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2.2.5. Surrealismus

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Am Anfang des Surrealismus stand ein einschlägiges Manifest von André Breton, das er 1924 publizierte. Bereits 1919 hatte Breton zusammen mit Louis Aragon und Philippe Soupault die Zeitschrift Littérature ins Leben gerufen. Darin suchten die Autoren, die durch verschiedene philosophische und literarische Positionen (Lautréamont, Valéry, Mallarmé, Rimbaud, Freud, Apollinaire) beeinflusst waren, ihren Standort. Sie lobten das Wunderbare der Romantik und des Symbolismus, verherrlichten die Kindheit als Zeit eines von allen Zwängen freien Individuums und interessierten sich für die Erforschung des Unbewussten (Freud, der Erfinder der Psychoanalyse, konnte mit surrealistischer Kunst indes nichts anfangen). Das Jahr 1924 wurde mit Bretons Manifest das offizielle Gründungsjahr des Surrealismus, einschließlich einer rund um die Uhr geöffneten Geschäftsstelle (Bureau de recherches surréalistes) in Paris.

Breton, zit. HW, 547

Mit ihren Themen, das Traumhafte, das irritierend Rätselhafte, Unwirkliche, Hässliche und Imaginierte, konnten die Surrealisten auf eine lange Ahnenreihe zurückblicken. Schon in der Renaissance gab es Vorlieben für das Phantastische und Rätselhafte. Die gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit sollten – so André Breton – aufgelöst werden, in »einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.« Surrealismus sei ein psychischer Automatismus, »durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.«

Ebd., 548

Benjamin 1929, 307

Walter Benjamin, der sensibel war für die Sprengkraft der Kunst, beließ dem Surrealismus eine avantgardistische Speerspitze, wenn er über die Bewegung schrieb: »Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen, darum kreist der Sürrealismus in allen Büchern und Unternehmen. Das darf er seine eigenste Aufgabe nennen.«

Partsch 2002, 54

Apollinaire, zit. nach Nadeau 1945, 21

Der Name selbst scheint auf den Untertitel der Komödie Guillaume Apollinaires zurückzugehen: Les Mamelles de Tirésias. Drame surrealiste (1917). 1917 hatte Apollinaire den Ausdruck zudem in einem Programmheft bei der Beschreibung des Balletts Parade von Erik Satie verwandt. Und in einem Brief an Paul Dermée im gleichen Jahr argumentierte Apollinaire für den Vorteil des Begriffs Surrealismus gegenüber Surnaturalismus, weil »er noch nicht in den Wörterbüchern« vorkomme und man daher damit »freier umgehen kann«.

Breton, zit. HW, 553

Ursprünglich war der Surrealismus wie der Symbolismus demnach eine literarische Bewegung mit der Ambition, möglichst spontan und ungehindert durch rationales Planen und die Regeln des Überich, gegen den Realismus anzuschreiben. Was die bildende Kunst betrifft, die sich als Umsetzung des Surrealismus eignete, schrieb Breton 1928 eine Abhandlung Le surréalisme et la peinture. In kritischer Distanz zu führenden Künstlern des Impressionismus interessierte ihn die Wende vom äußeren zum inneren Bild, wie er sie in Picassos Kubismus zu erkennen glaubte. Sein Blick richtete sich sozusagen auf die über die Realität hinausweisenden Aspekte in der zeitgenössischen Malerei. Das bildnerische Werk müsse sich »einem rein inneren Vor-Bild zuwenden, oder es wird aufhören, zu sein.«

bildende Kunst

In der bildenden Kunst brachte der Surrealismus zwei Spielarten hervor: eine im Kontext des Gegenständlichen bleibende, verkörpert durch Salvador Dalí, der freilich 1934 aus der Bewegung ausgeschlossen wurde, aber noch bis gegen 1940 als Surrealist ausstellte, Max Ernst oder René Magritte, dessen Thema nicht das Übernatürliche, sondern das Rätselhafte war, und eine abstrakte Spielart, wie sie etwa Joan Miró vertrat. Eine große Karriere hatte der Surrealismus mit Luis Bunuel und Salvador Dalí im Film.

Lautréamont 1870, 206

Nadeau 1945, 48

Max Ernst beschrieb in seinem Jenseits der Malerei eine Seherfahrung, die er an einem regnerischen Tag 1919 machte: »Dort standen Bildelemente nebeneinander, die einander so fremd waren, dass gerade die Sinnlosigkeit dieses Nebeneinanders eine plötzliche Verschärfung der visionären Kräfte in mir verursachte, und eine halluzinierende Folge widersprüchlicher […] Bilder wachgerufen wurde.« Das zeigt die Nähe des Surrealismus zur Dada-Bewegung und klingt wie eine Kommentierung der berühmten und absurden Metapher für die Beschreibung eines jungen Mannes durch den Comte de Lautréamont in seinen Chants de Maldoror (1870): »Er ist schön […] wie die unvermutete Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch!« Lautréamont war für die Surrealisten eine wichtige Figur. »Seinem Werk Ebenbürtiges zu schaffen, ist ihr brennender Wunsch. Und tatsächlich hat keiner so stark den Surrealismus angeregt und befruchtet wie er.«

Ernst, zit. HW, 600

Blumenberg 1957, 57

Matisse, zit. nach Ebd.

An solchen Beispielen zeigt sich die Nähe des Surrealismus zum Dadaismus und dessen Nonsens- und Zufallsproduktion in Literatur und bildender Kunst. Allerdings hatte Breton eine politische Ambition. Die Übereinstimmung von Literatur und Kunst war nicht nahtlos, aber es gab vergleichbare Tendenzen und die bildenden Künstler ließen sich von den Manifesten durchaus inspirieren. Die teilweise vom Dadaismus zum Surrealismus konvertierten Max Ernst, Joan Miró, René Magritte, Salvador Dalí, Giorgio de Chirico, André Masson, Marcel Duchamp reihten sich neben anderen in diese Bewegung. Es ging nicht um einen gemeinsamen Stil, sondern um die einschlägige Interpretation der Themen. Dazu gehörte auch die Kritik an den alten Motiven der Originalität und Kreativität: »[…] das Märchen vom Schöpfertum des Künstlers« habe der Surrealismus mit dem Hinweis auf die »rein passive Rolle des ›Autors‹ im Mechanismus der poetischen Inspiration […]« pariert. Hans Blumenberg interpretierte diesen Protest gegen »den Autor« geradewegs gegenläufig. Er sah bei Breton den eigentlichen Durchbruch der autonomen Künstlerpersönlichkeit (also des Genies ohne Inspiration): »Das Werk bezieht sich nicht hindeutend und präsentierend auf ein anderes, ihm vorgehendes Sein, sondern es ist originär in seinem Seinsanteil an der Welt des Menschen.« Blumenberg zitierte dazu Matisse: »Ein neues Bild ist ein einmaliges Ereignis, eine Geburt, die das Weltbild, wie es der Menschengeist erfaßt, um eine neue Form bereichert.«

Ernst, zit. HW, 601

Nadeau 1945, 49

Originellerweise berief sich Max Ernst in einem Katalogbeitrag Was ist Surrealismus (1934) bei dieser Kritik auf die zeitgenössische Physik. Es geht um die Verwischung von Innen- und Außenwelt, wofür Ernst bei den physikalischen Untersuchungen von Pascual Jordan Bestätigungen zu finden glaubte: »Wenn man also von den Surrealisten sagt, sie seien Maler einer stets wandelbaren Traumwirklichkeit, so darf das nicht etwa heißen, daß sie ihre Träume abmalen […], sondern daß sie sich auf dem physikalisch und psychisch durchaus realen (›surrealen‹), wenn auch noch wenig bestimmten Grenzgebiet von Innen- und Außenwelt frei, kühn und selbstverständlich bewegen […].« Aber auch die Neuinterpretation der Welt durch Heisenberg und Einstein hinterließ Spuren. Die neuen Einsichten der Physik »erzwangen eine neuartige Sehweise, ermutigten zu leidenschaftlichem, erfolgversprechendem Forschen […].« Wer über den Realismus hinausgeht, vollzieht auch einen Bruch mit jeder denkbaren Form der Naturnachahmung und sei sie auch nur eine Selbstproduktion der Kunst selbst. Mit den eben zitierten Worten von Matisse ist jedes Bild eine »Neugeburt«.

Aufklärung oder Antiaufklärung

Ab 1933 gab es keine ausdrückliche surrealistische Zeitschrift mehr, aber man okkupierte gleichsam bestehende Zeitschriften, etwa die luxuriös aufgemachte Minotaure (sie wurde 1939 eingestellt), die den surrealistischen Künstlern eine Bühne bot.

Breton, zit. HW, 544f

Dass nicht alle Benjamins Optimismus von der Avantgardeleistung des Surrealismus teilten, kann nicht überraschen. Der Surrealismus war eine Anklage gegen den Realismus von Thomas von Aquin bis Anatole France und gegen die Herrschaft der Logik: »Unter dem Banner der Zivilisation, unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, alles aus dem Geist zu verbannen, was zu Recht oder Unrecht als Aberglaube, als Hirngespinst gilt, und jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die nicht der gebräuchlichen entspricht.« Demgegenüber sollen die »seltsamen Kräfte« in den »Tiefen unseres Geistes« eingefangen werden. An diesen romantischen Erbstücken der seltsamen Kräfte in den Tiefen des Geistes, also dem Hang zum Mystischen und Theosophischen, entzündete sich viel Kritik. Anstößig, etwa mit Blick auf Freud, dessen Einfluss in der Literatur zwar immer wieder behauptet und verworfen wird, ist, wie Jean Clair spitz bemerkte, dass man einen Freud »à la français« und nicht Freud als Aufklärer rezipierte.

Aragon, zit. nach Nadeau 1945, 160

Die Surrealisten standen politisch links, waren teilweise Mitglieder der KPF, wenngleich die Mitgliedschaft bei der Partei zu internen Spannungen und zum Ausschluss einzelner Mitglieder führte. In den Dreißigerjahren verließ mit Aragon sogar eine Gründerfigur die Bewegung. Er forderte, dass man »den dialektischen Materialismus als die einzige revolutionäre Philosophie anerkennen und diesen Materialismus verstehen und vorbehaltlos übernehmen« möge. Der Kommunismus war ihm letztlich wichtiger als der Surrealismus. Grundsätzlich war man sich aber einig, dass auch die Malerei die Aufgabe hatte, bürgerliches Bewusstsein zu kritisieren. In der Tat waren sie »Empörer, die nicht nur die überlieferten Grundlagen der Dichtkunst, sondern auch, und vor allem, die bestehenden Verhältnisse des Lebens ändern wollen.« In einer Propagandaschrift 1925 hieß es: »Wir sind fest entschlossen, eine Revolution herbeizuführen.«

Nadeau 1945, 73 zit. nach Ebd., 80

1.3.

Streitpunkt blieb stets die Dogmatik und die Nähe der Partei zum Stalinismus. In einer gegenüber 1924 zweiten Version des Gründungsmanifests von Aragon und Soupault fünf Jahre später ging es um die Abgrenzung eines vertretbaren Marxismus gegenüber dem Stalinismus, zu dem die Kommunistische Partei Frankreichs ein unklares Verhältnis hatte. Es findet sich darin eine Nähe zu dem gegenüber Lenin in Fragen der Kunst offeneren Trotzki. Ähnlich wie dieser glaubte auch Breton nicht »an die gegenwärtige Existenzmöglichkeit einer Literatur oder Kunst, die die Bestrebungen der Arbeiterklasse ausdrückte.« Breton, zit. HW, 559

Internationalität

Der Surrealismus wurde über die zahlreichen Vertreter ein gesamteuropäisches Phänomen. 1938 zog die Internationale Ausstellung des Surrealismus in Paris mit siebzig Künstlern aus vierzehn Ländern eine viel beachtete Bilanz. Die Gruppe verlief sich im Zweiten Weltkrieg, auch aus Uneinigkeit darüber, inwieweit man die Ausbreitung des Faschismus politisch bekämpfen sollte. Dali, der mit Francisco Franco und dem Faschismus sympathisierte, versuchte, in Hitler einen surrealistischen Erneuerer zu sehen. Dies führte zum Bruch mit Breton.

Pittura metafisica

De Chirico, zit. HW, 280

Ebd., 82

Eine sich zwischen Symbolismus und Surrealismus etablierende italienische Besonderheit innerhalb der Avantgarde war die Pittura metafisica. 1909 kam der in Griechenland geborene, italienischen Wurzeln entstammende Giorgio de Chirico nach München, dann Paris und ließ sich schließlich in Italien nieder. Vor allem das Erlebnis des Platzes der italienischen Städte scheint ihn tief beeindruckt zu haben. Das beklemmende Gefühl des zeitgenössischen, von ihm zutiefst verabscheuten Krieges (de Chirico war mit seinem Bruder Andrea desertiert) scheint sich als Last über diese Plätze zu legen. Nach dieser Phase entstanden »metaphysische Stillleben«. Die Bilder mit geheimnisvollen Titeln zu klassischen Themen experimentierten mit einer kubistischen Struktur und einem tiefsinnigen Symbolismus. Absurd erscheinende Ensembles von scheinbar widersprüchlichen Motiven, z.B. Gummihandschuhe neben antik-klassischen Porträt-Büsten, führte De Chirico auf die Widersprüche bei Nietzsche zurück. In Il ritorno al mestiere (Die Rückkehr zum Handwerk; 1919) beklagte er mit Vehemenz den Verlust des alten Handwerks und der Zeichnung. »Die göttliche Kunst des Zeichnens bildet die Grundlage einer jeden Komposition; sie ist das Skelett jedes guten Kunstwerkes; sie ist ein göttliches Gesetz, das jeder Künstler befolgen muß.« Eine Gruppe um de Chirico, bestehend aus seinem Bruder Andrea (der sich den Künstlernamen Alberto Savinio zulegte), Carlo Carrà, der sich vom Futurismus entfernt hatte, Giorgio Morandi und Filippo de Pisis, verständigte sich auf ein Programm, das sie in diversen Artikeln und Essays darlegten. Der Ausdruck metafisica bedeutete nach den Proponenten das Suchen nach dem geistigen Gehalt jenseits des Realen. Politisch stand die Bewegung in Widerspruch zu jeder nationalistischen Ausrichtung, war klar der internationalen Avantgarde verpflichtet. De Chirico schrieb: »Was vor allem anderen Not täte: die Kunst von allem Hergebrachten zu entrümpeln, von jedem Sujet, jeder Idee, jedem Gedanken, jedem abgestandenen Symbol.«

Carrà, zit. HW, 277

Und Carrà unterstrich in seinem 1919 erschienenen Buch Pittura metafisica, dass es nicht »um die genaue, objektive Erforschung einer definitiven Form« gehe, sondern »um eine noch kaum skizzierte, einfache und elementare Kunstform.« Die metaphysische Malerei sei »der ununterdrückbare Wunsch, die rein sinnlichen und materialistischen Formen hinter sich zu lassen […].«

Kunstphilosophie und Ästhetik

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