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2.2.10. Marcel Duchamp und das Ready-Made

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Spies 1998, I, 137

Schneckenburger Manfred in Walther 1998, 457

Der 1887 im französischen Blainville geborene Marcel Duchamp hat die Kunstszene mit provokanten Aktionen aufgemischt, die Moderne einer Belastungsprobe ausgesetzt und die Brüchigkeit einer vorschnellen kunstphilosophischen Simplizität aufgezeigt. Aber Duchamp scheint auch für ein großes Missverständnis zu stehen, das Werner Spies so ausgedrückt hat: »Die superbe Geste dieses Verneiners ist heute für viele zum wichtigsten und bedeutendsten Jawort umfunktioniert worden.« Beinahe wortgleich argumentierte Manfred Schneckenburger, indem er die Ready-Mades interpretiert als »subversive Neingesten, die erst von den Nachfolgern in ein vielstimmiges, fasziniertes Ja verfälscht wurden – […].« Das hält die Diskussion um Duchamps Aktionen bis heute am Laufen.

Duchamps Brüder Raymond Duchamp-Villon und Gaston (er trug den Künstlernamen Jacques Villon) waren kubistische Bildhauer und Maler. Von Jugend an widmete sich auch Marcel der Kunst und malte fünfundzwanzig Jahre lang in verschiedenen Stilen, expressionistisch und kubistisch. Seine Bewerbung für die Ecole des Beaux-Arts scheiterte. Trotz dieses Misserfolgs blieb er der Kunst treu. Er war mit verschiedenen Künstlern und Literaten, darunter Guillaume Apollinaire, Francis Picabia, Juan Gris, Max Bergmann, Constantin Brancusi, Fernand Leger, bekannt und Mitglied von Künstlergruppen (Puteaux bzw. der praktisch gleichbedeutenden Section d’Or).

Einen nachhaltigen Einfluss übte auf ihn und seine Kollegen die Industrieästhetik aus, anschaulich erfahren in der Luftfahrtschau 1912 in Paris. Von diesem Ereignis wird der Ausspruch Duchamps überliefert: »Die Malerei ist am Ende.«

zit. nach art 1/99, 20

2.0.

Illies 2012, 49

1912 war auch das Jahr seines berühmten kubistischen (aber eigentlich wohl eher von der zeitgenössischen Bewegungsfotografie beeinflussten) Bildes Akt, eine Treppe hinabsteigend Nr. 2 (Nu descendant un escalier no.2). Die Hängekommission des Salon des Indépendants lehnte das Bild für die Herbstausstellung ab, weil es angeblich den Kubismus verspottete. Das Bild, in dem niemand einen Akt, eher schon die »Explosion einer Schindelfabrik«, erkennen könne, so ein Betrachter, wurde im gleichen Jahr in Barcelona und ein Jahr später auf der Armory Show in New York gezeigt. »Eine Frau, die Raum und Zeit durchschreitet – eine geniale Kombination aus den großen Zeitphänomenen des Kubismus, Futurismus und der Relativitätstheorie. Der Saal mit dem Bild wurde jeden Tag gestürmt […], um nur einen Blick auf das Skandalbild werfen zu können.« Duchamp verhalf es schlagartig zu Berühmtheit. Das Ereignis von heftiger Ablehnung und parallelem Erfolg mit ein und demselben Werk schien für ihn einschneidend gewesen zu sein und war vermutlich Anlass, die Frage nach Kunst und Kunstwerk auszuloten. Denn die Relativität von Erfolg und Misserfolg scheint auf das Genre Kunst zurückzuschlagen.

Spies 1998, I, 147f

Bürger 1989, 207

Spies 1998, I, 149

Im Jahr 1913, in dem er einen Brotberuf als Bibliothekar in Paris aufnahm, entwickelte er ein erstes Ready-Made – noch nicht im strengen Sinn, weil der Künstler immerhin noch eine Gestaltung des Objekts vornahm. Er montierte eine Fahrradgabel mit Rad auf einen Hocker und nannte das Werk Fahrrad-Rad (Roue de bicyclette). Das Original ist verloren, es gibt mehrere Nachbildungen. Dass dieses Ready-Made bereits als Kunstobjekt gedacht war, ist nicht verbürgt. In Gesprächen soll Duchamp genau dies vehement ausgeschlossen und es als bloßen »Zeitvertreib« bezeichnet haben. 1912 hatte Duchamp bei einem Aufenthalt in München Kandinskys Über das Geistige in der Kunst gelesen und sich darüber Aufzeichnungen gemacht, die vor allem die Begriffe Verzicht und Zufall heraushoben. Auch dürfte er den minimalistischen Empirismus Carnaps und des Wiener Kreises gekannt haben. Schon früher hatte er verschiedentlich naturwissenschaftliche Methoden gegen eine Metaphysik der Kunst ausgespielt. Dem Rad folgten 1914 der Flaschentrockner, 1915 eine mit In Advance of the Broken Arm betitelte Schneeschaufel, und schließlich das berühmte Urinoir Fountain von 1917, ein erstes echtes Ready-Made. Spätestens mit diesem Werk, das ebenfalls verschollen ist und in mehreren (von Duchamp autorisierten!) Repliken in verschiedenen Museumssammlungen existiert, ging Duchamp in die Annalen der Kunstgeschichte, aber auch in jene der Kunstphilosophie ein.

Krauss Rosalind in Stemmrich 1995, 479

X.3.2.

Mit diesem Ready-Made wurde in der Rezeption die Idee verbunden, dass Kunst das ist, was ein Künstler auswählt, betitelt und signiert. Denn es ist gar keine Frage, dass in der Rezeption Duchamps Ready-Mades als Kunstwerke gelten. Das Objekt wurde vom Künstler nicht hergestellt, sondern nur ausgesucht. Sein Kunstcharakter liegt allein darin, »diese Wahlentscheidung aufzuzeichnen, sie sozusagen an die physische Welt zu übermitteln. In dieser Interpretation fungiert die Fontaine als ein Ausdruck von Duchamps Intention, ein Werk zu machen.« So gesehen, wäre das Ready-Made ein ideales Beispiel für ein Kunstwerk durch Intention.

Vielleicht hatte Duchamp zunächst schlicht die Absicht, die Ausstellungsgesellschaft zum Offenbarungseid zu zwingen. Er kaufte 1917 bei der Firma J.L. Mott in der Fifth Avenue in New York City ein handelsübliches Urinoir der Marke Bedfordshire. Duchamp drehte es um 180 Grad, betitelte es mit Fountain und signierte mit R. Mutt 1917. Gezeigt werden sollte es schließlich bei einer juryfreien Ausstellung der für genau diesen Zweck gegründeten Société des Artistes Indépendants, bei der Duchamp für die Aufnahmegebühr von einem Dollar Mitglied geworden war. Sein Vorhaben war dazu angetan, alle Konzepte der Kunst der Moderne außer Kraft zu setzen. Sollte das Werk hingegen gegen die erklärte Absicht der Ausstellungsmacher abgelehnt werden, war es um die Freiheit der Kunst geschehen.

Genau die letzte Variante wählten die Kollegen Duchamps, ohne der gestellten Zwickmühle entrinnen zu können. Das Werk entfaltete seine provozierende Kraft, indem es zu heftigen Diskussionen unter den Mitgliedern der Gruppe kam und seine Präsentation schließlich abgelehnt wurde. Die Ausstellung umfasste 2500 Kunstwerke von über 1000 Künstlern, Gespräche und Rezensionen rankten sich jedoch vorwiegend um das nicht gezeigte Werk des anonym gebliebenen R. Mutt, zumal das Werk wenige Tage nach Eröffnung der Ausstellung von dem berühmten Fotografen Alfred Stieglitz in seiner Galerie 291 ausgestellt, dort fotografiert und dieses Foto in der Zeitschrift The Blind Man publiziert wurde.


608 Duchamp, Fountain, Foto von Alfred Stieglitz (1917)

Lüdeking 1994, 361

Danto 1989, 158

Eine Unzahl von Deutungs- und Diskussionssträngen knüpfte seitdem an dieses Ready-Made Duchamps an. In der Tat ist es »der Prototyp dessen, was die Sekundärliteratur liebevoll einen ›frei flottierenden Signifikanten‹ nennt. Allem entrissen und keiner Referenz mehr verpflichtet, steht das ready-made da – bereit, sich mit neuen Bedeutungen zu füllen. […] Sie werden erzeugt durch die Kräfte des intertextuellen Feldes, die das stumme Ding bis ins Innerste durchdringen, um ihm eine neue semantische Identität zu geben.« Nicht nur wurde die Signatur mehrfach gedeutet, zumal mutt im Englischen soviel bedeutet wie Dummkopf, Esel. Es ließ sich aber auch als Abkürzung von Ready-Made lesen oder als Richard Mutt, Richard im Sinne von richart und Einiges mehr. Auch das Werk selbst konnte sich Deutungsambitionen nicht entziehen. Einerseits waren diese traditionell. Demnach wäre dieses Urinoir kein neutraler Gegenstand, sondern evoziere erotische Konnotationen, sei verbunden mit Körperhaftigkeit, indem es der Aufnahme von Körperausscheidungen dient, und assoziiere männliche Exklusivität. Demgegenüber war auch von vaginalen Anspielungen und Bisexualität die Rede. Dass Duchamp das Urinoir als uninteressant beschrieb, ist angesichts der Aufladung eines Objekts aus dem Schnittpunkt von Sexualität und Ausscheidung kaum ernst zu nehmen. Es war geradewegs so, »als würde man ausgerechnet das schmutzigste Verb einer Sprache auswählen, um an seinem Beispiel die Konjugation zu lehren: […].«

Von anderen wurde es in die kunstgeschichtliche Tradition des Kubismus gestellt. Aber auch Erklärungen aus dem Bereich der Kabbala und Esoterik wurden bemüht. Gegenüber diesem traditionellen kontemplativen Zugang gab es einen rein konzeptuellen. Die Dadaisten stürzten sich auf das Ereignis und feierten das Recht des Künstlers, ein Objekt des Alltags zum Kunstwerk zu erklären.

Duchamp, zit. nach Bürger 1989, 210

De Duve 1989, 194f

Bürger 1989, 211

Insbesondere die traditionelle Deutung führt gründlich in die Irre. Es war ausdrücklich nicht die Absicht Duchamps, ein Kunstwerk zu schaffen, sondern bestenfalls die Institution Kunst in Frage zu stellen: »Bitte halten Sie fest, daß ich kein Kunstwerk daraus machen wollte.« Duchamp bezeichnete also sein Ready-Made nicht als Kunst und die Frage, »ob er selbst das Objekt für Kunst gehalten hat, ist irrelevant. Als er jedoch beschloß, mit dem Urinoir an die Öffentlichkeit zu gehen, wandte er sich ganz gezielt an eine Institution des Kunstbetriebs, in deren Rahmen er einen hohen Status innehatte, als sei er ein Niemand, ein Laie.« Diese Intention Duchamps klingt eindeutig, aber es ist auch jenen Recht zu geben, die bei Duchamp, der seinem Alltagsgegenstand einen Titel verlieh und ihn signierte, später Repliken autorisierte und die Verwirrung noch dadurch steigerte, dass er die Ready-Mades serienmäßig herstellte und verkaufte, eine in dieser Hinsicht zumindest unscharfe Haltung ausmachen. »Niemand kann den Betrachter daran hindern, das Urinoir zum Gegenstand einer ästhetischen Kontemplation zu machen, die an dem Objekt eine ungeahnte Bedeutungsfülle entdeckt.« Ein Objekt, das eine Person mit einer Intention in eine Ausstellung oder Galerie stellt, kann sich ganz grundsätzlich einer Deutung nicht entziehen. Trotzdem dürfte es weit fruchtbarer sein, die produktionsästhetische Seite in den Vordergrund zu stellen. Duchamp musste dann auch regelmäßig als Beispiel herhalten für den zeitgenössischen practical turn der Kunst, wo es nicht mehr um die abschließende Erstellung eines Werkes geht, sondern um das doing art.

Rose 1965

Besonders fruchtbar wurde das Ready-Made in der Concept Art und Minimal Art. Dies allerdings nicht in dem Sinne, wie die amerikanische Kunstkritik ursprünglich auf die Ready-Mades reagierte. Dort wurden sie als neue künstlerische Richtung und weniger als Infragestellung der Kunst aufgefasst, weil Amerika nicht in dem Maß über die Benchmark der Avantgarde-Strömungen verfügte wie Europa. Aus solcher Motivation sah Barbara Rose in Duchamp einen Vorläufer der Minimal Art. Aber Duchamp suchte die Grenzen der Kunst, nicht die Begründung einer neuen Strömung der Objektkunst.

5.2.4./X.3.2.

Greenberg 1971, 132

Bürger 1989, 208

Kosuth 1969, 80f

Ebd., 83

Treffender sah Joseph Kosuth die Pointe des Ready-Made in der Tautologie. Die Idee ist mit dem Kunstwerk identisch. Dabei spielt schließlich die materielle Umsetzung keine Rolle mehr. Das Ready-Made diente aus dieser Sicht bloß als Platzhalter, der die traditionelle Kunstauffassung erschüttern sollte. Clement Greenberg hatte an Duchamp bereits kritisiert, dass er jede Arbeit am Material zugunsten einer außerästhetischen Wirkung preisgegeben habe. Greenberg wollte mit dieser Unterscheidung eine klare Trennlinie zwischen Kunst, die Arbeit an der Form und am Material bedeutet, und Nicht-Kunst ziehen. Peter Bürger beantwortete dies mit dem Hinweis, dass damit eher die Pop-Art getroffen sei, die Alltagsgegenstände ausdrücklich zum Kunstwerk erhob, während Duchamps Zustimmung zu solchem Tun ja vage blieb. Und Joseph Kosuth widersprach der vermeintlich überholten Kunstauffassung Greenbergs und verteidigte seine Konzeptkunst-These. Inzwischen habe in der Kunst die Funktion die Morphologie abgelöst. Das Kunstwerk sei kein Objekt mehr, sondern eine Behauptung, die »im Kontext der Kunst das Wesen der Kunst kommentiert.« So interpretiert gibt die Konzeptkunst jeden ästhetischen Diskurs auf, Werturteile beschränken sich auf konzeptuelle und gesellschaftliche Fragen. Es ist die vermutlich prägnanteste zeitgenössische Position, die die Frage nach der Kunst auf eine solche Beurteilungsebene bringt.

Spies 1998, I, 138

Zum anderen Diskussionsstrang, jenem nach der Institution, steuerte 2006 der Aktionskünstler Pierre Pinoncelli während einer Dada-Retrospektive in Paris eine interessante Rezeption bei. Er beschädigte eine ausgestellte Replik der Fountain mit dem Hinweis, das sei seine Antwort auf die Zerstörung des Kunstbegriffs durch Duchamp. Eine solche Reaktion ist in einer weiteren Hinsicht bemerkenswert. Duchamp fertigte in irritierender Weise eine Reihe von Repliken seiner Arbeiten an oder autorisierte solche Kopien. Wohlwollend ist das nicht anders zu deuten, denn als Ironisierung des Originalitätsprinzips. Ausgerechnet der Schöpfer des Alltagsgegenstandes im Kunstbetrieb fetischisiert nun die Reproduktion von etwas per definitionem Un-Originalem. Das ganze Dilemma von Duchamps Ready-Mades liegt darin, was bei der Pop-Art ohnehin offensichtlich ist: Ausgerechnet die Reproduktionen in den verschiedenen Museen der Welt umhüllen sich mit außergewöhnlicher Aura. Oder schlimmer noch: »Pop und Nouveau Réalisme haben Duchamps komplizierte Protestgebilde zu handfesten kommerzialisierbaren Objekten umgeschaffen.«

Paz 1984, II, 411–428

Ebd., 422

1915 ging Duchamp in die USA, kehrte 1919 nach Paris zurück, wo er in der Dadaisten- und Surrealistenszene großen Einfluss ausübte. Er gründete weitere Gesellschaften (Societe Anonyme Inc.), künstlerisch bastelte er Non-Sens-Maschinen und lyrische Parodien auf die Wissenschaftssprache. Der spätere Duchamp ist schwerer zu fassen. Octavio Paz interpretiert ihn von der zeitgenössischen Wissenschaft her, vor allem der Physik und der damals laufenden Diskussion um die vierte Raumdimension. Insbesondere das 1965 entstandene Werk Das große Glas sei eine Hommage an die Physik, ja ein ferner Neuplatonismus. Paz sagt dies, nicht ohne auf den »subversive[n] Geist, die ironische Negation« hinzuweisen. Jedenfalls greift Duchamp das zeitgenössisch beliebte Narrativ von der Geschwindigkeit auf. Am Ende seines Lebens war er ein begehrter Redner, der bemerkenswerte Gedanken für das Verständnis der zeitgenössischen Kunst formulierte wie jenen von der Eingliederung der Betrachterin in den kreativen Akt.

Spies 1998, I,140

De Duve 1989, 194

Duchamp hat mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet wurden. Dies hing letztlich auch mit seiner unklaren und häufig widersprüchlichen Haltung selbst zusammen. Vom Dandytum, über Zerstörung der Kunst, bis hin zu kubistischen Ambitionen reichen die Einschätzungen. Aber vielleicht sollte man von Duchamp nicht primär festhalten, dass sich in Pop-Art und Surrealismus Stilrichtungen formal auf ihn berufen können, sondern – viel abstrakter – dass er der Ausweitung ästhetischer Möglichkeiten im Gestus der Anti-Kunst einem fruchtbaren kunstphilosophischen Diskurs den Weg geebnet hat. Darin wendet sich ein reiner Nihilismus ins Positive und nicht darin, dass die Gegenstände, die er der Kunst entgegenstellte, »über Nacht wieder Nippessachen« wurden. Und schon gar nicht sollte man Duchamp dafür zur Verantwortung ziehen, dass man hinfort jeden Unfug als Kunst bezeichnen dürfe. Allenfalls hat der Duchamp-Diskurs die Moderne weitergebracht, insofern es nämlich gelungen ist, »sämtliche Werte zu dekodieren« und gegenüber Kant eine Trennung eines ästhetischen Urteils von einem des Geschmacks zu formulieren.

Kunstphilosophie und Ästhetik

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