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Die Industriestadt

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Die okzidentale Stadt, wie sie Max Weber (1956) beschrieben hat, die Stadt des europäischen Bürgertums im hohen Mittelalter, die Stadt des Adels in der italienischen Renaissance, die barocke Residenzstadt des absolutistischen Landesfürstentums, diese historischen Stadttypen sind in unseren Vorstellungen zu einem diffusen, vielschichtigen Begriff von „Stadt“ verschmolzen. Er gehört zu der Sorte von Begriffen, die Wittgenstein in den Gewohnheiten und dem Selbstverständnis der eingespielten Alltagspraxis aufspürt: Mit unserem Begriff der Stadt verbindet sich in europäischer Sicht eine Lebensform.

Als eine überschaubare Lebenswelt konnte die Stadt architektonisch gestaltet, sinnlich repräsentiert werden. Die gesellschaftlichen Funktionen des städtischen Lebens, politische und wirtschaftliche, private und öffentliche, die der kulturellen und der kirchlichen Repräsentation, des Arbeitens, des Wohnens, der Erholung und des Feierns, konnten in Formen und Funktionen der zeitlich geregelten Benutzung von gestalteten Räumen übersetzt werden. Es ist kein Zufall, daß die Darstellung von Max Weber (1956) von der „illegitimen Herrschaft der Stadt“ in seinem Werk über „Wirtschaft und Gesellschaft“ im vorindustriellen Zeitalter endet. Es ist kein Zufall, daß die Erhaltung historisch gewachsener Stadtquartiere, wenn auch als Luxussanierung vielfach kritisch reflektiert, in diesem Kontext weltweit an Stellenwert gewinnt.

Mit der industriellen Gesellschaft sind die beschriebenen Bezüge der städtischen Lebenswelt zu Ende gegangen. Die Fabrik als industrielle Produktionsstätte konnte in die Stadt nicht städtebaulich harmonisch integriert werden. Es ist kein Zufall, daß in der geographischen Stadtforschung lange Zeit umstritten war, ob Industriesiedlungen zu den Städten gezählt werden dürfen. Mit der Industrialisierung und Vergroßstädterung brechen die Schnittstellen zwischen den wirtschaftlichen und politischen Institutionen und den kleinräumigen Interessenbereichen der städtischen Bevölkerung auf.

In der industriellen Gesellschaft blieben Politik und Wirtschaft separiert. Planung für eine neue industrielle Ordnung war selten. Wenn Planung erfolgte, dann sporadisch und ohne bewußte Wahrnehmung der ökonomischen Zielsetzungen. Sie bewegte sich zwischen der Abhaltung von Architekturwettbewerben bei repräsentativen Großvorhaben – wie der Wiener Ringstraße – und der Vergabe von Aufträgen für öffentliche Arbeiten.

Der Kapitalismus brachte die Mobilisierung von Arbeitskräften, Boden und Kapital. Die Gebrauchsund Prestigewertorientierung des Hausbaus wurde durch die Spekulations- und Profitorientierung abgelöst.

In der fußläufigen städtischen Gesellschaft war die mit der biologischen Existenz des Menschen eng verbundene Territorialität die Grundlage der Einheit von Realobjektraum, Aktionsund Wahrnehmungsraum. Aufgrund der neuen Verkehrs- und Kommunikationstechnologien entstanden und entstehen laufend immer weitere individuelle und institutionelle Konglomerate von Aktions- und Wahrnehmungsräumen, die sich vom Realobjektraum der Stadt separieren. Hierzu kommt ferner, daß mittels der Massenmedien bei der Weitergabe von Informationen Distanzen vernichtet werden und punktuelles Wissen überhandnimmt.

Last, not least ist entscheidend, daß die Industrialisierung und die Schöpfungen der Industriestadt bis heute in flächenhafter Weise die Städte prägen und ihre Erbschaft mit all den damit verbundenen Problemen,z.T. als schwere Hypothek, hinterlassen haben (Abb. 1.31 und 1.32).

Großbritannien ist das Mutterland der Industrialisierung gewesen, die von hier ausgehend zuerst in einer West-Ost-Bewegung und dann in einer Nord-Süd-Bewegung den europäischen Kontinent grundlegend verändert hat. Der Zeitpunkt der Anlagerung der Industrie an den älteren städtischen Baukörper war dabei von entscheidender Bedeutung. In Großbritannien setzte die Industrialisierung schon um die Wende vom 18. zum 19. Jh. ein. Um die Mitte des 19. Jh.s lebte bereits über die Hälfte der Gesamtbevölkerung in Städten. Dementsprechend explosionsartig wuchsen auch viele städtische Siedlungen während der ersten Hälfte des 19. Jh.s. Es ist begreiflich, daß Großbritannien daher mit allen Problemen der Verstädterung, der Wohnungsnot, der Überalterung des Baubestands und der Slumbildung am frühesten konfrontiert wurde.


Abb. 1.31: Eine „christliche“ Stadt, 1440


Abb. 1.32: Eine „industrialisierte“ Stadt, 1840

In den englischen Industriegroßstädten erfolgte nahezu überall die Anlagerung eines oft recht breiten Fabrikgürtels an die Altstadt, die im Verlaufe der Gründerzeit zur City umgebaut wurde. Nach außen entstanden riesige monotone Flächen niedriger Reihenhäuser, welche durch die sogenannte „By-Law-Gesetzgebung“ im Jahre 1884 in eine innere Zone der Back-to-Back-Reihenhäuser und eine äußere Zone von „By-Law-Häusern“ getrennt wurden, in denen die bislang katastrophale Raumenge etwas gemildert war. Die innere Zone wurde inzwischen durch umfangreiche Slum-Clearing-Programme fast zur Gänze erneuert, die Back-to-Back-Häuser durch Wohnblockverbände des Public Housing, vereinzelt sogar durch Hochhäuser, ersetzt. Die veraltete innere Industriezone ist vielfach durch Schnellstraßenringe aufgebrochen worden. Grundsätzlich gelangt man von innen nach außen in immer jüngere Wohngebiete.

Im Industriezeitalter veränderte sich das Stadtmittekonzept entscheidend. Die britische Industriestadt brach mit der Tradition der „Sozialen Mitte“. Ihre Schöpfung, die Fabrik, brachte ein von den Produktionsstätten ausgehendes zentrifugales Ordnungsmoment ins Spiel. In der britischen Stadt, in welcher, anders als in Kontinentaleuropa, eine Urbanisierung des Adels nicht stattgefunden hat, gewann daher mit der Industrialisierung die „soziale Inversion“ den Vorrang, d.h., die Stadtmitte wurde aus der sozialen Mitte zuerst im Gefolge der Citybildung zu einem „Bevölkerungskrater“ und schließlich zu einem „sozialen Krater“. Es war von entscheidender Bedeutung, daß Nordamerika mit der Industrialisierung die Konzeption der Industriestadt von Großbritannien übernahm.

Verglichen mit Großbritannien vollzogen sich Verstädterung und Industrialisierung in Deutschland mit einer Phasenverschiebung von nahezu einem halben Jahrhundert. Die Hauptverstädterungs- und Industrialisierungsphase fällt hier in die zweite Hälfte des 19. Jh.s, genauer gesagt in die Jahrzehnte zwischen 1870 und 1910, und damit in die Periode, die auch als Hoch- und Spätgründerzeit bezeichnet wird.

Inzwischen waren, dem französischen Vorbild des Manufakturzeitalters folgend, vor den Toren der größeren Städte Gewerbevorstädte emporgewachsen. Konkurrenzangst des eingesessenen Gewerbebürgertums und die ständige Revolutionsfurcht der Herrscherhäuser und der Aristokratie verhinderten in vielen Städten die Niederlassung großer Fabriken in unmittelbarer Nähe der Stadt und bewirkten, daß sich die Industrie verhältnismäßig abgesetzt von der Wohnverbauung am Außenrand der Stadt ansiedelte. Die freien Flächen zwischen dem älteren Vorstadtraum und einer peripheren hochgründerzeitlichen Industriezone wurden dann meist erst später durch die Mietshausverbauung geschlossen.

Anders als in Großbritannien konnte sich die gründerzeitliche Bautätigkeit in der Altstadt selbst nur in den wirklich großen Städten (Paris, Berlin, Wien, Budapest u. dgl.) durchsetzen, nicht dagegen in den Klein- und Mittelstädten, in denen schon relativ früh eine Suburbanisierung der Oberschichten in neue Villenviertel einsetzte und daher vorindustrieller Baubestand erhalten blieb.

Der Erste Weltkrieg bedeutete für das deutsche Städtewesen eine schärfere Zäsur als für das britische. Seit damals wurde der Stadtrand zum Experimentierplatz und Konkurrenzfeld verschiedener Bautypen und Rechtsformen des Wohnungswesens. Ein Stückwerk von Nutzungen entstand, teils im Anschluß an das vorgegebene Siedlungs- und Verkehrsnetz, teils losgelöst davon auf dem Stadtgebiet und über die Stadtgrenze ausufernd. Mit dem Ersten Weltkrieg war die Zeit flächenhafter zonaler Ausbreitung des Stadtkörpers endgültig vorbei. Neue Siedlungs- und Industriebänder folgen seither radialen und tangentialen Schnellbahnen und Schnellstraßen. Gründerzeitliche und jüngere Bebauung scheiden sich überall scharf voneinander, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Zeit eines „perfekten kapitalistischen Systems“, vor allem auf dem Wohnungsmarkt, mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende war.

In den südeuropäischen Großstädten ist die Industrialisierung der Verstädterung nicht wie in Großbritannien vorangegangen, sondern gefolgt. Ähnlich wie im kontinentalen West- und Mitteleuropa entwickelte sich eine gewerbereiche Vorstadtzone. Die äußere Industriezone der Gründerzeit ist dagegen, wenn überhaupt, nur in Ansätzen ausgebildet. Der Erste Weltkrieg bedeutete hier keinen so scharfen Einschnitt für die Stadtentwicklung wie im Raum der Mittelmächte.

Kompakte Mietshausstrukturen schließen bis hin zur Gegenwart ziemlich unmittelbar an die ältere geschlossene Reihenhausverbauung an. Zur Einzelhaussiedlung kam es nur in den sozialen Extremschichten. So entstanden seit dem späten 19. Jh. einerseits die Villen der Oberschicht und andererseits die squattermäßigen Behelfssiedlungen der armen Leute. Letztere konnten inzwischen dank eines beachtlichen sozialen Wohnungsbaus zum Großteil beseitigt werden. Der rasche aktuelle Industrieaufbau, oft mit ausländischem Kapital finanziert, ließ längs der Autobahnen neue Industriesatelliten aufwachsen. Mailand bietet ein Beispiel dafür.

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