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Kapitel 2

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Der Sommer 1975 sollte einiges in meinem Leben verändern. Endlich besaß ich einen Führerschein, was mich aber nicht davon abhielt, mich gelegentlich noch von Robert umherkutschieren zu lassen. Niclas, der Wonneproppen im Hause Weber, kommunizierte nun fleißig mit seiner Umwelt und konnte bereits alleine sitzen. Seine Krabbelversuche schlugen zwar noch fehl, aber er hatte eine Taktik entwickelt, sich so geschickt auf dem Boden umherzurollen, dass er beinah überall hinkam, wo er hinwollte. Es war anstrengender geworden mit ihm, man konnte ihn kaum noch aus den Augen lassen. In einem Monat würde meine Ausbildung beginnen, und dann bräuchte ich meine Mutter für Niclas. Meine Mutter hatte zwar süßsauer gelächelt und ›Ja‹ gesagt, aber ich wusste, wie schwer ihr die Zusage gefallen war. Franziska hatte jahrelang ihre eigene Mutter gepflegt, meine Großmutter, die auch Emilia hieß. Dann war Oma in demselben Jahr gestorben wie ihre Tochter Dorothea, meine Tante, Franziskas Schwester. Jetzt erst hatte sich meine Mutter langsam davon erholt, und eigentlich hatte sie vorgehabt, eine ›Verkaufsecke‹ für Edelsteine in dem Laden einzurichten. Franziska war überzeugt davon, Edelsteine würden nicht nur wunderschön aussehen, sondern auch große Kräfte besitzen. Sie hatte Seminare zu dem Thema besucht und viele Bücher gelesen.

Aber wenn man schon mal an sich selbst dachte. Es tat mir leid – wegen Franziska, aber Niclas brauchte eine Mutter mit einer Berufsausbildung. Es wäre ja nur für kurze Zeit, dann käme er in die Tagesstätte.

Ich war sehr verwundert, als Konstantin mir vorschlug, mit Robert mal ein paar Tage wegzufahren. Sie würden schon auf Niclas aufpassen. So könnte er Franziska mal zeigen, wie wunderbar sich ein Kleinkind in das Berufsleben integrieren ließ. Wie konnte ich nein sagen zu diesem verlockenden Angebot? Robert tauschte für die Fahrt meinen Käfer gegen den VW-Bus von Helga und Paul ein. Der Bus war hinten perfekt ausgebaut, mit einem Bett, auf dem man kuschelig in weichen Fellen lag. Decken und Kissen gab es in mehrfacher Ausführung, schmal, rund, eckig, die Bezüge von Helga selbst genäht. Paul hatte überall Kästen und Fächer eingebaut, die die unterschiedlichsten Sachen beherbergten: Küchenutensilien, ein Mikroskop, Bälle, Spiele, Klopapier und auch sonst alles Mögliche. Man konnte die Vorhänge an den Fenstern zuziehen, sie waren weiß mit gelb-blauen Zauberern drauf. Wir fuhren bei Timmendorf an die Ostsee und zogen von dort ein Stück die Küste hoch. Ein Fach unter dem Bett enthielt flaschenweise Spirituosen, was für mich ein abstinentes Reisen von Anfang an unmöglich machte. Leider war ich die meiste Zeit leicht betrunken und empfand deswegen eine tiefe Scham. Was ich tat, gehörte sich nicht. Schon gar nicht für eine erwachsene Frau mit Kind, fand ich.

Mir kamen Zweifel, ob ich mich jemals ändern könnte, dann wieder versuchte ich mich zu beruhigen, indem ich mir immer wieder selbst versicherte, ich hätte nie ernsthafte Alkoholprobleme gehabt. Allein Zuhause würde ich mich niemals volllaufen lassen, aber immer wenn sich mir in Gesellschaft die Gelegenheit dazu bot, trank ich zu viel, und es war wie eine Sucht, umher zu flippen und hemmungslose Sachen zu machen. So rannte ich zum Beispiel völlig nackt am Strand herum und provozierte damit die Leute. Ich fand, alle sollten so rumlaufen und endlich ihre blöde Verklemmtheit ablegen. Guckten die Männer mir hinterher, stritten ihre Frauen deswegen mit ihnen und zusammen taten sie ihren Kindern gegenüber so, als wäre was falsch daran, nackt zu sein. Dabei hatten Kinder eine völlig gesunde Einstellung zu ihrem Körper. Ich trat damit in viele Fettnäpfchen. Wäre der Alkohol nicht gewesen … Aber egal, beruhigte ich mich, am Strand würde mich ja niemand kennen. Nur noch dieses eine Mal, dann wollte ich für immer damit aufhören. Robert genoss das anscheinend, obwohl er selbst nie seine kühle Zurückhaltung verlor.

Robert machte mit meinem Fotoapparat eine Menge Fotos von mir: ich, nackt in der wellenlosen Ostsee, mit einer Qualle auf dem Kopf, ohne Qualle nackt, nass und nackt im Sand, im Bus, auf den Dünen …

Obwohl Robert der Fotograf war, gab es auch jede Menge Fotos von ihm. Auf allen war er nackt. Allerdings ließ er sich nur an verborgenen Orten fotografieren. Ich fand, er war das perfekte Modell, nur die Orte mussten für fremde Augen nicht zu sehen sein, dann präsentierte er sich gern.

Auf dem Rückweg legten wir einen Stopp in Hamburg ein. Dabei tönte ich rum, wie sehr ich Hamburg mögen würde und dass es ›meine‹ Stadt wäre. Früher hatte ich in den Ferien oft meine Tante Gertrud dort besucht. Als ich fünfzehn war, war ich meiner Tante nachts heimlich abgehauen und auf die Reeperbahn gefahren. Ich fand es schon immer aufregend, etwas zu machen, was meine Eltern nie erlaubt hätten und was mir sehr gefährlich vorkam. Dabei war mir nichts Schlimmes passiert und ich hatte meine heimlichen, nächtlichen Ausflüge in den folgenden Ferien öfter wiederholt.

Wir parkten den Bus auf einem Parkplatz unten an den Landungsbrücken. Ich gab mir besonders viel Mühe mit meinem Äußeren, drehte und wand mich vor dem langen, schmalen Spiegel im Innern des Busses. Leider sah man sich nicht ganz in dem Spiegel. Wahrscheinlich sah ich gut aus in dem knappen schwarzen Rock und den hohen Stiefeln. An dem Abend war es etwas frisch draußen und deshalb stülpte ich mir noch einen hüftlangen Wollponcho über das kleine rückenfreie Hemdchen. Natürlich war alles schwarz, ich trug nun mal gern schwarz. Das passte zu mir. Auch meine leuchtend blauen Augen umrandete ich schwarz. Das harmonierte mit meinen schwarzen Locken und dem blassen, sommersprossigen Teint, der jetzt von der Sonne leicht gebräunt war.

»Nicht die Lippen«, meinte Robert, der mich während der ganzen Zeit beobachtet hatte, »es reicht an Schminke, du siehst auch so traumhaft schön aus.«

Robert trug mal wieder Jeans und Hemd von einer teuren Markenfirma. Seine langen blonden Haare hatte er in der Mitte gescheitelt und hinten zu einem Zopf geflochten. Robert war auf eine zurückhaltende Art eitel und ein wahnsinnig gut aussehender Mann. Er lächelte verstohlen, als ich ihm das sagte.

Ich fühlte mich so, als würde ich mich auf der Reeperbahn auskennen, dabei war ich das erste Mal in dieser Diskothek, in der ich mit Robert gelandet war. Nach dem zweiten Drink tanzte ich sofort, während Robert das machte, was er am liebsten tat: Menschen beobachten.

Nach einer ganzen Weile und dem vierten Drink sah ich, wie Robert sich mit einer sehr jungen Frau unterhielt. Die Musik war laut, und im Flackerlicht sah ich die beiden da stehen. Ich ging auf Robert zu und küsste ihn provokativ. Dann schrie ich der Frau ins Ohr, so dass er es auch hören musste.

»Er gehört mir zwar nicht, aber wenn du ihn haben willst!«

Robert brüllte mich an: »Hör auf mit dem Blödsinn!«

Die junge Frau warf mir einen wütenden Blick zu, bevor sie sich auf die Tanzfläche begab. Sie war ein kleines, zartes Geschöpf mit Schmollmund und einem äußerst puppenhaften Äußeren. Eigentlich so gar nicht Roberts Typ.

Warum starrte er sie dann so an?

An der Bar genehmigte ich mir noch einige Drinks. Wieder stand die junge Frau neben Robert. Ich schätzte ihr Alter auf höchstens siebzehn und entschloss mich, die Kleine ›Puppe‹ zu nennen. Das war zwar albern, aber der einzige Begriff, der mir dazu einfiel.

»Puppe, lass dich mal von ihm fotografieren!«, brüllte ich ihr ins Ohr. »Er macht super Fotos!«

»Ist er Fotograf?«, fragte die Puppe.

»Und was für einer!«, schrie ich.

»Bezahlt er für die Fotos?«, wollte sie wissen.

»Frag ihn doch selber!«

Inzwischen war mir das Ganze zu blöd. Er wollte keine Familie, also waren wir frei. Warum sollte Robert dann nicht mit anderen Frauen neben mir zusammen sein? Mit so vielen und so lange und so oft er nur wollte. Und ich auch. Mit so vielen anderen Männern, wie ich nur wollte. Alles in mir sträubte sich gegen diese Vorstellung, aber es war die ehrliche Version von dem, was bisher zwischen uns gelaufen war. Wir brauchten nicht mehr so zu tun, als würde sich aus unserer Beziehung noch mal was Ernstes entwickeln.

Während ich Robert umarmte, schrie ich ihm ins Ohr: »Ich gehe dann mal, wir treffen uns hier oder am Auto!«

»Spinnst du«, brüllte er zurück. »Wo willst du denn jetzt so alleine hin!?«

Der Schuh

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