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Kapitel 14

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So ganz allein im Bus über die Landstraße knattern, ich genoss es in vollen Zügen. Ich war eine vierundzwanzigjährige Mutter von vier Kindern, die mal eine Auszeit brauchte. Kaum zu fassen, dieses schöne Gefühl von Freiheit. Ich legte die Kassette mit der Musik von Jimi Hendrix ein. ›The wind cries Mary!‹

Im Wald angekommen, ließ ich die Zündung an und die Bustür geöffnet, sodass die Musik nach draußen drang und schmiss mich auf den Boden. Tränen verbanden sich mit dem lockeren Waldboden. Ich schrie ganz leise. Wie gern wäre ich nackt gewesen und mit Henry oder Robert. Oh Gott, ich musste den Gedanken aus meinem Kopf vertreiben. Warum hatte Henry nicht dieselben Wünsche wie ich? Vielleicht sollte ich ihn einfach mal in einen Wald entführen. Kannte er das unbeschreibliche Gefühl, nackt und zu zweit auf einem Waldboden dasselbe zu wollen? Was wusste ich von Henry, was seine Gefühlswelt in der Vergangenheit anbelangte? Eigentlich kannte sich ihn so gut wie gar nicht. Doch war ich mir sicher, dass es noch ganz viel mit Henry zu entdecken gab. Wir hatten ein gemeinsames, spannendes Leben vor uns. Er liebte die Kinder, sodass ich nie vor der Entscheidung stehen müsste: die Kinder oder er. Denn das würde schlecht für ihn ausfallen. Und wenn es mal so kommen würde, dass wir uns nicht mehr liebten? Es machte mir Spaß, solche Gedanken zu haben. Dann würde ich mir Robert fürs Bett nehmen und eine gute Mutter für die Kinder sein. Ich war frei, kein Stück abhängig von Henry. Ich brauchte diese Gedanken, denn Ehe hatte auch etwas Bedrückendes für mich.

Die Auffahrt zum Landhaus. Das erste Tor. Kopfsteinpflaster. Das zweite Tor. Mein Parkplatz, direkt neben dem Holzstall. Ich habe so viele schöne Erinnerungen an diesen Ort. Überhaupt erinnere ich mich bis heute gern an meine Kindheit. Geborgenheit und Liebe haben diesen Lebensabschnitt geprägt. Dafür bin ich meinen Eltern für immer dankbar. Später wollte ich meinen Kindern diesen Ort genauer zeigen. Irgendwie war es auch mein Haus. Evas Haus. Eva und ich, dachte ich, als ich auf den schwarzen Klingelknopf in der runden Messingscheibe drückte. Frau Müller öffnete. Sie machte immer sonntags hier sauber.

»Emilia du! Mädchen, wie gut du aussiehst als Mutter von drei Kindern. Das sieht man dir wirklich nicht an.«

»Von vier Kindern«, verbesserte ich sie.

»Na ja«, sagte Frau Müller.

Onkel Ernst-Walter und Frau von Grosche gab es als Paar erst seit wenigen Jahren, aber sie traten auf wie ein Ehepaar, das die goldene Hochzeit längst hinter sich hatte. Man sagt ja immer, dass gewisse Eigenschaften mit den Jahren auf den Partner abfärben. Bei meinem Onkel und dieser Sybille von Grosche war es das irritierende Dauerlächeln, was ihrem Auftritt in meinen Augen etwas Groteskes verlieh. Ich stand wie angewurzelt da, als die beiden wie eine Wand auf mich zukamen. Ihr Verhalten hatte Kalkül, das war mir schon klar, und dennoch vergaß ich augenblicklich meine Fragen. Warum er meine Eltern nicht mehr besuchte und anrief und was er denn eigentlich gegen mich hätte.

»Emilchen! Ich darf Sie doch so nennen? Kommen Sie Kindchen, setzen Sie sich doch hier in den Sessel. Abends ist das ja immer Walterchens Sessel, aber wir wollen ja keine strenge Platzordnung. Wie geht es Ihren Kindern?«

Frau von Grosche sprach den ostpreußischen Dialekt, wie ich ihn noch von meiner Oma kannte. Diese Sybille und mein Onkel setzten ihre Freundlichkeit wie scharfe Waffen ein und schafften es, ihr Gegenüber damit in Schach zu halten. Sie sah harmlos und nett aus, als sie mich in den großen, hellen Ohrensessel verfrachtete. Eva lag in einem hellbraunen, hautengen Minikleid ausgestreckt auf dem Sofa. Sie sah so aus, als wollte sie sagen: Das ist meine Wohnung und mein Sofa, und ich war schon da, bevor diese Schabracke in Vaters Leben getreten ist.

»Nimm dir Tee!«, sagte Eva, bevor Sybille von Grosche nur auf die Idee kam. Ich war gut erzogen, stand auf, stellte die zarten Tässchen auseinander, goss den Tee ein und reichte ihn den Anwesenden. Zuletzt stellte ich mir eine Tasse hin, nahm ein Gebäckstück, legte es auf den Untertassenrand und setzte mich wieder auf meinen Platz, in den Ohrensessel. Frau von Grosche guckte zufrieden wie eine alte Gouvernante, die einen Schützling beobachtet. Auch ich musterte Frau von Grosche. Die braunen, bequemen Gesundheitsschuhe, der cremefarbene, wadenlange Rock und die dezent gemusterte Bluse, alles teure, gute Qualität. Ihre kurzgewellten, graumelierten Haare brauchten ständig einen exakten Schnitt wegen der asymmetrischen Frisur. Sie wirkte älter als Onkel Ernst-Walter, und ich hielt es für fragwürdig, dass er sie sexuell begehrenswert finden könnte. Aber da gab es ja viele Unmöglichkeiten. Konnte ich mir meinen Onkel überhaupt als Liebhaber vorstellen? Die kleinen Härchen auf meinen Armen standen zu Berge bei dem Gedanken daran. Und was Eva von ihm erzählt hatte. Was verband die beiden?

Eva hatte sich bis zu der Sofalehne hochgeräkelt und flüsterte mir zu: »Achte mal auf den Schmuck, den sie trägt. Die Heiligtümer von seiner Mutter. So was hat meine Mama nie zu Gesicht bekommen.«

Der Schmuck passte überhaupt nicht zu der Frau, fand ich. Der dicke, mit roten Rubinen besetzte Ring an den prallen, kurzen Fingern und die Kette dazu, die man vielleicht zu einem schlichten, schwarzen Kleid in der Oper tragen konnte. Wenn man denn in die Oper ging. Die beiden sahen eher so aus, als würden sie lange Wanderungen unternehmen, Ottensteiner Hochebene, Teutoburger Wald oder Ähnliches.

Ich war so in ihre Gedanken vertieft, dass ich gar nicht mitbekam, was Onkel Ernst-Walter mich fragte.

»Wie bitte, was sagtest du?«

Er wiederholte etwas genervt: »Emilia, du hast ja von Evas Absicht gehört, in Berlin Lehramt studieren zu wollen. Eva erzählte mir auch, dass ihr es voll unterstützen würdet, dass sie dorthin geht. Warum überredet ihr sie zu einem Schritt, dem sie wahrscheinlich nicht gewachsen ist?«

»Wieso«, sagte ich, » ich überrede Eva zu gar nichts. Sie ist doch alt genug, um eigene Entscheidungen zu treffen.«

»Müssen Sie ihr denn den Umzug machen?«, fragte Frau von Grosche.

»Ich möchte, dass Emi und Henry auch sehen, wo ich lande, und du sparst das Geld für das Umzugsunternehmen, Vater«, meinte Eva.

»Wir sind bloß sehr besorgt um unser liebes Evchen«, bemerkte Frau von Grosche. »Mein Neffe und seine Frau sind auch der Meinung, dass eine Stadt wie Berlin für eine junge, unerfahrene Frau wie Eva viel zu gefährlich ist. Die beiden haben Erfahrung mit großen Städten, und ich kenne es aus Hannover, diese Rauschgiftsüchtigen und Kriminellen. Was sagst du dazu, Walterchen?«

»Ich hatte es bis vor kurzem jeden Tag mit Kriminellen zu tun, und dein Mann, Emilia, der kennt sich doch bestimmt gut mit Rauschgiftsüchtigen aus. Wer da erst mal drin ist und mit solchen Leuten in Kontakt kommt, ich weiß ja nicht, na der ist meist verloren. Du weißt, Eva, du bist von der Seite deiner Mutter her sehr suchtgefährdet. Sie hat sich indirekt mit ihren Schlaftabletten und ihrem Alkoholkonsum umgebracht.«

»Ich weiß, dass Eva kaum Alkohol trinkt. Von Rotwein bekommt sie sogar Pickel. Selbst auf unseren Feten konsumiert sie nichts, weder Rauschgift noch Alkohol.«

Es war mir rausgerutscht, am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen.

»Auf Ihren Feten, wie Sie es nennen, gibt es Rauschgift?«, fragte Frau von Grosche und sah Onkel Ernst-Walter siegessicher dabei an.

»Gelegentlich einen Joint«, sagte ich.

»Oh Mann, wie verstaubt!«, entrüstete sich Eva, »wir leben hier und heute und nicht im Mittelalter oder hinter dem Mond.« Sie verdrehte die Augen.

Wir verabschiedeten uns und gingen in Evas Zimmer. Der offizielle Teil der Audienz war zum Glück beendet. Ich hatte eine Platte von Melanie dabei, die ich auf den Plattenteller legte, dann schmiss ich meine Schuhe in die Ecke und tanzte barfuß im Zimmer herum.

»Was glaubst du«, fragte Eva und hielt mir ein großes Foto ihrer Mutter vors Gesicht. »War es Selbstmord oder nicht?«

»Sie hat zu viele Tabletten genommen«, sagte ich, immer noch umhertänzelnd.

»Wie ist doch egal, die Frage ist doch, ob sie es wollte oder nicht.«

Eva stoppte mich, ich war völlig aus der Puste.

»Eher nicht, ich glaube, sie wollte eigentlich noch leben.«

»Glaube ich auch. Die Selbstmordtheorie ist Quatsch. Ich weiß, dass sie es früher öfter mal versucht hat, aber sie war so lebenslustig. Hier…!«

Eva nahm einen Schuhkarton vom Tisch, in dem sich noch mehr Fotos von Tante Doro befanden. Wir sahen uns die Fotos gemeinsam an. Eva streichelte die schöne, lachende Frau auf den Bildern, die aussah wie sie. Tränen liefen ihr übers Gesicht.

»Und das habe ich dir auch noch nicht gezeigt.«

Es war ein Brief des Bruders von Onkel Ernst-Walter. Anscheinend war er in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht. Dafür bedankte er sich bei seinem Bruder, wünschte ihm weiterhin alles Gute und ein erfolgreiches Leben. Hinten auf dem Brief stand ein Absender. Eine Berliner Adresse.

»Ich werde ihn besuchen, wenn ich in Berlin bin«, sagte Eva.

»Verstehst du das?«

»Bis jetzt noch nicht, aber bald«, sagte Eva entschlossen.

Eva zog sich um, dabei schmiss sie alles auf die Erde, was sie ausgezogen hatte und schlüpfte in ihre Reitsachen.

Wir ritten wieder abwechselnd auf Morgenstern und Herr Wille bekam ordentlich Grund zu meckern. Bevor wir gingen, streichelte und liebkoste Eva die Stute.

»Sie wird mir so sehr fehlen.«

Ich beruhigte sie. »Wir werden uns um sie kümmern. Besonders Henry, du weißt, wie vernarrt er in sie ist.«

Als ich Eva nach Hause brachte und vor dem ehemaligen Holzstall hielt, sah ich meinen Onkel mit Frau von Grosche und deren Neffe mit seiner Frau die breite Treppe vor der großen Eingangstür herunter kommen.

»Da ist ja das Gesocks!«, zischte Eva.

Ich tat so, als wollte ich nichts anderes, als Eva zur Tür begleiten, dabei wollte ich den Neffen und seine Frau nur mal aus der Nähe sehen. Wir begrüßten uns und auf den ersten Blick wusste ich, dass mit diesen Leuten etwas nicht stimmte. Mir fielen abgedroschene Begriffe wie Verbrecherbande, Gaunerpaar oder Mafiosi ein, obwohl ich mich innerlich sträubte, voreingenommen zu sein. Onkel Ernst-Walter musste blind sein. Er war Richter. Bei solchen Leuten setzte man doch eine gewisse Menschenkenntnis voraus.

Ich kam im Dunkeln zu Hause an. Henry war guter Laune. Er hatte genügend Hilfe. Gabi und Bernd schleppten die Zwillinge umher, Franziska und Helga brachten die Jungen ins Bett.

In dieser Nacht hatte ich einen unheimlichen Traum. Ich befand ich mich in ›meinem‹ Landhaus und ging die breite Holztreppe hoch, die zu dem Obergeschoß der Appenbrockschen Wohnung führte. Plötzlich war da noch eine breite Treppe, die zu einer Etage führte, die es in diesem Gebäude aber nicht gab. Ganz oben, auf einem Absatz, standen Onkel Ernst-Walter und Frau von Grosche. Sie lächelten und winkten mich zu sich. Mit jeder Stufe, die ich ihnen näherkam, wandelte sich ihr Lächeln mehr und mehr zu bösartigen Fratzen. In Panik lief ich die Treppen herunter und hatte beinah die Tür zum Park erreicht, als ich ein Wimmern vernahm. Ich konnte in den Raum neben dem Ausgang blicken. Eva lag in weitem Pullover und großer Hose auf dem Boden. »Mach die Tür zu, ich muss mich verstecken. Hier finden sie mich nicht«, sagte sie mit dieser piepsigen Kinderstimme. Ich sah mich um. In den Ecken des Zimmers versuchten dicke Nachtfalter sich aus klebrigen Nebelschwaden zu befreien. Ich hörte, wie ihre Flügel auf den Boden schlugen.

Schweißgebadet wachte ich auf. Es gab diesen Raum in dem Haus, dort bewahrten die Bewohner ihre Gartenwerkzeuge auf. Unter der Wohnung, in der Eva und mein Onkel wohnten, gab es noch ein Souterrain mit dem Ausgang zum Park, der terrassenförmig angelegt war. Die obere Stufe der Terrasse war zum Teil gepflastert und einige Räume konnte man nur von außen begehen. Zum Beispiel die Teestube am Fuße des Turms, die seit Tante Doros Auszug ungenutzt und verschlossen auf bessere Zeiten wartete. Direkt über der Teestube waren im Erdgeschoß des Turms die Wirtschaftsräume und darüber das Wohnzimmer der Appenbrocks untergebracht. Schräg darüber befanden sich auf dem riesigen Dachboden drei mit Erkern versehene Räume, die Eva und mir früher als ›Rückzugsdomizil‹, wie Onkel Ernst-Walter es nannte, gedient hatten. Von dem alten Gemäuer war ich schon immer fasziniert gewesen.

Ich blickte zur Uhr. Kurz nach Mitternacht. Henry schlief neben mir. Noch völlig eingenommen von dem Traum, sah ich nach den Kindern, auch sie schliefen alle vier tief und fest. Später saß ich mit den Hunden unten in dem kleinen Gärtchen hinter dem Haus, als Henry kam und mich liebevoll in den Arm nahm.

»Hast du mal wieder schlecht geträumt?«, fragte er.

»Ich glaube, Eva ist in Gefahr.«

»Du kannst dich im Augenblick nicht um alles kümmern.«

Zwei Wochen später fand diese Party bei uns statt, auf die ich mich so gefreut hatte. Aber es verlief mal wieder nicht wie geplant. Meine Eltern konnten die Kinder nicht nehmen, und so hielten die Kleinen Helga und mich den ganzen Abend auf Trab. Robert unterhielt sich angeregt mit Eva, die dann mit ihm im Piratenzimmer verschwand, um ihm die Fotokopien der Briefe zu zeigen, die sie in einem verschließbaren Aktenkoffer mitgebracht hatte. Robert war hochinteressiert und sah sich alles ganz genau an, auch die Fotos von Tante Doro. Henry trank viel und spielte wunderschön Gitarre, seine raue Stimme wirkte wie ein Aphrodisiakum auf mich. Später, als die Kinder endlich schliefen, tanzte er wieder nur mit Gabi. Noch nicht mal an so einem Abend konnte er mir zeigen, dass ich – und nur ich – ihm wichtig war. Er kam gegen Morgen ins Bett und schlief sofort ein, während ich in die Kissen weinte.

Der Schuh

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