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Kapitel 3

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Die Uhr zeigte 5 Minuten vor Acht, als Karla Albrecht an diesem Morgen zu ihrem Arbeitsplatz kam. Das Gebäude der Polizei lag am Ende der kleinen Fußgängerzone. Eine alt ehrwürdige Immobilie aus den 20iger Jahren. Zigmal renoviert hatte es einen sehr eigenen Charme, da aus jedem Jahrzehnt etwas dazugekommen war. Karla schimpfte leise vor sich hin, als sie bemerkte, dass einige der ohnehin schon wenigen Angestelltenparkplätze durch eine Baustelle blockiert waren.

Die war doch gestern noch nicht da! Wahrscheinlich wieder irgendein Rohrbruch oder ähnliches. Sie war jetzt 20 Jahre bei der Truppe und hatte sich inzwischen zwar schon an die ewigen Bau- und Renovierungsmaßnahmen gewöhnt, aber wenn sie morgens keinen Parkplatz fand, konnte sich ihre Laune doch schon mal nach unten bewegen. Gott sei Dank konnte sie mit ihrem kleinen Auto in einer Minilücke parken. Sie quetschte sich durch den schmalen Platz, den sie noch zum Aussteigen zu Verfügung hatte und schloss ab. Die Kühle des Morgens tat gut nach der Hitze der letzten Tage. So langsam konnte man den herannahenden Herbst erahnen und Karla war froh darüber. Dieses Herumwälzen und Wachliegen in verschwitzen Laken hatte sie satt und die kalte Luft tat den Gedanken gut und machte den Kopf frei. Die vergangene Nacht, oder das von ihr übrig blieb, hatte sie bei Stefan verbracht und er hatte großes Verständnis gezeigt wie immer, hatte keine Fragen gestellt, denn er wusste oder ahnte zumindest die Anstrengungen, die ihr Job bei der Kripo mit sich brachte.

Und doch ertappte sie sich immer öfter bei dem Gedanken, dass seine Bemühungen, sich für ihre Arbeit zu interessieren oft aufgesetzt und ein wenig geheuchelt rüber kamen. Vielleicht war sie auch einfach nur überarbeitet, dachte sie.

Sie war jetzt schon 3 Minuten zu spät dran und hetzte zur Eingangstür. Einer der Arbeiter von der Baustelle pfiff anerkennend hinter ihr her. Karla lächelte gequält. Aber irgendwie freute sie sich auch darüber, schließlich war sie nach dem Vorfall gestern Nacht erst um ein Uhr ins Bett gekommen, und sie fühlte sich schrecklich mit ihren Augenringen und den etwas zerzausten Haaren an diesem Morgen. Also was soll’s, dachte sie sich und lächelte dem Arbeiter mit dem schönst möglichen Lächeln zu, das sie an diesem Morgen aufbringen konnte.

Dann verschwand sie in der Eingangstür und lief die zwei Etagen hoch, wo sich die Räume der Kriminalpolizei befanden. Oben angekommen, atmete sie tief durch und ging, einen Morgengruß murmelnd, an ihren Kollegen vorbei in Richtung Schreibtisch. Ihre Büroecke war durch eine Glaswand und eine Tür von den anderen Büroplätzen abgetrennt. So war sie immer über alles im Bilde, konnte sich aber auch zurückziehen, wenn sie es wollte oder wenn Personen zum Verhör kamen. Verhörräume wie in den Großstädten gab es hier leider nicht.

Am Schreibtisch angekommen knallte sie ihre große Beuteltasche auf den Tisch, zog ihre Jacke aus und ließ sich auf den Schreibtischstuhl plumpsen. Durch die Scheibe konnte sie sehen, wie ihr Kollege Reinhard Köhler demonstrativ auf seine Uhr schaute. Auch er war gestern Nacht erst spät nach Hause gekommen, er schaffte es aber immer wieder trotz solcher Einsätze am nächsten Morgen jugendlich frisch auszusehen. Das lag wahrscheinlich an dem vielen Sport den er so trieb! Karla winkte ihn zu sich herüber. „ Reinhard.”, rief sie. „Gehen wir doch noch einmal die Sache von gestern Abend im Detail durch.” Reinhard Köhler kam forschen Schrittes in ihr Büro und zog sich einen Stuhl an ihren Schreibtisch. Er musterte Karla mit seinen hellgrauen Augen: „Na, ausgeschlafen?“, fragte er und grinste, sodass sich sein rechter Mundwinkel und die linke Augenbraue gleichzeitig hoben, was seinem Gesicht jedes Mal einen seltsamen Ausdruck verlieh. Karla hatte mal mit einigen Kollegen auf einer bierseligen Weihnachtsfeier versucht das nachzuahmen. Es war ihnen nicht gelungen. Sie winkte ab: „Frag nicht, lass uns arbeiten!“

Gemeinsam studierten sie die Unterlagen des Unfalls, der sich gestern Abend gegen 19.00 Uhr auf einer Landstraße rund 4 km von hier ereignet hatte. Der Notruf kam so gegen 19.15 bei der hiesigen Polizeiwache an.

Eine ältere Dame hatte aufgeregt in den Hörer gerufen, dass sie einen Toten gefunden hatte. In ihrer Aufregung und ihrem Schock hatte sie sich zunächst endlos darüber ausgelassen, von wo sie kam, dass sie mit ihren Hunden im Wald spazieren war, wo doch so schönes Wetter war, wo sie nun hinwollte und das ihr Mann zu Hause wartete, usw. Der Beamter in der Notrufzentrale hatte mit einer geschulten Geduld immer wieder auf sie eingeredet, dass sie sich doch beruhigen möge und genau sagen soll, wer sie ist, wo sie ist und wen sie denn gefunden hatte. Sie hieß Irene Müller war 78 Jahre alt, wohnte in einem benachbarten Dorf und hatte auf der Rückfahrt mit ihrem Auto plötzlich mitten auf der Fahrbahn kurz hinter ein paar Kurven einen Mercedes stehen sehen. Um ein Haar wäre sie aufgefahren, sie konnte im letzten Moment bremsen und kam hinter dem Wagen zu stehen. Sie dachte noch, wer ist so blöd, die Unfallstelle nicht abzusichern in einer solch kurvenreichen Strecke. Irene Müller überlegte nicht lange, fuhr ihren alten Toyota rechts ran, schaltete die Warnblinkanlage an und stieg aus. Ihre zwei Schäferhunde hinten im Auto spürten wohl, dass etwas nicht in Ordnung war und krochen hinten auf dem Rücksitz an die Scheibe und begannen lauthals zu bellen. Sie sah jetzt, da sie von hinten an den Mercedes heranging, dass am Steuer des Wagens jemand zusammengekrümmt saß.

Unruhe machte sich in ihr breit und ihr Herz begann bis zum Hals zu hämmern. Sie blieb stehen. Was mach ich jetzt, überlegte sie noch, während sie zögernd zu dem Wagen ging. Soll ich zuerst meinen Verbandskoffer aus dem Auto holen? Und was erwartet mich? Liegt dort jemand blutüberströmt und schwer verletzt? Oder hatte dieser jemand vielleicht einen Herzinfarkt oder Schlaganfall, röchelt vielleicht, stöhnt um Hilfe?

Sie merkte, dass sie flüsternd mit sich selbst sprach. Hunderte Gedanken schossen ihr in Sekundenschnelle durch den Kopf, während ihre beiden Hunde, die ihre Anspannung sicherlich bemerkten, pausenlos, mittlerweile fast hysterisch, bellten.

Langsam mit fast bedächtigen Schritten bewegte sie sich um das Auto herum. „Hallo?”, rief sie. „Hallo, sind Sie verletzt? Kann ich Ihnen helfen? Hallo!” Das Rufen half ihr, sich ein wenig zu beruhigen, so wie bei einem Kind, das laut ruft und lärmt, wenn es einen dunklen unheimlichen Keller betritt. Nun sah sie den Mann.

Er war extrem dick. Das fiel ihr komischerweise zuerst auf. Und er war definitiv tot.

Starke Kopfschmerzen setzten schlagartig ein und das Bellen ihrer Hunde wurde plötzlich zu einem alles über tönendem Geräusch. Sie überwand sich, den Mann, der seitlich etwas zusammen gesackt hinter dem Lenkrad saß, mit der Hand ein wenig anzufassen, seinen Kopf etwas gerade zu schieben, um zu sehen, ob nicht doch noch etwas zu machen war, ob sie nicht irgendwas helfen konnte, obwohl ihr Verstand ihr schon lange gesagt hatte, dass nichts aber auch gar nichts diesem Menschen noch helfen würde.

Auf dem Hemd des Mannes hatte sich ein großer Blutfleck gebildet. Mit aller Kraft schob sie seinen großen schweren Kopf in eine gerade Position -- und blickte in starre, weit aufgerissene tote Augen.

Auf diesen Anblick war sie trotz allem nicht vorbereitet gewesen. Irene Müller stolperte zwei Schritte zurück, schnappte hechelnd nach Luft und beugte sich vornüber, bis sie einigermaßen atmen konnte. Ihre Hunde bellten unaufhörlich. Aber sie sah es als ihre Pflicht an, sich in einem Notfall wie diesem zusammen zu reißen. Als sie sich wieder aufrichtete und sich zwang noch einmal hinzuschauen, bemerkte sie, dass in der Windschutzscheibe ein Loch war, von wo aus sich kleine Risse in alle Richtungen der Scheibe verteilten. Vielleicht ein Steinschlag, überlegte sie. Aber mit so gravierenden Folgen? Ich muss Hilfe holen! Sie stolperte zurück zu ihrem Toyota, riss die Tür auf und kramte wild in ihrer Handtasche. Schließlich hatte sie ihr Handy in der Hand. Die Hunde bellten immer noch. „Ruhig!”, herrschte sie ihre Schäferhunde an. „Seit endlich ruhig!” Überrascht über die plötzliche Lautstärke ihres sonst so sanftmütigen Frauchens verstummten die Hunde augenblicklich und legten sich mit reumütigen Blicken auf die Rückbank. Irene Müller wählte mit zittrigen Händen die Notrufnummer.

„Tja.“, sagte Reinhard Köhler. „Das muss ziemlich heftig für die alte Dame gewesen sein. Sie hat mir gestanden, dass sie trotz ihres hohen Alters noch nie einen Toten gesehen hat.” Karla dachte an gestern Abend zurück, wie sie und Reinhard an diesen Ort mitten im Wald gerufen wurden. Es war schon 19.30 und sie wollten gerade Feierabend machen, als der Anruf kam. Zwei Beamte von der Polizeistreife, die aufgrund des Anrufes von Irene Müller zur Unfallstelle gefahren waren, hatten ziemlich schnell gemerkt, dass es sich eben nicht um einen normalen Unfall handelte. Ihnen waren sofort das Loch in der Scheibe und das seltsame Verletzungsmuster des Mannes aufgefallen und sie hatten die Kriminalpolizei informiert.

Als Reinhard und Karla in dem Waldgebiet ankamen hatten ihre Kollegen bereits den Rest der Landstraße gesperrt. Einer der Streifenbeamten, ein stattlich wirkender älterer Beamter, den Karla von anderen Einsätzen kannte, kam auf sie zu. Er begrüßte sie mit einem kräftigen Händedruck. „Das müsst ihr euch mal anschauen.”, sagte er. „ Das ist kein normaler Unfall. Die Scheibe, die Verletzung des Mannes! Sieht eher wie ein Schuss aus!” „ Okay.” Karla zog sich ein Paar Handschuhe über. „Wir werden sehen. Sie haben hoffentlich nichts angefasst?” „Ich nicht.”, antwortete der Beamte. „Aber die Dame dort drüben.” Er zeigte auf Irene Müller, die in einiger Entfernung noch immer stark zitternd an ihr Auto gelehnt stand. „Na ja, sie hat halt gedacht, dass sie ihm noch helfen konnte. Daher hat sie seinen Kopf bewegt.” „Ja, ja...”, erwiderte Karla. „Wir werden uns die Sache erst mal ansehen.” Zusammen mit Reinhard ging sie zu dem Mercedes herüber.

Karla schluckte. Es kostete doch immer wieder Überwindung, sich einen Toten genau anzusehen.

Gott sei Dank kam das nicht zu häufig vor. Schweigend untersuchten sie den Mann. Sein Kopf lag zurückgebeugt im Nacken und es schien, als starrten seine Augen zur Wagendecke. Karla knöpfte vorsichtig die oberen Knöpfe von seinem Hemd auf. Durch das viele, bereits geronnene Blut fühlte sich das Hemd an, als wäre es aus Pappe und würde jeden Augenblick zerbrechen.

„Unser Kollege hat Recht. Informiere bitte den Rechtsmediziner.“ Karla wandte sich Reinhard zu, der die Scheibe untersuchte. Er nickte: „ Ja, dies hier ist eindeutig ein Einschussloch!”

Kurze Zeit später waren bereits die angeforderte Spurensicherung und der zuständiger Kollege von der Gerichtsmedizin eingetroffen. Karla und Reinhard überließen ihnen das Feld und gingen auf Irene Müller zu, um sie noch einmal genau zu den Geschehnissen zu befragen. Viel bekamen sie nicht aus ihr heraus. Eine junge Polizeibeamtin mit einem langen blonden Zopf, der geflochten unter ihrer Polizeikappe hervorlugte stand ihr zur Seite und tätschelte beruhigend den Arm der Frau. Behutsam sprach sie auf die alte Dame ein, die noch immer unter Schock stand. Da sie nicht mehr in der Lage war, ihr Auto zu fahren, wurde ein Kollege damit beauftragt, sie und ihre beiden Hunde nach Hause zu bringen, wo sie von ihrem Mann bereits erwartet wurde. Mehr konnte man im Moment nicht tun.

Reinhard und Karla wandten sich wieder den Kollegen der Kriminaltechnik zu. Einer der vermummten Männer in den weißen Schutzanzügen kam auf sie zu. In der Hand hielt er den Führerschein des Toten, den er im Handschuhfach gefunden hatte. Karla sah ihn sich genau an. „Hier.”, sagte sie zu Reinhard Köhler. „Der Mann wohnte hier ganz in der Nähe. Nur ein Dorf weiter. In fünf Minuten wäre er zu Hause gewesen. Er heißt Fritz Olischewski und ist 41 Jahre alt. War 41 Jahre alt.“, verbesserte sie sich.

„41?” Reinhard wunderte sich. „Ich hätte ihn bedeutend älter geschätzt. Mein, Gott! Ich kann mir jetzt schon denken, was uns gleich erwartet, wenn wir die Adresse aufsuchen. Eine in Tränen aufgelöste Ehefrau und wahrscheinlich noch ein paar kleine Kinder, die auf ihren Papa warten.” Karla nickte. In solchen Momenten hasste auch sie ihren Job.

Es dämmerte schon, als sie später in Richtung des nächsten Dorfes fuhren, wo Fritz Olischewski gelebt hatte. Die Spurensicherung war abgeschlossen, der Wagen des Mannes zur Untersuchung abgeholt und die Leiche in das nächste Gerichtsmedizinische Institut transportiert worden. Karla merkte, dass Reinhard, wahrscheinlich unbewusst, sehr langsam fuhr, um möglicherweise die Zeit bis zur Überbringung der schrecklichen Nachricht noch ein bisschen hinauszuzögern. In dem kleinen Dorf mit rund fünfhundert Einwohnern war es nicht schwer, die Adresse zu finden, obwohl mittlerweile fast schon die Dunkelheit eingesetzt hatte.

Bei dem Haus handelte es sich um ein Reihenhaus, welches in der Mitte einer Dreiergruppe stand. Alle drei Häuser hatten kleine, aber pedantisch gepflegte Vorgärten, so als wollten sich die Besitzer gegenseitig übertrumpfen in der Auswahl der Sträucher und Blumen. Bei dem Haus der Olischewskis kamen noch unzählige, etwas kitschig angehauchte Tonfiguren dazu, die überall auf dem Beet und am Treppenabsatz herumstanden. Karla schellte und sah schemenhaft durch das dunkle Glas der Haustür einen Kinderbuggy im Flur stehen. Ihr wurde ganz mulmig ums Herz. Zunächst hörten sie nichts, aber nach nochmaligem Schellen ging im Haus eine Tür auf und man konnte eine zierliche Frauengestalt erkennen, die sich zögerlich Richtung Haustür bewegte.

„Ja bitte?” Eine Frau, dunkelhaarig, Anfang 30, hatte die Haustür einen Spalt breit geöffnet und schaute erstaunt auf Karla Albrecht und Reinhard Köhler. „Frau Olischewski?”, fragte Karla. Die Frau nickte. „Mein Name ist Karla Albrecht und das ist mein Kollege Reinhard Köhler. Wir sind von der Kriminalpolizei.” Beide zeigten ihre Ausweise, die Frau Olischewski sorgfältig betrachtete. „ Können wir hereinkommen? Wir müssen mit Ihnen reden.” Frau Olischewski gab ihnen die Ausweise zurück, machte jedoch keine Anstalten die Haustür weiter zu öffnen.

„Mein Mann ist noch nicht da!”, sagte sie. „Muss wahrscheinlich wieder länger arbeiten. Ich weiß nicht, ob ihm das recht wäre, wenn ich Sie hereinlasse.” „Das geht schon in Ordnung.”, sprach Karla in einem sanften Tonfall. „Bitte, wir müssen mit Ihnen reden!” Jetzt öffnete sie die Tür und Karla und Reinhard folgten ihr in das Haus. Frau Olischewski ging voran in Richtung Wohnzimmer. Reinhard blickte sich um. Das Haus war genauso penibel sauber und aufgeräumt wie der Vorgarten. Er fühlte sich in solchen Häusern äußerst unwohl und er hatte außerdem Angst vor der Reaktion der Frau. Ein Blick auf seine Kollegin sagte ihm, dass es ihr genauso ging. Beide hatten schon öfters Todesnachrichten überbracht, und doch war es jedes Mal anders. Manche Angehörigen brachen völlig zusammen, weinten oder schrien hysterisch, andere wurden unnatürlich ruhig und starrten an die Wand, schienen die Nachricht nicht wahrnehmen zu wollen. Es gab sogar welche, die schienen erleichtert zu sein oder im schlimmsten Falle sogar froh.

Frau Olischewski zeigte keine von diesen Reaktionen. Im Grunde genommen reagierte sie überhaupt nicht. Sie blieb auf ihrem Sofa sitzen, schaute die beiden Kriminalbeamten mit genau demselben neutralen Blick an, den sie schon vorher aufgesetzt hatte, bevor Karla ihr behutsam den Tod ihres Ehemannes mitgeteilt hatte. Die Schusswunde hatten sie erst mal nicht erwähnt. „Kann ich Ihnen denn etwas zu trinken anbieten, einen Tee vielleicht. Für Kaffee ist es ja schon ein bisschen spät. Ich muss leise sein in der Küche. Unsere Tochter Pia schläft schon, wissen Sie, aber einen Tee kann ich Ihnen schnell machen.” Sie stand auf und wollte zur Küche gehen. Karla sprang auf und nahm ihre Hand. „Frau Olischewski, haben Sie verstanden, was wir Ihnen mitteilen wollten? Ihr Mann ist tot. Bitte bleiben Sie doch sitzen. Sie müssen sich jetzt erstmal um sich selbst kümmern. Bitte sagen Sie uns die Telefonnummer eines Verwandten oder Nachbarn, den wir benachrichtigen können!”

Die Frau gab ihnen ein wenig zögerlich den Namen einer Nachbarin, und Reinhard Köhler ging aus dem Haus, um bei der genannten Frau zu klingeln. Eigentlich war er sogar froh, dass er kurz aus der Situation heraus kam.

Am Nachbarhaus öffnete ihm eine resolut wirkende, zirka sechzigjährige Frau im Jogginganzug, die, als sie die schlimme Nachricht hörte, sofort bereit war, mitzukommen. „Oh Gott, die arme Frau!”, murmelte sie vor sich hin, wobei sie forschen Schrittes vor Reinhard Köhler zum Nachbarhaus ging: „Was soll sie jetzt nur machen, das Kind ist ja noch so klein. Und Frau Olischewski ist doch so unselbstständig. Ihr Mann hat immer alles geregelt, müssen Sie wissen!” Reinhard Köhler ging mit ihr zusammen zurück zum Haus der Olischewskis, öffnete die angelehnte Haustür und führte die Nachbarin in das Wohnzimmer, wo Frau Olischewski immer noch völlig regungslos auf dem Sofa saß, während Karla Albrecht ihre Hand hielt. Die beiden Kriminalbeamten versuchten noch, ein paar Fragen loszuwerden, und fanden so heraus, dass der Familienvater bei einer Firma für Landmaschinen als Vertreter gearbeitet hatte und viel unterwegs war, ansonsten aber, so sah es aus, ein völlig normales und ruhiges Leben geführt hatte. Schließlich mussten sie ihr, auch wenn es ihnen unsagbar schwer fiel, mitteilen, dass ihr Mann erschossen wurde und nicht durch einen Unfall ums Leben kam.

Während die Nachbarin schreckensbleich die Hand an ihren Mund presste, blieb Frau Olischewski stumm und zeigte erneut keinerlei Reaktion.

Ihre zarten Hände lagen gefaltet in ihrem Schoß. Ihre schmale Gestalt bot einen zerbrechlichen Eindruck und sie tat Karla aus tiefster Seele leid.

Das Angebot, einen Arzt zu rufen oder sonstige professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, lehnte sie kategorisch ab. Allerdings war sie einverstanden, dass sich die Nachbarin in der kommenden Nacht um sie kümmern würde, bis ihre Eltern am darauf folgenden Tag eintrafen.

Reinhard und Karla hatten die Frau schweren Herzens allein gelassen und waren noch bis Nachts um ein Uhr im Präsidium gewesen, um Berichte zu schreiben und die ersten Spuren auszuwerten.

„Ja.“, bemerkte Reinhard und reckte sich in seinem Schreibtischstuhl nach hinten. „Das ist der Stand der Dinge. Zunächst müssen wir erstmal das Ergebnis der Spurensicherung abwarten und die Obduktion der Leiche. Vorher können wir nicht viel machen.”

„Ich begreife das nicht. Ich meine, warum wird ein ganz normaler Familienvater mit einem ganz normalen Job mitten auf der Landstraße in seinem Auto erschossen? Das macht keinen Sinn!”, grübelte Karla und rieb sich mit den Fingerspitzen ihre Schläfen. „Und ist dir das komische Verhalten der Ehefrau aufgefallen? Im Grunde genommen hat sie sich gar nicht „verhalten“. Sie hat keinerlei Regungen gezeigt. Alles sehr seltsam! Ich nehme an, der Schock! O.K. Heute Nachmittag ist die Obduktion abgeschlossen, dann wissen wir vielleicht mehr. Und dann müssen wir Frau Olischewski erneut befragen”

„Und die Nachbarn.”, ergänzte Reinhard.

Mörderliebe

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