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Entwicklung im Postsozialismus

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Entsprechend den Grundprinzipien sozialistischer Planung und Ideologie haben die Stadt und die städtische Lebensform im Staatskapitalismus das Vorbild für die Gesellschaftspolitik abgegeben. Stadtplanung und Städtebau waren zentrale Instrumente der zentralistischen und sektoralen Planung (Abb. 2.12). Insgesamt hat der Staatssozialismus durch staatlich vorgegebene einheitliche Wohnungsgrößen im öffentlichen Wohnungsbau, durch kollektive Lohnschemata u. dgl. eine vereinheitlichende Decke über die städtischen Siedlungen gebreitet und damit auch die neue Gesellschaftsklasse einer egalitär-gewerkschaftlich organisierten, kommunistischen Arbeiterschicht erzeugt.

In einem ersten Take-off gelang in Polen in den 60er Jahren des 20. Jh.s der Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte. Danzig, Posen, Warschau seien als Beispiele genannt, eine staunenswerte Leistung und ein architektonisches Bekenntnis zum europäischen Urbanismus. Die sozialwissenschaftliche Forschung muß erst die Gründe für diesen beachtlichen, auch wirtschaftlichen Aufschwung erhellen, der damals die Staaten Ostmitteleuropas erfaßte – so lag z.B. das BNP der CSSR Ende der 1960er Jahre annähernd in derselben Höhe wie in Österreich, und ebenso für das Abstoppen desselben in den 1970er Jahren.

Der Verfall zahlreicher Innenstädte setzte in massiver Form erst in den 1970er Jahren ein, als sich das Syndrom von Großorganisationen der Bauwirtschaft – Plattenbauweise und Großwohnanlagen – zu verfestigen begann und die Stadterweiterung nach einem kurzen Zwischenspiel von Altstadterhaltung und Denkmalschutz in Form von Großwohnanlagen den Vorrang erhielt (Abb. 2.13).

Die staatliche Bautätigkeit in den sozialistischen Staaten konzentrierte sich allerdings im wesentlichen auf die großen Städte und darüber hinaus im Zuge der massiven Industrialisierungspolitik auf die planmäßige Anlage von neuen Industriestädten. Sie wurden allerdings keineswegs als Innovationsträger in abgelegene ländliche Räume, sondern vielmehr in das weitere Umland von Agglomerationen hineingesetzt. Eine planmäßige Industrieansiedlungspolitik, wie sie im westlichen Mitteleuropa in entwicklungsschwachen Räumen als Mittel zum Disparitätenausgleich betrieben wurde, fehlte. Damit ist gleichzeitig auch noch ein weiterer wesentlicher Unterschied in der Zentrale-Orte-Politik angesprochen.

Die sozialistischen Staaten haben den Zentralen Orten eine Funktion zugewiesen, die sie im Westen nicht besaßen. Sie wurden aus konsumentenorientierten Zentren für ein ländliches Umland zu „agrartechnologischen Vororten“ für die kollektivierte Agrarwirtschaft des ländlichen Raums umfunktioniert. Maschinenreparaturstationen u. dgl. ersetzten das traditionelle zentralörtliche Gewerbe. Die Zentralen Orte wurden so vom sozialistischen System aus der konsumentenorientierten Ausrichtung herausgelöst und als Instrument für die Steigerung der Produktion verwendet.


Abb. 2.12: Halle-Neustadt, geplantes Stadtzentrum, ehem. DDR


Abb. 2.13: Großwohnanlage Chemnitz, ehem. Sitz der SED in der DDR 1996

Entsprechend der Top-down-Verteilung der zentralistischen Budgets kamen bei der Zuteilung von Einrichtungen der technischen Infrastruktur und von „sozialen Gütern“ die unteren Stufen der Zentralen Orte zu kurz. Die Zentrale-Orte-Politik der sozialen Wohlfahrtsstaaten in den 1960er Jahren, die Bildungs- und Sozialeinrichtungen der mittleren zentralörtlichen Stufe zuteilte, fehlte und wird aller Voraussicht nach in den postsozialistischen Staaten kaum mehr nachgeholt werden.

Auch unter der Wirkung von Marktkräften ist eine Wiederbelebung der unteren Ränge des zentralörtlichen Systems nicht zu erwarten. Für diese Annahme sprechen Analogien hinsichtlich der Reduzierung des Einzelhandels in den Kleinstädten zum nordamerikanischen Siedlungssystem. Konzentrationsprozesse bei der Betriebsgrößenstruktur und die daraus resultierende Eliminierung von Kleinbetrieben im Einzelhandel bilden somit bei allen Unterschieden im Warensortiment und in der Branchendifferenzierung ein die Systeme des Privatkapitalismus und des Staatskapitalismus übergreifendes gemeinsames Merkmal. Die kleinen und selbst die mittleren Zentralen Orte waren die Verlierer im Staatssozialismus, und sie werden es aller Wahrscheinlichkeit nach auch in der Marktwirtschaft bleiben. Ausnahmen bilden nur jene ökologisch begünstigten Räume, in denen eine europäische Freizeitgesellschaft im Siedlungssystem Fuß fassen wird und wo Zentrale Orte zu Zentren von Freizeitregionen avancieren.

Irreversibel erscheint in Ostmitteleuropa ferner die Beseitigung einer besitzbürgerlichen Gesellschaft durch Enteignung und Diskriminierung, welche als tragende Schicht der Kleinstädte kaum wiederherstellbar ist. Die vermutlich noch Jahre andauernde Unsicherheit hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse an Grund- und Hausbesitz wird hierzu maßgeblich beitragen.

Ein entscheidender Eingriff in die politisch-administrative Organisation der ostmitteleuropäischen Staaten war die Beseitigung der Gemeindeverfassung. Damit wurde das im westlichen Mitteleuropa für die räumliche Ordnung entscheidend wichtige autonome territoriale Widerlager der staatlichen Gesamtverfassung und Verwaltung beseitigt. Die Zusammenfassung der Gemeinden zu Großeinheiten, deren Größe mit amerikanischen Counties vergleichbar ist, läßt erneut einen Vergleich mit Nordamerika zu. Es wird daher ein langer und mühsamer Weg sein, eine Gemeindeverfassung wieder als Kernstück der demokratischen Organisation, vor allem des ländlichen Raumes, aufzubauen und Gemeinden mit entsprechenden rechtlichen Befugnissen und den kommunalen Aufgaben adäquaten Budgets auszustatten.

Wie erwähnt, rückte der ländliche Raum nicht ins Blickfeld sozialistischer Siedlungsplanung. Eine weitere Ausbreitung der anarchischen Urbanisation der Zwischenkriegszeit war die Konsequenz. Mit Nachdruck sei betont, daß aufgrund der informellen Strukturen und der vormonetären Marktsituation eine Gleichsetzung dieser von spontaner privater Initiative getragenen extensiven Siedlungsbewegung mit der Suburbanisierung nordamerikanischer und westeuropäischer Städte, wie sie in der Literatur aufgrund des formalen Merkmals der Einzelhausverbauung vielfach vorgenommen wird, unzutreffend ist. Dazu kommt ein Weiteres: Die sozialpolitische Einbeziehung der Wohnung als soziales Gut in das „social overhead“ und die Zuteilung von Wohnungen zum Nulltarif an die Staatsbürger haben eine mächtige Bewegung der Aufspaltung der Wohnfunktion in Arbeitswohnungen und Freizeitwohnungen, und zwar einerseits in Form der z.T. verstaatlichten Mietshäuser und andererseits in Form der privaten Datschen entscheidend gefördert. Damit wurde das Zweitwohnungswesen staatlich subventioniert, das, in den Lebensstil integriert, vermutlich auch weiter fortbestehen wird. Allerdings kann unter dem Druck steigender Mieten eine Umwandlung von Zweitwohnungssiedlungen in Dauerwohnsiedlungen erwartet werden.

Auf die Schwierigkeiten der Anfänge des Marktes kann hier nicht eingegangen werden. Es sind im wesentlichen drei „Marktschrauben“, an denen gleichzeitig, jedoch nicht synchron, gedreht wird: auf dem Bodenmarkt, dem Wohnungsmarkt und dem Arbeitsmarkt.

Die Privatisierung des Bodenmarkts zählt zu den mittelfristig wesentlichen Konsequenzen der Liberalisierung. Die Bedeutung der Kapitalbildung aus Eigentumstiteln an Grund- und Realitätenbesitz für die Entwicklung der Wirtschaft kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ein Vergleich mit der Aufhebung feudaler Nutzungsrechte und der Umwandlung in marktfähige Eigentumsrechte in den liberalen Revolutionen des bürgerlichen Zeitalters drängt sich auf. Ebenso wie damals entstehen damit neue Klassengrenzen nicht nur nach dem Einkommen, sondern auch nach dem Vermögen an Realitätenbesitz. Erst im Postsozialismus erfolgt damit eine „neue“ Proletarisierung, separieren sich Besitzende und Nichtbesitzer; Wohnklassen – analog zur britischen Gesellschaft – bilden sich. Die Stadtplanung wird mit einer „neuen Bodenfrage“ konfrontiert, ebenso mit dem Grunderwerb durch Ausländer in attraktiven Lagen von Primatstädten und Freizeitregionen. Das aus dem westlichen Mitteleuropa bekannte Dilemma von Planungsbehörden, zwischen den Interessen der örtlichen und der ausländischen Bevölkerung abwägen zu müssen, weitet sich in die postsozialistischen Städte aus.

Nach dem Wegschieben der gemeinsamen Decke des Staatskapitalismus kommen in Ostmitteleuropa nationale Strategien der Wohnungswirtschaft zum Zug. Durch die vermutlich noch lange spürbaren Folgen der sozialistischen Städtebaupolitik auf dem Wohnungsmarkt wird im engeren Stadtumland eine neue Welle der anarchischen Urbanisierung zu rollen beginnen. Sie wird mitgetragen von der zu erwartenden steigenden Motorisierung und den steigenden Mieten in den Kernstädten bei gleichzeitig starkem Rückgang des öffentlichen Wohnungsbaus.

Während der Wohnungsmarkt aufgrund des dominierenden privaten Einfamilienhausbesitzes dem ländlichen Raum, den kleinen Orten und dem städtischen Umland neuen Wert verleiht, weisen andererseits auf dem Arbeitsmarkt als einzige die großen Kernstädte positive Effekte auf. Nur hier ist die notwendige Tertiärisierung der Wirtschaft erfolgt, ist der Umbau der staatlichen Großbetriebe und der notwendige Technologieschub im Gang. Allen voran werden wieder, wie in der Gründerzeit, die Primate-City-Effekte zum Tragen kommen. Nur in den Hauptstädten baut ausländisches Kapital den quartären Sektor auf. Nur in ihnen hat ein größerer Teil der Arbeitsbevölkerung die Chance, Erfahrung mit selbst wählbaren Karrierepfaden zu machen und die Ausbildung in ein marktfähiges Gut zu verwandeln. Sie sind die Innovationszentren für die Transformation des Arbeitsmarktes und ferner für die Übergangserscheinungen auf der Rückseite der modernen Kaufhaus-Konsumgesellschaft, welche im städtischen System äußerst rasch diffundierten. Es handelt sich einerseits um die massenhafte Neuauflage des Wanderhandels als eines Produkts z.B. des polnischen Gesellschaftssystems. In einem handelsmäßigen Vakuum, nicht zuletzt bedingt durch den Holocaust, sind hier im Zuge der Liberalisierung neue Formen des ambulanten Kleinhandels mit Waren aller Art entstanden. Wohl eine etwas längerfristige Übergangsform stellen andererseits die Kleinläden dar, die in einer Gründungswelle ganz großen Stils, begünstigt durch Kredite für Arbeitslose, Passagen und Hinterhöfe z.B. der ungarischen Metropole zu Tausenden besetzt haben. Ein Paradoxon, wenn man bedenkt, daß in Wien derzeit rund 10.000 Läden aufgrund der Gründung von Shopping-Centers am Stadtrand bereits leerstehen, und gleichzeitig ein organisatorisches Pendant zur skizzierten anarchischen Urbanisation.

Fassen wir zusammen: Die künftige Entwicklung in Ostmitteleuropa läßt sich als neue Gründerzeit interpretieren.

▪ Primate-City-Effekte werden als technologische Übersprungseffekte den positiven räumlichen Kontext bestimmen.

▪ Parallel dazu wird eine neue plutokratische Oberschicht entstehen.

▪ Im Gefolge von Entstaatlichung, Entagrarisierung und Entindustrialisierung wird sich eine breite Pufferzone von Subsistenz- und Doppelexistenzen auf dem agraren und kommerziellen Sektor herausbilden.

▪ Entsprechend dem historisch hier stets geringen Besatz von Mittelschichten wird auch in unmittelbarer Zukunft keine Mittelschichtsgesellschaft entstehen.

▪ Es ist vielmehr eine Eindrittelgesellschaft im Entstehen, d.h., daß zwei Drittel der Gesellschaft aus der kargen Sicherheit der sozialistischen Planwirtschaft in die Unsicherheit und Risiken des Marktes transferiert wurden und mehr als die Hälfte mit einer „neuen Armut“ konfrontiert ist.

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