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1.1. Beschleunigung – Produktion – Relativität

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Die ersten Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts passen in ihren Charakterisierungen über weite Strecken noch ins 19. Jh. und waren zum Teil bereits im letzten Abschnitt Gegenstand der Erörterungen. Die Zeit stand seit dem Beginn der Moderne im Bann des Beschleunigungsparadigmas. Geradezu symbolisch verdichtete sich dies in der rasanten Entwicklung der neuen und spektakulären Technologie der Luftfahrt. Von den 160 Metern, die die Gebrüder Wright 1903 vor fünf (!) Zuschauern mit ihrer Flugmaschine zurückgelegt hatten, bis zu einem 1000-Kilometer-Flug in 6000 Meter Höhe 1914 dauerte es gerade ein Jahrzehnt. »Der Erste Weltkrieg konnte ausbrechen: Die Menschen konnten ihre Schlachten in der Luft austragen.« In der Tat wurde der Erste Weltkrieg zum ersten Krieg der modernen Technik am Boden, auf See und in der Luft.

Schnerb 1983, 541

Das Jahrhundert begann mit einer Bevölkerungszunahme in Europa und zugleich mit verstärkter Auswanderung nach Kanada, in die USA und nach Südamerika, vor allem aus England, Irland sowie der iberischen und italienischen Halbinsel, dort wiederum besonders aus dem unterentwickelten Mezzogiorno. Der wirtschaftliche Aufschwung wurde erstmals von einer Expansion des tertiären Sektors getragen.

VIII.3.2.3.2.1.

Daneben lösten moderne Industrien immer mehr die alten Manufakturbetriebe ab: Stahl, Chemie, Elektrotechnik. Der im 19. Jh. geführte Streit zwischen Manufaktur und Industrie, der noch im Bauhaus unterschwellig weiterschwelte, war de facto entschieden. Viele Künstler und Architekten, ob Frank Lloyd Wright, Oscar Niemeyer oder Le Corbusier setzten ganz selbstverständlich und mit großer Neugierde auf die neuen industriellen Techniken und machten diese zur Grundlage der neuen Ästhetik. Der Futurismus schließlich war mit der Verherrlichung des Fortschritts schon ein Nachtreten gegen die rückwärtsgewandten Handarbeits-Anhänger à la Ruskin.

Semper 1860, 112

Die Chemie erschloss der bildenden Kunst und der Architektur ein neues, faszinierendes Material: die breite Palette von Kunststoffen. Bereits im 19. Jh., exakt 1839 wurde von Charles Goodyear die Umwandlung von Kautschuk in Gummi entdeckt (Vulkanisation). Gottfried Semper feierte den neuen Stoff für seine »fast unbegrenzte Wirkungssphäre die Imitation […].« Es folgten Zelluloid und Linoleum, schließlich gelangen Polykondensation, Polymerisation und Polyaddition, Verfahren zur Herstellung hochmolekularer Verbindungen. Das 1907 patentierte Bakelit (nach dem belgischen Chemiker Leo Hendrik Baekeland) war der erste vollsynthetisch industriell hergestellte Kunststoff. Bakelit konnte in jede gewünschte Form gepresst werden, es war ein ideales Material für alle möglichen Gegenstände, die Designer in eine ästhetisch ansprechende Form brachten. Einer der wichtigsten Forscher zur Polymerchemie war der 1953 dafür mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Hermann Staudinger. Die Produktion von Kunststoffen im 20. Jh. explodierte geradezu: Polyvinylchlorid (PVC), Polymethylmethacrylat (Plexiglas), Polyäthylen (PE), Polypropylen (PP), Polyester, faserverstärkte Kunstharze und viele andere mehr. Zusammen mit hochspezialisierten Computerprogrammen sind die Kunststoffe nicht nur für technische Produktion, sondern für bildende Kunst und Architektur nicht mehr wegzudenken.

VIII.3.1.2.

Die Fortschritte der Chemie bildeten auch eine Grundlage für neue Techniken bei Fotografie und Film. John W. Hyatt verbesserte das Zelluloid, das in der Fotografie alle anderen Materialien, darunter die schweren beschichteten Glasplatten, verdrängte und die Grundlage für den Film wurde. Roland Barthes bestritt in Die helle Kammer, dass die Maler an der Wiege der Fotografie standen und meinte dagegen, es seien die Chemiker gewesen. Die Brüder Auguste und Louis Lumière hatten gleichzeitig mit den Deutschen Max und Emil Skladanowsky den Film erfunden. 1895 führten sie zum ersten Mal öffentlich einen Film vor. Georges Méliès synchronisierte Bild und Ton. Frankreich, das noch bis ins 20. Jh. ein landwirtschaftlich geprägtes Land war, übernahm für einige Jahrzehnte in der Filmindustrie die Führung. Erste großindustrielle Fotofirmen entstanden in den USA, darunter Eastman Kodak.

Die Jahrhundertwende und die folgenden Jahrzehnte waren eine große Zeit der Physik. Die Entdeckungen zeichneten sich dadurch aus, dass sie die bisherige Sicht der Natur auf den Kopf stellten. 1895 stieß Wilhelm Conrad Röntgen zufällig auf eine neue Strahlung, die er X-Strahlen nannte. Er wurde mit dieser Entdeckung 1901 der erste Träger des Preises (für Physik) der Nobelstiftung. Davon angeregt fand 1896 Henri Becquerel zusammen mit Marie und Pierre Curie die Radioaktivität. In radioaktiven Zerfallsreihen verändern sich die chemischen Elemente wie in den alten Alchemistenträumen. Albert Einstein setzte mit der Relativitätstheorie und der Äquivalenz von Masse und Energie einen der nachhaltigsten Impulse unserer Sicht auf die Natur. Er beendete damit den Gedanken an Stabilität und Objektivität im Universum. Louis de Broglie formulierte den Welle-Teilchen-Dualismus des Lichtes und der Materie. Grundlage dafür bot unter anderem die Formulierung des Wirkungsquantums durch Max Planck. Es ist der Tatsache geschuldet, dass elektromagnetische Strahlung nur in bestimmten Portionen (Quanten als kleinstmögliche Einheit) emittiert oder absorbiert wird.

Heisenberg 1959, 35

Diese Einsichten führten zur Korrektur des Atommodells von Niels Bohr durch die quantenmechanische Deutung der Natur durch Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger. Sie war nicht nur in der Physik von großem Interesse, es handelte sich um einen philosophischen und weltanschaulichen Umsturz, vergleichbar mit der Wende vom ptolemäischen zum kopernikanischen Weltbild. Werner Heisenberg, auch er wie alle Erwähnten Nobelpreisträger für Physik (Marie Curie erhielt nach ihrem Physikpreis 1903 auch noch den Nobelpreis für Chemie 1911), brachte das neue Paradigma auf den Punkt: »Das ist allerdings ein sehr merkwürdiges Resultat, das zu zeigen scheint, daß die Beobachtung eine entscheidende Rolle bei dem Vorgang [gemeint ist das Doppelspaltexperiment; BB] spielt und daß die Wirklichkeit verschieden ist, je nachdem, ob wir sie beobachten oder nicht.« Diese Bemerkung zeigt eindrucksvoll, wie sehr der moderne Blick auf die Natur letztlich von den Regeln der transzendentalen Subjektphilosophie im Sinne Kants geprägt ist. Der philosophisch ambitionierte Heisenberg legte, ähnlich wie sein Gesprächspartner Carl Friedrich von Weizsäcker, eine eindrucksvolle Platon-Deutung vor. Mit dem Platonismus grundierte er nicht nur die Unschärferelation und die Bedeutung der Wahrscheinlichkeit, sondern auch die enorme Wichtigkeit der Symmetriegesetze in der modernen Physik.

Das Paradigma der Relativität war bereits im 19. Jh. in den Künsten aufgenommen worden, vor allem in der zeitgenössischen Musik. Es ging um die Auflösung der alten Harmoniegesetze durch die Gleichschaltung der zwölf Töne. Das glich einer Revolution in der Vorstellung von Schönheit.

VIII.2.2.1.

Le Corbusier 1923, 108

Auf dem Energiesektor trat ein nachhaltiger Wandel ein. Der Energieträger schlechthin war das Öl geworden, Diesel- und Benzinmotoren lösten die Dampfmaschine ab. Große Fortschritte in der Industrietechnologie, Verfahrens-, Elektro- und Verkehrstechnik steigerten die Produktivität. 1923 brachte Le Corbusier diese Zeilen zu Papier: »Alle Autos sind im wesentlichen gleich angelegt. Durch den rastlosen Konkurrenzkampf der unzähligen Autofirmen ist jede einzelne von ihnen verpflichtet, den Wettbewerb gewinnen zu wollen. So ist zur bestehenden Standardlösung das Streben nach Perfektion, nach einer über den rohen praktischen Gesichtspunkt hinausgehenden Harmonie getreten, was nicht nur Perfektion und Harmonie, sondern Schönheit bewirkt hat.«

VIII.2.2.1.

Die Erfindung des Fließbandes 1913 durch Henry Ford wurde bereits erwähnt. Das Fließband faszinierte nicht zuletzt die europäischen Architekten der Moderne als Symbol der Effizienz amerikanischer Organisationsformen. Die Serienproduktion mit genormten Einheitsgrößen begann. Wie schon im letzten Abschnitt erwähnt, wurde der Mensch für die Produktion von Kleidung nach Konfektionsgrößen vermessen.

Klotz 1994, 109

Die wirtschaftliche Dynamik der ersten Jahrzehnte schob die Architekturszene kräftig an. Eklektizismus und Historismus wichen einer neuen Sprache der Architektur. Sie basierte auf der Verwendung neuer Materialien, in erster Linie Glas und Stahlbeton. Glas ermöglichte die Befriedigung des Wunsches nach Licht, Transparenz und Hygiene, mit Stahlbeton konnte man die »Schachtelform« des Hauses auflösen, freie Grundrisse schaffen und Wand- durch Glasflächen ersetzen sowie neue, organische Formen realisieren. »Die große Reinigung, die Reduktion der Formen, war Bedeutung genug, war das inhaltsschwere Pathos der Avantgarde.« Ein erster Glaskubus als Fabrikgebäude für die Firma Steiff bei Ulm läutete etliche Innovationen im Glasbau ein. Bruno Taut brillierte 1914 bei der Kölner Ausstellung des Deutschen Werkbundes mit einem Pavillon mit Glasdach zum letzten Mal, ehe die Katastrophe des Krieges diesen Aufschwung erstickte und Europas Entwicklung um Jahre zurückwarf.

Kam es bereits im 19. Jh. zum Verlust eines flächendeckenden Stils, ist das 20. Jh. von einer völligen Fragmentierung der literarischen und künstlerischen Ansätze geprägt. Die Liste ist uferlos und die Strömungen der Neoromantik, des Realismus, Futurismus, Impressionismus, Expressionismus, Kubismus, Naturalismus, Symbolismus und andere mehr werden im Folgenden komprimiert dargestellt.

6.1.

Der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener war der Pionier der neuen interdisziplinären Wissenschaft der Kybernetik und löste damit Angst auf der einen und Visionen und Utopien anregende Phantasien auf der anderen Seite über die sich selbst steuernden Maschinen aus. Die Kybernetik wurde zur Grundlagenwissenschaft der die industrielle Produktion revolutionierenden Roboter-Technologie und der Computer-Technik. In der zweiten Jahrhunderthälfte bildete diese Entwicklung unter anderem Titel die Grundlage der Gegenwartsarchitektur.

Ähnlich wie es im Römischen Reich einen Hunger nach der Kunst der griechischen Welt gab, begannen sich interessierte Schichten in der Neuen Welt für die Kunsttradition Europas, darunter vor allem die zeitgenössische Kunst, zu begeistern. Das machte das 20. Jh. zu einem ersten Jahrhundert eines entstehenden weltweiten Kunstmarkts und einer Event-Kultur. Galerien, die wie Firmen agieren und weltweit Filialen unterhalten, Biennalen (seit 1895 jene von Venedig) und Triennalen lancieren mittlerweile einen Hype der zeitgenössischen Kunst. Kunsthändler, -sammler und Kunstkritiker spielen eine immer wichtiger werdende Rolle für die Entwicklung und Bewertung der Kunst. Dazu kommt die neue Dimension der Selbstvermarktung von Künstlern.

Kunstphilosophie und Ästhetik

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