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Entwicklung im Privatkapitalismus

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Von der kurzen Phase kolonialer Abhängigkeit abgesehen, vollzog sich die Stadtentwicklung in Nordamerika im Zeichen des Liberalismus und damit auf einem von Angebot und Nachfrage diktierten Bodenmarkt, auf dem Bodenpreise, Rendite und Spekulation Regulative bilden.

Nachdem das politische System in den letzten 200 Jahren im großen und ganzen unverändert geblieben ist, können die Städte Nordamerikas geradezu als Modellfall dafür angesehen werden, welche Konsequenzen sich aus der Anwendung privatkapitalistischer Spielregeln bei gleichzeitiger Veränderung der Technologie der Produktion, des Bauens und des Verkehrs für das städtische System ergeben.


Abb. 2.9: Luftbild Philadelphia 1970

Zum Verständnis der Stadtentwicklung bedarf es der Beachtung folgender Elemente:

▪ Renditedenken und Gewinnmaximierung bestimmen die sozialen Normen. Sie beeinflussen zutiefst das Investitionsverhalten der Bevölkerung und bedeuten konkret, daß Kapitalinvestitionen in Bauobjekte nur solange stattfinden, wie diese zur Steigerung des Marktwertes beitragen. Da besonders Banken und Versicherungen ihre Geldanlagen nur dort tätigen, wo sie eine entsprechende Rendite erwarten, ist es verständlich, daß abgewohnte Gebiete der Kernstädte als finanziell „tote Zonen“ aus den Investitionsstrategien ausgeklammert werden. Selbst wenn einzelne Personen bereit wären, verfallende Objekte zu reparieren, so würden sie hierfür keine Kredite erhalten.

Es ergibt sich daraus weiterhin, daß Stadterneuerung im Zuge eines ökonomischen Recycling-Denkens nur vollständige Abräumung ehemaliger Wohngebiete und deren Umfunktionierung zu Verkehrsflächen bzw. die Adaptierung ästhetisch attraktiver Teile in historisch-musealer Form für eine zahlungskräftige neue Citybevölkerung bedeuten kann.


Abb. 2.10: Verfallende Wohngebiete in Philadelphia 1981

▪ Die außerordentlich hohen Neubauraten zusammen mit dem technologischen Fortschritt haben die durchschnittliche Lebensdauer von Bauobjekten längst auf die menschliche Lebenszeit verkürzt und in jüngster Zeit eine weitere Reduzierung auf eine Generation bewirkt. In weiterer Konsequenz bedeutet dies, daß sämtliche Neubauten sehr rasch in die graue Zone von verschatteten Gebieten bzw. blighted areas (Blight = Pilzbefall) einrücken. Der Hausbesitz wird dementsprechend aus den aktuellen Bedürfnissen von einzelnen Personen und Haushalten und dem ökonomischen Nutzen für sie definiert, hat jedoch nur eine geringe Funktion im intergenerationalen Besitztransfer.

▪ Die kontinuierliche Anpassung an den Markt erfordert eine extrem hohe Mobilität der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital. Kapital wird sehr rasch abgezogen, wenn es in einem bestimmten Raum keine Erträge liefert. Leerstehende Objekte „stören“ niemanden, da keinerlei kollektive Verantwortlichkeit für das gepflegte Aussehen von Städten außerhalb der „eigenen Nachbarschaft“ besteht. Die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt zählt zu den internalisierten Normen eines aufstiegsorientierten Sozialverhaltens.

▪ Durch den geringen Budgetanteil des öffentlichen Sektors sind Maßnahmen gegen die Ausbreitung von physischen Verfallserscheinungen aus öffentlichen Mitteln kaum finanzierbar. Im Gegenteil, in einer von den Vorzügen des Privatkapitalismus überzeugten Mittelschichtgesellschaft wird vor allem darauf geachtet, daß das Ausmaß der Sozialpakete nicht ausgeweitet wird. Dieses Verhalten trägt wesentlich dazu bei, daß die Verfalls-, Segregations- und Marginalisierungsprozesse weiter fortschreiten und sich die davon betroffenen Areale ausweiten.

▪ Von entscheidender Bedeutung für die Vorgänge von Verfall und Erneuerung ist das Steuersystem. Die Steuern auf Grund und Boden bilden die Grundlage für das Budget der Lokalbehörden und die Finanzierung der sozialen Einrichtungen. Dies bedeutet, daß damit kein Weg aus dem Teufelskreis von marginaler Bevölkerung – geringer Steuerkraft – geringen Einnahmen der Lokalbehörden – schlechten öffentlichen Einrichtungen, wie Schulen und Spitäler, herausführt.

Aufgrund dieses Bedingungsrahmens hat der Verfall von weiten Teilen der Kernstädte der USA, der in den 1950er Jahren das erste und einzige Mal statistisch zu erfassen versucht wurde, inzwischen ein für europäische Verhältnisse nahezu unvorstellbares Ausmaß erreicht. Rückwirkungen der enormen suburbanen Erweiterung der Metropolitan Areas auf die Kernstädte haben alle funktionellen Bereiche derselben betroffen.

▪ Es kam zu einem Niedergang zahlreicher zentraler Geschäftsbezirke. Dieser enorme Umfang des Commercial Blight wurde zum ersten (und letzten!) Mal von B. J. L. Berry für Chicago (1963) dokumentiert. Seither ist dieser Vorgang gleichsam aus dem öffentlichen Bewußtsein wie aus der „Wahrnehmung“ der Stadtforschung ausgeblendet worden.

▪ Mit der räumlichen Verlagerung und Umschichtung der Industrie erfolgte ein ebenso eindrucksvoller Verfall des inneren Industriegürtels um die Downtown (Industrial Blight) (vgl. Abb. 3.35).

In den letzten Jahrzehnten sind diese ausgedehnten Areale von leerstehenden Hallen und verwahrlosten Flächen verschiedentlich abgeräumt und durch Autobahntrassen ersetzt worden. Es gibt keine Statistik über leerstehende Objekte. Doch sind Schätzungen von rund 300.000 Industrieobjekten, die leerstehen, vermutlich zutreffend (Holzner 1997).

▪ Der Verfall der Wohnbausubstanz (Residential Blight) und die Slumbildung zählen jedoch zu den am stärksten flächenbestimmenden Phänomenen. In diesen innerstädtischen Wüstungsgebieten der spät- und postindustriellen Gesellschaft sind die Bodenpreise auf Null gesunken. Trotz der staatlichen Initiierung einer „Frontierbewegung“, welche Interessenten für die Gebühr von 1 US-$ den Besitztitel an einem leerstehenden Objekt zuerkennt, schreitet der Verfall in den Wohngebieten um den CBD weiter fort. Das Beispiel von Philadelphia belegt den 5 bis 10 km breiten Ring des Verfalls in dieser großen Metropole im Nordosten der USA. Hier stehen rund 40.000 Häuser leer (Abb. 2.9 und 2.10). Ähnliche Werte wurden in jüngster Zeit für Baltimore angegeben. In St. Louis wurden soziale Wohnungsbauten auf abgeräumten Flächen errichtet (Abb. 2.11).


Abb. 2.11: Sozialwohnungsbau am Cityrandbereich, St. Louis, 1999

Stellt man die Frage, welche städtischen Gebiete von der „Produktion“ von Kapital durch Bodenpreissteigerungen profitieren und neue Strukturen erhalten, so lautet die Antwort keineswegs, daß die Wolkenkratzer immer höher wachsen, wie dies noch vor einem Vierteljahrhundert zutraf. Eine allgemeine Aussage ist nicht mehr möglich, zu differenziert entwickeln sich die Metropolen der USA. Dagegen ist andererseits der „Urban Sprawl“ keineswegs abgestoppt, sondern breitet sich in Exurbia in den ökologisch attraktiven Gebieten immer weiter aus. Auf die Thematik der Differenzierung der Downtown der amerikanischen Metropolen in der Gegenwart wird noch im Kapitel „Stadträume“ eingegangen werden.

Kapitalbildung durch Bodenspekulation und Bodenpreissteigerung in Interessenverflechtung mit Autofirmen, Öltrusts sowie Großunternehmen der Bauindustrie, der Hypothekenbanken und des Autobahnbaus haben die Suburbanisierung zu einem selbststeuernden Vorgang gemacht. Suburbia ist zum tragenden Siedlungssystem der USA geworden.

Es zählt zu den faszinierenden Phänomenen, daß vor dem Hintergrund von weiten Wanderungsdistanzen und einer für europäische Verhältnisse geradezu unglaublichen Mobilität die Aussage, daß demographische, soziale und ethnische Kohorten „in getrennte Quartiere marschieren“, nach wie vor Gültigkeit hat. Die nahezu ubiquitäre Ressource des zur Verfügung stehenden Siedlungsraumes hat bisher weder seitens der Bevölkerung noch seitens der Behörden zur „Wahrnehmung“, geschweige denn zu Maßnahmen gegen das Entstehen „zentraler Wüstungsgebiete“ in den nordamerikanischen Städten geführt.

Die antiurbane Haltung, welche den „suburban way of life“ als tragende Säule des amerikanischen Siedlungssystems etabliert hat, fußt freilich nicht nur auf der technologischen Voraussetzung einer allseitigen Zugänglichkeit moderner Kommunikationsformen, von Konsumgütern und Dienstleistungen, sie beruht vielmehr auf der historisch-politischen Tatsache, daß die nordamerikanische Stadtentwicklung – zum Unterschied von Europa – das Vehikel der „bürgerlichen Stadtgemeinde“ und des „Stadtbürgers“ nicht mehr „importiert“ hat.

Lutz Holzner (1996) hat mit Recht auf die politisch-ideologischen Unterschiede im Demokratieverständnis zwischen den USA und Deutschland hingewiesen. Sie sind sehr ausgeprägt und von Relevanz für den Gegensatz von kompakter europäischer Stadt und Suburbia in den USA. Das Demokratieverständnis der USA wird getragen von der Selbstverantwortung des Bürgers, der das Recht auf Leben und Freiheit, auf persönliches Glück (pursuit of happiness) einschließlich Besitz (property) und Privatsphäre (privacy) für sich beansprucht. Die Gleichheit wird nur als equal opportunity gefordert, bei der jedoch nicht equal results erwartet werden. Zentralismus und hierarchische Administration gelten als obrigkeitlich und undemokratisch und werden abgelehnt.

Das deutsche Grundrechtsverständnis beruht dagegen auf dem Anspruch auf Sicherheit der sozialen Existenz, d.h. also auf „equal results“ aus einem egalitären Gesellschaftsverständnis heraus. Hierzu gehört auch die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in allen Teilräumen. Leitbilder einer weitgehend obrigkeitlich reglementierten Erhaltung und Pflege des Kulturerbes, darunter insbesondere von Städten, gehören zu den Staatsgrundgesetzen (z.B. im Freistaat Bayern). Ideen von Sozial- und Umweltverträglichkeit bzw. von sozialer (und/oder ethnischer) Mischung im geförderten Wohnungsbau werden allgemein akzeptiert.

Die Stadt

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