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Vom gemeinsamen Kulturraum zur nationalen Grenze

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Eine häufig bereiste Route von Deutschland nach Frankreich verlief durch Württemberg und Baden nach Kehl am Rhein, wo die Grenze überquert wurde, bevor die Passagiere ihre Reise in Frankreich fortsetzten. Die erste Station war in der Regel Straßburg, bevor die weitere Reise in den meisten Fällen durch Elsass und Lothringen nach Paris führte.

Eine der vielen Reisenden, die den Weg über Straßburg nach Paris einschlugen, war die Schriftstellerin Sophie La Roche. Über ihre Reise im Jahr 1785 berichtet sie in der typischen Weise eines Reiseberichts aus dem späten 18. Jahrhundert kurz vor Kehl von ärmlichen Dörfern und schmutzigen Wirtsstuben auf deutscher Seite. Der eigentliche Moment der Grenzüberquerung, des Überschreitens des Rheins und der Moment des Ankommens in Frankreich hingegen wird nicht erwähnt. In dem sonst so detaillierten Bericht findet sich kein Hinweis auf eine deutsch-französische Grenze oder Grenzerfahrung. Eine nationale Grenze, die Frankreich von Deutschland schied, existierte für La Roche nicht. Erst in Lothringen meinte sie, sich „nun dem eigentlichen älteren französischen Staat“ zu nähern.6 Statt einer linearen Grenze beschrieb sie einen breiten Grenzraum deutsch-französischer Kultur, in dem sich erst allmählich die Spuren deutscher Sprache verloren, die noch im Elsass vorherrschte.

Ähnlich verhielt es sich auch bei anderen Frankreichbesuchern. Der „erste beträchtliche Ort im eigentlichen Frankreich“ war in den Augen des Karlsruher Gymnasiallehrers Heinrich Sander Saint-Dizier in der Champagne.7 Die Städte Lunéville und Nancy zeichneten sich in seiner Wahrnehmung durch eine gemischte deutsch-französische Kultur aus, in der Sprache, Sitten, Architektur und Kleidung der Bevölkerung sich nur sukzessive wandelten und eher regional denn national voneinander zu unterscheiden waren.

Der aus Gotha stammende Arzt Johann Friedrich Carl Grimm erwähnt in seinem Bericht zwar kurz die „französische Wache“ und die Passangelegenheiten am Grenzübergang am Rhein.8 Doch auch für ihn unterschied sich auf französischer Seite vorerst nur wenig von der östlichen Seite des Rheins. „Die Dörfer“, so Grimm, „haben nichts unterscheidendes von denen, die an dem östlichen Ufer des Rheins liegen.“9

Detailliert und in einer Art proto-ethnographischer Manier beschrieb er den langsamen regionalen Wandel innerhalb des deutsch-französischen Grenzraumes. Merkmale des kulturellen Wandels betrafen in der Wahrnehmung des Fremden das Aussehen der Dörfer, Sprache, Dialekt, Kleidung sowie Wohn- und Esskultur. Erst im Übergang vom Elsass nach Lothringen würden die „Sitten […] schon ziemlich französisch. Doch spricht man ein französisch, das einem Fremden verständlich und besser ist, als Barois.“ (Dialekt aus der lothringischen Stadt Bar-le-Duc.) Zu den Merkmalen des Wandels zählte in den Augen Grimms auch die soziale Situation der ländlichen Bevölkerung beziehungsweise die zunehmende „Dürftigkeit unter den Einwohnern“.10

Die Reiseberichte können als charakteristisch für das späte 18. Jahrhundert gelten. Die Reisenden beobachteten genau, sie beschrieben regionale Wandlungen entlang verschiedener kultureller Merkmale. Von Interesse ist in den Reiseberichten der Zeit, die Rückschlüsse auf die gegenseitige Wahrnehmung der beiden Nachbarn erlauben, jedoch nicht nur das, was beschrieben wird, sondern ebenso das, was nicht beschrieben wird. Was die Reisenden bis zur Revolution nicht beschrieben, war eine klar definierte, lineare, nationale Grenze gegenüber Frankreich. Die Frage nach der eigenen Nation und deren Grenzen stellte sich, trotz eines existierenden und ins 17. Jahrhundert zurückreichenden Reichspatriotismus, bis zum Ausbruch der Revolution nicht, allenfalls sehr begrenzt.11

Der aus Hamburg stammende Kaufmann Johann Daniel Mutzenbecher folgte 1819 auf seiner Reise nach Südfrankreich ebenfalls der Route über Baden durch das Elsass. Bei Kehl am Rhein notierte er: „Da stand ich nun an der Gränze meines Vaterlandes, das Alles einschloß, was mir lieb und theuer auf Erden war, und sah zum ersten Male in meinem Leben den Rhein, nach dessen Ufern jedes Deutsche Herz sich sehnet, pfeilschnell in seinen meergrünen Wogen vorübereilen, und schaute hinüber in das Land, dessen Bewohner, in Sitte und Gesinnung so sehr von uns abweichend, wir wohl fürchten, aber nicht lieben gelernt hatten, bis die Nemesis ihre Schaaren ereilet und uns ermuthigt hatte, mit dem Racheschwerdt sie hinauszutreiben aus den heimischen Gauen, und zu bannen auf den eigenen Boden, den wahrlich Gott so schön ausstattete für so große moralische Verderbtheit, die auf ihm fortbeständig wuchert.“12

Die Wahrnehmung der deutsch-französischen Grenze in der Zeit nach 1815 unterschied sich deutlich von der vor 1789. Was der Hamburger Kaufmann ausführlich über mehrere Seiten beschreibt, ist nicht mehr das räumliche Kontinuum gradueller Abstufungen und regionaler Differenzen, wie es noch von Sophie La Roche am Vorabend der Revolution beschrieben wurde. Vielmehr ist hier ein Reisender mit einer linearen, nationalen Grenze konfrontiert, die das eigene „Vaterland“ eingrenzt und dieses von einem fremden Land, einer anderen Nation abgrenzt. Der Rhein tritt um 1815 als identitätstiftende Metapher für etwas als deutsch Empfundenes – das „Deutsche Herz“, das sich nach den Ufern des Rheins „sehnt“ – hervor.13 Die Fremde hing mit der nur wenige Jahre zurückliegenden Epoche der französischen Besatzung und den napoleonischen Kriegen zusammen. Dieses politisch-militärische Moment, das diese Erfahrung einer nationalen Grenze prägte, wird auch in anderen Passagen der Beschreibung des Augenblicks der Grenzüberschreitung deutlich sichtbar, in denen Mutzenbecher von „Schmach“, „Rache“, „Racheschwerdt“ oder dem sentimental aufgeladenen Verlassen der „Heimath“ und des „Deutschen Bodens“ schrieb.14

Zwei Zeiten: kurz vor 1789 und kurz nach 1815; derselbe Ort: Kehl am Rhein; zwei sehr unterschiedliche Modi der Wahrnehmung und Beschreibung. Für die Zeitspanne zwischen dem Beginn der Revolution und dem Ende der Ära Napoleons lässt sich für die deutsche Perspektive auf Frankreich, insbesondere hinsichtlich der Wahrnehmung von Grenzen festhalten, dass ein Prozess stattgefunden hat, der sich als Eingrenzung der Nation beschreiben lässt.

Dieser Wandel war primär ein mentaler, denn der beschriebene Ort, Kehl am Rhein, dürfte sich in der Zeitspanne von zweieinhalb Jahrzehnten kaum in dieser Form gewandelt haben. Die Geschichte der Wahrnehmung des Fremden und die Topographie der Landschaft zwischen Baden, Elsass und Lothringen, stehen somit in Spannung zueinander. Bei der Eingrenzung der Nation spielten ohne Frage die seit dem Frühjahr 1792 andauernden Revolutionskriege, die nahtlos in die napoleonischen Kriege übergingen, eine entscheidende Rolle. Dennoch bleibt zu fragen, wann genau und anhand welcher Ereignisse der Umschwung zwischen etwa 1789 und 1815 zu datieren ist.

Spätestens mit der Kriegserklärung Frankreichs an Österreich am 20. April 1792 und den noch im Frühjahr desselben Jahres begonnenen Kriegshandlungen war die Revolution keine innere, rein französische Angelegenheit mehr. Gemäß seinen Abkommen trat Preußen an die Seite Österreichs, und zunächst errangen die preußisch-österreichischen Truppen gegen die noch schlecht gerüstete und vielfach improvisierte französische Armee Siege und standen im Sommer 1792 auf französischem Boden. Bereits im September 1792 zeichnete sich jedoch in der Schlacht in Valmy erstmals eine Wende ab. Tatsächlich gingen die französischen Truppen im Herbst in die Offensive über, die österreichischen Niederlande wurden besetzt, und General Custine nahm mit seiner Armee im Oktober Speyer und kurz darauf Mainz ein. Mit den linksrheinischen Gebieten, namentlich der Kurpfalz und dem Erzbistum Trier, waren erstmals Gebiete des Heiligen Römischen Reiches von französischen Truppen besetzt worden.15

Im Kontext dieser ersten militärischen Auseinandersetzungen stellte sich für die Pariser Revolutionäre die Frage nach den Grenzen Frankreichs, das sich im September 1792 zur Republik erklärte. Bezug nehmend auf die Idee der natürlichen Grenzen Frankreichs schrieb Jacques Brissot, Wortführer der Girondisten im Konvent, an General Dumouriez: „Die französische Republik darf nur den Rhein als Grenze haben.“ Lazare Carnot, Mitglied des Wohlfahrtsausschusses und dort Spezialist für militärische Fragen, nahm hinsichtlich der annektierten Gebiete ebenfalls explizit Bezug auf die Geographie: „Die überkommenen und natürlichen Grenzen Frankreichs sind der Rhein, die Alpen und die Pyrenäen; die davon abgetrennten Teile sind usurpiert worden.“16

Mit dem vorläufigen Gewinn der deutschen Territorien links des Rheins stellte sich erstmals die Frage, wie mit den annektierten Gebieten zu verfahren sei. Dabei wurde zunächst die Schaffung von „Schwesterrepubliken“ favorisiert, eine Option, die unter einer Minderheit der deutschen Anhänger der Revolution begrüßt wurde. Unmittelbar ließen sich diese Pläne jedoch nicht realisieren, da die besetzten Gebiete im Frühjahr 1793 vorerst von den französischen Truppen wieder geräumt werden mussten, nachdem preußische Truppen Mainz zurückerobert hatten.

Für Frankreich ging es seit dem Ausbruch der Revolution und erst recht seit dem Beginn des Krieges zunächst darum, die Nation, die die Truppen Kellermanns mit ihrem „Vive la nation!“ nach außen trugen, nach innen zu sichern. Der Prozess der Sicherung und zugleich der Definition der eigenen Nation vollzog sich auf mehreren Ebenen. In sozialer Hinsicht war es der Abbé Sieyès, der in seiner Schrift „Qu’est-ce que le Tiers État?“ („Was ist der Dritte Stand?“) von 1789 die Nation als den Dritten Stand beziehungsweise den Dritten Stand zur Nation deklarierte und sich damit gegen die traditionelle aristokratische Ordnung stellte. Auf der Ebene der Verfassung erklärte die Konstitution des Jahres 1791 Frankreich zu einem einheitlichen und unteilbaren Königreich und einer Nation der Staatsbürger, die dieselben Rechte genossen.17

Das Territorium dieser Nation wurde auf administrativer Ebene in 83 départements eingeteilt, die die traditionellen généralités und gouvernements ablösten.18 Die Revolution musste im Innern gegen Aufstände verteidigt werden, die teils traditioneller, teils konterrevolutionärer Art waren. Nach innen wurde die Nation durch eine neue Symbolik geschaffen, zum Beispiel durch die fête de la fédération, die erstmals 1790 am Jahrestag des Sturms auf die Bastille begangen wurde. Mit dem Panthéon wurde ein nationales Symbol geschaffen, das den großen Männern des Vaterlandes, „Aux grands hommes, la Patrie reconnaissante“, so die Inschrift von 1791, gewidmet wurde. Die Güter emigrierter Adliger und der Kirche wurden „nationalisiert“. In der Praxis bedeutete dies Enteignung, Konfiskation und Wiederverkauf der sogenannten bien nationaux.19

Die genannten Punkte verdeutlichen, wie sehr der Begriff der „Nation“ im Diskurs der ersten Jahre der Revolution verankert war. Alle Aspekte trugen dazu bei, dass Frankreich durch die Revolution von einem Ständestaat zu einer Staatsnation transformiert wurde.

Weder die frühen Kriegsjahre mit den ersten Eroberungen deutscher Territorien durch die französischen Armeen in den Jahren 1792/93, die mit den innerfranzösischen Debatten um die „natürlichen Grenzen“ einhergingen, noch die umfangreichen Diskussionen um die Nation in Frankreich stießen in Deutschland auf ein Echo, das unmittelbar zu einer Gegenreaktion und Diskussion um die eigene, möglicherweise als bedroht wahrgenommene Nation geführt hätte. Zwar berichteten deutsche Zeitschriften und Augenzeugen vor Ort detailliert von den Vorgängen, den politischen Ereignissen oder den Debatten in den Pariser Klubs.20 Berichtet wurde auch von den Diskussionen in der Nationalversammlung, und Konrad Engelbert Oelsner reiste als Korrespondent für die „Minerva“ im Herbst 1792 sogar dem Kriegsgeschehen hinterher.21 Aber weder die Zeitschriften noch die Berichte der deutschen Revolutionsreisenden nahmen Anstoß daran, dass deutsche Gebiete von französischen Truppen erobert wurden. Wahrgenommen wurde dieser vorläufige Gebietsverlust eher als Teil einer traditionellen Kabinetts- und Mächtepolitik, in der Territorien zwangsläufig in Folge von kriegerischen Auseinandersetzungen von einer Herrschaft zur anderen wechselten.

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