Читать книгу Geschichten aus der Todeszelle - DERHANK - Страница 9

3. Szene: Inspektion

Оглавление

Heute ist Inspektion. Vertreter der Verwaltung wollen sich vom Zustand der Anlage überzeugen. An Tagen wie diesen sind die Gänge zwischen den Zellen voller Menschen. Sie bilden dichte Trauben um die Referenten, Gutachter und Berater, die sich wiederum um die Funktionäre drängen. Wegen der vorgeschriebenen Sauberkeit tragen sie alle weiße Gummihandschuhe, weiße Kittel, weiße Hauben und weiße, knautschige Überzieher an den Schuhen. An den Zellen diskutieren die Inspekteure miteinander und lassen sich über jeden Insassen aufklären, sprechen über die Tat, das Motiv der Tat, die Ursache des Motivs und die Entstehung der Ursache, bis sie das ganze Leben erfasst haben, auf dem die Tat wie die Spitze einer Pyramide thront.

Das ganze Volk ist da. Ein in den Ohren flirrendes Tuscheln, Flüstern und Kichern hallt von den hohen Gewölben wider. Und weil es so voll ist, können nur die wenigsten verstehen, was im Zentrum der Menge gesprochen wird. Darum bilden sich auch an anderen Stellen leise Gesprächszirkel, beflissen, ernsthaft, und alle wollen die tausend Augen der Behörde sein. Aber da sind auch die, die den Grund ihres Kommens vergessen haben. Sie sind stumm oder flüstern in hilfloser Ehrfurcht mit ihren Nachbarn.

Sehnsüchtig warte ich darauf, dass ich an die Reihe komme. Denn nur den Wichtigsten will ich mich öffnen. Die Vorstellung, vor ihnen bloß zu liegen, ist Scham und Lust zugleich. Während ich warte, schauen manche andere zu mir herein. Ihre Blicke sind seltsam strafend, obwohl sie doch kein Recht haben, meine Tat zu beurteilen. Doch es kann auch Neid sein, weil sie sich unbedeutend fühlen beim Anblick des Todes. Ihre Augen springen hin und her, vom Bett auf die Toilettenschüssel und von da auf den Tisch mit den Früchten, und es scheint, dass sie selbst den Anblick der Früchte nicht ertragen. Manche zeigen mit dem Finger auf mich und sehen sich wichtigtuerisch um. Ich sitze auf dem Bett und versuche beiläufig zu wirken. Ich lese in einer Zeitschrift und scheine sie nicht zu bemerken.

Das Warten dauert Stunden. Ich stehe auf und gehe unter den Blicken einer kleinen grauen Frau zur Obstschale. Auf ihrem papierglatten Gesicht kleben dünne Sommersprossen und ihre Augen sind in den Gläsern einer randlosen Brille zu winzigen, schwarzen Punkten zusammengeschrumpft. Ich spüre den stechenden Druck dieser Augen, auch wenn ich nicht hinsehe. Erst als ich einen Apfel greife, wird mir bewusst, dass ich sie nicht fürchten muss; die Gittertür ist verschlossen. Ich schaue hoch und sehe, wie sie von der in Bewegung geratenen Menschenmenge weggedrängt wird. Doch sie verzieht noch ihre fein geschminkten Lippen und zeigt mir die gebleckten Zähne, auf denen ein Tee- oder Kaffeeschleier liegt. Nein, sie lacht nicht, sondern sie spuckt in meine Richtung, was sie wohl nie geübt hat, denn aus ihrem Schlitzmund sprühen viele kleine Tropfen, die hineinregnen und den Boden befeuchten. Auch das Obst und sogar mein Apfel werden nass.

Ich lecke an ihrem Speichel und schäme mich dafür.

Als endlich, am späten Abend, die Inspektion bei mir ist, verberge ich mich noch immer unter meiner Decke - mit diesem Apfel, der nach ihr riecht. Ein Mann sitzt an der Bettkante, streichelt mir beruhigend über den Kopf und redet sanft auf mich ein. Doch ich weigere mich, ihm zu antworten. Als ich schließlich hervorkrieche, sehe ich: Es ist mein Henker, der mich präsentieren soll.

>>> Kommentar der Putzfrau: »Heute lag der unterm Bett, wie tot, ehrlich! Aber mich fragt ja keiner.«

Geschichten aus der Todeszelle

Подняться наверх