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1. Szene: Unten da

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Ein Priester weckte mich. Er trug einen altmodischen schwarzen Talar mit weißem Kragen. Ein Holzkreuz leuchtete im Schein seiner Taschenlampe auf der wallenden Brust und den Kopf bedeckte ein flacher, breitkrempiger Hut, der über die Schattenlinien seiner Wimpern mit den Augen verbunden war. Die verbargen sich hinter slawisch hohen Wangen, einer schmalen, kurzen Nase und geschwungenen Lippen. Er war ein insgesamt großer, aber weicher Typ, dessen Warmherzigkeit durch die glanzlose Schwärze seiner Pupillen etwas Endgültiges bekam.

»Komm jetzt!«, flüsterte er, »Es ist Zeit für deine Registrierung.«

»Registrierung?« Ich war noch benommen, schlaftrunken.

»Die konfessionelle Registrierung! Du bist an der Reihe.«

»Ich bin nicht konfessionell ...«

»Das spielt keine Rolle. Es liegt auch nicht in deiner Hand. Du hast mit deiner Tat etwas erreicht, das dich zwar nicht über die anderen erhebt, das es dir aber erlaubt, dich über ihnen zu fühlen. Das genügt für die Registrierung.«

»Nichts erhebt mich!« War das ein Verrückter? Brachte er mich zu meinem Henker?! Es war doch noch nicht an der Zeit? Ich hätte das wissen müssen ... Nein, heute war nicht mein Termin! Kein Gott, vor den ich treten musste.

»Ich fühle mich nicht so, wie du denkst. Nichts erhebt mich über die anderen. Ich bin ein Häftling. Einer, der bald an der Reihe ist. Ich brauche keine Registrierung.«

»Und da ist nichts, das dich zu etwas Besonderem macht? In deiner einzigartigen Situation? Du bist ein Erwählter von Tausenden und du denkst, da wäre nichts, das dich erhebt? Narr! Und jetzt komm!«

Der Priester blieb unnachgiebig. Und hatte er nicht recht? Mein Ärger löste sich auf, denn ich fühlte mich ja tatsächlich nicht nur als Häftling gegen die gewöhnlichen Häftlinge, sondern auch dem Leben gegenüber privilegiert. Nur hätte ich nie gedacht, dass mich schon dieses Gefühl der Kirche verpflichtete.

Wir verließen meine Zelle und gingen leise über den von Notlichtern kaum erhellten Gang. Hinter den Gittern der Anderen hörte ich ihr Schnarchen und das unverständliche Murmeln ihrer Träume. Ein schläfriger Wachmann öffnete uns eine schwere Eisentüre und wir betraten den nächsten Abschnitt, und dann den übernächsten, und dann den überübernächsten. Irgendwann standen wir im zentralen Treppenhaus, in das durch eine Dachgaube schwaches Mondlicht fiel. Ich wollte, fast intuitiv, hinaufsteigen, doch der Priester hielt mich zurück.

»Glaubst du, die Registrierung findet OBEN statt?«

Ich sah ihn an.

»Natürlich werdet Ihr im Keller registriert. Dort wird euer Wahn zurechtgewiesen, der euch nicht bewusst ist. Euer Wahn, der darauf wartet, ans Licht zu treten. Ein Wahn, der sich dir als Sinn aufdrängen will, als Erkenntnis jenes Prozesses, der deine Sache würdigt. Doch da ist weder Sinn noch Prozess, und wenn aber doch, so ist nichts davon Würdigung. Und wenn es doch Würdigung ist, so nur in der Form, dass dir durch den Prozess geholfen wird, dennoch Erleuchtung zu finden, die aber nicht im Licht, sondern wie ein Wurm im allertiefsten Staub zu finden ist. Und von daher hat natürlich der ganze Prozess sehr wohl einzig und allein den Sinn einer Würdigung deiner Person, deiner Sache und deiner Tat. Also komm!«

Mir war es gleich. Ich war müde und wollte es hinter mich bringen. Der Priester schob sich die Taschenlampe unter den Talar und schaltete das elektrische Licht ein; so gleißend, dass es mich blendete und ich die ganze Pracht des Treppenhauses kaum wahrnehmen konnte; die breiten Stufen, die großzügigen Zwischenpodeste und in der Mitte den offenen Schacht, wie eine bodenlose Halle. Alles war weiß: die Wände weiß gekalkt, der Boden aus weißem Marmor und das Geländer aus weiß lackiertem Stahl; nur der Handlauf eine blutrote Linie, die sich in weiten Spiralen nach oben und unten verlor. Die Helligkeit brannte mir so sehr in den Augen, dass sie tränten und mich hilflos machten. Ich tastete mich vor, versuchte, das Geländer zu finden, da ergriff der Priester meine Hand. Und ich ließ mich gerne von ihm führen, er war ja einer, der schon von Amts wegen meine Schritte fürsorglich zu überwachen hatte.

»Siehst du es jetzt ein?« fragte er, »siehst du jetzt, wie wenig du für die Höhe geschaffen bist, in der du dich gerne wähntest? Aber keine Sorge, unten ist das Licht erträglich für Deinesgleichen.«

Stufe um Stufe, Absatz um Absatz, Geschoss um Geschoss ging es hinunter. Tatsächlich war es bald möglich, die Augen zu öffnen. Verschwommen sah ich den Schmutz, der dem Licht die Strahlkraft nahm. Die Wände waren - anders als weiter oben - lange nicht gestrichen worden, der Putz bröckelte, und auf den Stufen verrottete der Unrat ausgeleerter Plastiktüten. Es stank. Und je tiefer wir kamen, desto wärmer wurde es. Man roch, wie sich Fäulnis und Verwesung ausbreiteten. Der Müll nahm mit jedem Stockwerk zu; es fiel eben alles, was ohne Antrieb war, nach unten. Das Licht dagegen wurde schwächer und schwächer. Manche Etagen schienen vom Hausbrand verrußt zu sein und die Luft schmeckte scharf nach alter Asche.

Bald war die Treppe so düster, dass ich den Hund nicht sah, der mich plötzlich anbellte. Ein riesiger Schäferhund versperrte den inzwischen viel schmaleren Gang, und nur eine Kette bremste seine hitzigen Versuche, über mich herzufallen. Der Priester hatte keine Angst. Er näherte sich auf sanfte Art dem Tier, sprach ein paar beruhigende Worte, fasste es mit beiden Händen an den Ohren und schaute ihm in die Augen. Der Priester war auf beinahe magische Art Teil des Sich-Zurück-Ziehens und Niederlegens der Kreatur. Er, ich war gewillt zu denken, SIE streichelte dem Hund über den Rücken, kraulte seinen Bauch und winkte mir mit dem Kopf, vorbeizugehen.

Einige Treppen tiefer sagte sie: »Ja, du hast es bemerkt. Ich hätte es dir auch gesagt, aber nur, weil ich dir vertraue und es bei dir ungefährlich aufgehoben ist: Ich bin kein Priester, habe mit der Kirche nur den erschwindelten Bund, den ich für das brauche, was ich hier tue. Was soll schon ein Priester im Keller?«

Sie streifte ihr Kreuz ab und ließ es achtlos in die Tiefe fallen. Ich zählte meine Schritte, bis uns das leise Echo des Aufschlags erreichte. Bald war es so dunkel, dass sie ihre Taschenlampe wieder hervorzog und anschaltete. Auf den immer enger werdenden Stufen wurde es schwierig, nebeneinander zu gehen. Der oben so weite Lichtschacht war nur noch ein schmales Loch. Es gab auch keine Zwischenpodeste mehr, wir stiegen immerzu abwärts, abwärts, abwärts. Meine Waden schmerzten und meine schweren Füße brannten vor Müdigkeit. Einmal beugte ich mich über das Geländer, sah hoch, sah irgendwo ein helles Schimmern, das aus den oberen Etagen kam. Ich fragte mich, wie lange wir schon gingen und mir graute vor dem Rückweg.

Arm in Arm schritten wir hinab, ich innen, sie außen, und ihre warme Hüfte drückte sich an meine. Schließlich aber war es zu eng. Statt des inneren Lichtschachtes war da nun eine steinerne Säule, von der die Treppe spiralförmig abging. Dafür war die Außenwand verschwunden. Die kurzen Stufen endeten schwerelos in einer dunklen Leere, nicht einmal durch ein Geländer gesichert. Ich blieb stehen.

»Komm«, sagte die falsche Priesterin, »Du hast es bis hier geschafft, und ich bin immer noch bei dir. Ich werde hinter dir gehen und dich führen und halten. Lass eine Hand an der Säule, dann kannst du nicht fallen.«

»Wo ist die Wand?«

Sie schaltete die Taschenlampe aus und sagte: »Hier unten brauchen wir keine Wand. Die Dunkelheit ist gut. Denn wäre es hell, dann wäre dein Abstieg viel gefährlicher. Nicht nur wegen der Höhe oder der Weite. Vor allem wäre nichts zu sehen, was dir auch nur im entferntesten Sinne gut täte. Nichts.«

So schob sie mich tiefer, Stufe um Stufe um Stufe, bis mir die Beine vor Schwäche zitterten. Oben gab es jetzt nur noch ein fast nicht mehr erkennbares Licht, klein wie ein Stern in einem schwarzen Firmament; und unten ein diffuses Glimmen, aus dem die übelsten Gerüche und eine kaum zu ertragende Hitze aufstiegen. Nur ein lauer Wind, der uns ab und zu den Schweiß von der Haut sog, erleichterte den Abgang in die Tiefe.

»Wie soll ich je wieder nach oben kommen?«, fragte ich sie, »ich habe nicht mal mehr die Kraft, weiter hinabzusteigen! Man wird nach mir suchen, Alarm schlagen, mich bestrafen ...«, was natürlich lächerlich war, angesichts der Strafe, die noch ausstand. Eine Böe kam auf und vertrieb die Hitze. Das Echo eines fremden Rufes hallte in meinen Ohren und in der Ferne blitzte eine Art Wetterleuchten. Dann war es wieder still und dunkel. Der Wind blies kalt. Ohne Anstrengung drückte die Frau mich weiter.

Die steinernen Stufen waren plötzlich zu Ende. Ich trat auf ein Brett, das wackelte und knackte; eine ungehobelte Bohle, irgendwie an der porösen Säule befestigt. Trotzdem tastete ich noch einen Schritt tiefer. Wieder nur knarzendes Holz.

»Hier verlasse ich dich!«, sagte die Frau hinter mir. Ich hörte, wie sie den Talar anhob, um mir ihre ganze Weiblichkeit für einen letzten Blick zu zeigen. »Es ist nicht mehr weit!«, flüsterte sie.

Ich drehte mich zu ihr um und konzentrierte mich mit aller innerster Gewalt auf das schwarze Dreieck in der weißen Fläche, bis der Vorhang fiel und sich raschelnd nach oben entfernte.

Ich umklammerte mit beiden Armen die speckige Säule. Während ihre Schritte nach oben verklangen, tauchte unter mir die Kellersohle auf. Aus den Ritzen einer Tür strich warmes Licht über Möbel oder Kisten, über Kohlen, Staub und Stimmen ohne Körper.

>>> Kommentar der Putzfrau: »An der Holztreppe ist Schluss. Ich mach' nur Fliesen. Kein Holz ...«

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