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9. Szene: UnMittelbar

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Da musste ich an Chruszchow denken. Der meinem Henker davonlaufen wollte. Zu sechst haben sie ihn holen müssen. Ein brutaler Typ war das, riesig und gewalttätig, ein Bild von einem Mörder. Hat mir immer erzählt, wie er sie umgebracht hat. Wahllos, egal, ob Frauen oder Männer. Hauptsache, sie waren allein unterwegs, irgendwo am Rande der Stadt, oder sogar in der Stadt. Wichtig war für Chruszchow, dass sie die Regel lernten. Die einzige Regel, die zählt: »Sei das Leben«, sagte er immer, »sei es! JETZT, HIER, so wie es ist. Das Leben als Distanz zum Tod, als ganz und gar MITTELBAR.« Denn UN-mittelbar ist nur der Tod. Er ist die einzige, wirkliche Grenze, von der wir ganz weit weg sein wollen, immer weiter, weiter, weiter. Bloß weg, und doch nie wissend, ob ihr Verlauf nicht irgendwo eine verborgene Krümmung hat und man sie plötzlich, nichts ahnend, vielleicht sogar unbemerkt, überschreitet.

Es war ihm zuwider, dass die Menschen, statt sich immer und immer wieder auf die unmittelbare Grenze zu konzentrieren, den Distanz schaffenden Dingen einen unnützen Sinn gaben. Das Auto, das Haus, der Arbeitsplatz. Nur um ein paar zusätzliche Zentimeter Leben hinzulegen, die doch immer gleich wieder zerrannen. Nicht ein Deut mehr ist das Leben gewonnen durch diese gleich wieder verlorenen Gewinne. Falsche Siege gegen die unsichtbare Grenze, deren Nachrücken zu vergessen von Chruszchow, dem Lehrer des Lebens, bestraft wurde.

Dazu ist er die Person seiner Wahl einfach ANGEGANGEN. Drauflos, angerempelt, bedrängt, die Person mag anfangs noch geschimpft haben, sich gewehrt oder mit der Polizei gedroht, doch schnell schlug die Empörung in Angst um.

Chruszchow war nicht dumm, aber wenn er sein Opfer so weit hatte, dann wurde er selbst KOPFLOS, war nur noch selbst der Tod auf zwei Beinen: groß, kräftig, massig, ein Riese in einem dunkelgrauen Wollmantel. So ist er auf sie los. Und als die Angst kam, kam auch das Leben zurück. Sie flohen vor ihm. Und dann war ER diese Grenze, plötzlich endlich sichtbar, endlich messbar, die ständig verborgen gewesene Distanz. Chruszchow folgte ihnen. Ins nächste Kaufhaus, durch das Kaufhaus hindurch, wieder hinaus, weiter, ins nächste Kaufhaus, die Leute hatten schnell das überflüssige Denken aufgegeben, das Nach-Denken, denn es ging nur noch um die Distanz, weg und weiter, weg und weiter. Und Chruszchow Ist einfach hinterhergegangen, nicht nötig, zu rennen, nur schnellen Schrittes: tak-tak-tak-tak-tak ...

Die Leute aber rannten, kopfloser als er, hasteten davon und hatten bald einen großen Abstand zu ihm. Aber er gab nicht auf, wurde auch nicht schneller, ging einfach stoisch und zügig hinterher. Und achtete darauf, von Anfang an, dass die Distanz messbar blieb, dass der Auserwählte nicht das endlich erlangte Bewusstsein vom Leben wieder verlieren würde. Und trieb sie immer in die richtige Richtung: in den Wald, in einsame Straßen, leere Industriegebiete. Keiner fragte mehr nach dem Sinn oder einer besseren Strategie. Manchmal wähnten sie sich in Sicherheit, haben dann die Flucht gestoppt, froh, nichts mehr messen zu können, froh zurücksinken zu dürfen - doch schon tauchte er wieder auf.

Hast du erst einmal Distanz aufgebaut, musst du jeden Zentimeter bewirtschaften. Die Karosserie, die Wände, die Fürsorge deiner Lieben; alles was dir den Tod vom Leib hält, kostet. Durchatmen geht nicht. Schon ist er wieder da. Der Chef, der dir kündigt, der Gerichtsvollzieher, der Scheidungsanwalt. Nicht anhalten, weiter, immer weiter, weg vom Tod, der hinter all dem lauert. Pyrrhussiege. Denn das falsche Leben unterschätzt den Tod. Irgendwann kannst Du nicht anders und willst INNEHALTEN. Und dann ist er da. Immer, für jeden, irgendwann.

So auch Chruszchow. Ein kopfloser Tod auf zwei Beinen. Nach langen, lebendigen Stunden, wenn die Leute nur noch Angst und Erschöpfung waren, keuchend, flennend, winselnd, dann holte er sie ein. Selbst in diesen letzten Momenten änderte er sein Tempo nicht. Tak-tak-tak-tak-tak lief er auf sie zu und machte sie tot.

>>> Kommentar der Putzfrau: »Angst? Ein warmes Zuhause, zu essen und zu trinken, ein Klo, ein Bett, sogar die Geselligkeit der Nachbarzellen ...«

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