kunst organisch gar nicht anders kann, als den Kampf des Proletariats in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit zu rücken.«

Kunstphilosophie und Ästhetik

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