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Auf dem Rodewaldhof

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Sie richteten unter jung und alt ein Blutbad an; junge Männer, Frauen und Kinder kamen um, man erstach Mädchen und Säuglinge. (Mark 5,13)

Vater Roche berichtete von großen Plakaten, auf denen alle Männer von 16 bis 55 aufgefordert wurden, sich sofort bei der sowjetischen Kommandantur Im „Deutschen Haus“ zu melden und sich registrieren zu lassen. Wer diesen Befehl nicht befolgte, wurde mit der Todesstrafe bedroht. Wir gingen erst gemeinsam in den Rodewaldhof, denn er war nach der Erschießung meines Onkels wirklich feindfrei. Der Hof - sonst immer sauber und gepflegt - sah ganz fürchterlich aus. Als ob man den Inhalt von mehreren Kleiderschränken auf dem Pflaster und auf dem Misthaufen verteilt hätte. Dazwischen große Mengen vernichtete Lebensmittel, zerbrochene Einweckgläser, tote Schweine, aus denen man nur Stücke herausgeschnitten hatte, aufgeschlitzte Getreidesäcke, Pferdekadaver, tote Hühner zwischen Erntemaschinen und Gerät. Die beiden Traktoren waren verschwunden, das Auto natürlich auch, und von den vierzig Stück Rindvieh im Kuhstall hörte man nicht einen Ton. Es war tot oder weggetrieben worden. Das Chaos kann man nicht beschreiben, weil der deutschen Sprache die Worte dafür fehlen, das hebräische Wort Tohuwabohu wäre vielleicht dafür ange - messen. - Später sahen wir, daß es auf allen Höfen, in und um Wohnhäuser und auf den Straßen ebenso aussah. Fabriken allerdings hatte man überall verschont.

Wir gingen in das Haus. Alle Türen standen offen. Keinen Menschen fanden wir. In den Zimmern aber das gleiche Chaos wie draußen. Man mußte über Berge von Hausrat, Wäsche, zerstörte Lebensmittel, dazwischen stinkende menschliche Exkre - mente und über alle möglichen Sachen steigen. Wir gingen die Treppe hoch, weil wir unten niemanden fanden. Am langen Flur im Obergeschoß waren etwa sechs Zimmer angeschlossen. Im hintersten Zimmer fanden wir die Familie: Tante Gretel - mit einer unglaublichen Fassung hieß sie mich und Reinhard willkommen, ebenso meine Großmutter. Beide Frauen weinten nicht, sondern schienen alle Kräfte darauf zu konzentrieren, die Familie am Leben zu erhalten: Sechs Kinder, der älteste 10 Jahre und die jüngste, vielleicht 7 Monate alt - Mechthild: Sie starb einige Monate später

bei der wilden Vertreibung der Deutschen durch die polnische Miliz im Juni 1945 an Hunger und Entkräftung. Noch heute liegt ihr kleiner Leichnam in irgendeinem Stra - ßengraben zwischen Sommerfeld (Lubsko) und Forst verscharrt. Die Stelle weiß keiner mehr; denn die schwerbewaffnete Miliz trieb damals die Menschen - fast nur Frauen, Kinder und alte Leute, die Männer waren in Gefangenschaft - erbarmungslos weiter der Lausitzer Neiße entgegen bis nach Forst. Viele alte Leute und Kinder kamen auf diesem Gewaltmarsch elend um.

Um die deutschen Soldatengräber sorgt sich heute in vorbildlicher Weise die deut - sche Kriegsgräberfürsorge. Soldatengräber stehen ja unter völkerrechtlichem Schutz. Von den Gräbern der Vertriebenen an den Straßenrändern Niederschlesiens aber will niemand mehr etwas wissen, weder in Deutschland noch in Polen. So liegen die Toten noch heute dort, wo sie im Juni/Juli 1945 flüchtig verscharrt wurden. Übrigens ist die Zahl der Flucht- und Vertreibungsopfer mehr als doppelt so hoch als die der im Kriege gefallenen Soldaten aus dem gleichen Vertreibungsgebiet. Darüber gibt es einigermaßen gesicherte Zahlenangaben, die Mitte der sechziger Jahre im Auftrag der Bundesvertriebenenministeriums ermittelt und dokumentiert worden sind. 4 Heute sind sie verdrängt und vergessen. Wer es wagt, sie auch nur zu erwähnen, wird in der deutschen Öffentlichkeit sogleich als revanchistischer Aufrechner vorgeführt. - Auch meine Großmutter, eine sehr agile Frau, die nie einen Arzt brauchte, starb einige Zeit darauf in Potsdam.

Doch zurück zum Abend des 16. Februar 1945: Kinder und Mutter berichteten mir von der Erschießung ihres Vaters, meines Onkels Alfons: In den Tagen vor dem Russenein- marsch lagerten hunderte Flüchtlinge im Haus und im Hof. Die durchziehenden Trecks blieben immer nur eine Nacht, und in der hektischen Atmosphäre jener Tage war vieles im Haus oder auf dem Hof vergessen worden und liegengeblieben. Die Russen fanden bei der ersten Hausdurchsuchung irgendwo einige Patronen Pistolenmunition. Sie forder- ten von meinem Onkel die dazugehörende Pistole. Er hatte aber keine - er hat nie eine besessen. Das glaubten sie nicht und gaben ihm eine Nacht lang Bedenkfrist: „Wenn Du Deine Pistole nicht bringst, wirst Du erschossen.“ In dieser Nacht wachte er mit seiner Familie im Keller. In dieser Nacht bekam er weiße Haare. Am frühen Morgen führten sie ihn ab. Von den bittenden und weinenden Kindern ließen sie sich nicht rühren. Sie trieben ihn in eine nahe Ziegeleigrube und erschossen ihn dort. Weil sie seinen Ehering nicht abziehen konnten, schnitten sie ihm den Ringfinger ab.

Sein zehnjähriger Sohn Eberhard holte mit Großmutter die Leiche seines Vaters; er trans- portierte sie mit einer Schubkarre, weil nichts anderes mehr zur Verfügung stand. Fast gleichzeitig plünderten die Russen das Wohnhaus und den Hof.

Später - vor allem in der Sowjetzone - hörte man sehr oft von der außerordentlichen Kinderliebe der russischen Soldaten. Ich habe ja selbst diese Legende weitererzählt. Doch erlebt habe ich diese Eigenschaft der Russen nicht, jedenfalls in Schlesien nicht. Dort sind viele Kinder elend verhungert und umgekommen, weil ihre jungen Mütter ohne Rücksicht auf die Kinder von sowjetischen Soldaten umgebracht wur - den. Möglicherweise kristallisierte sich die russische Tugend der Kinderliebe erst einige Monate später heraus - in Mitteldeutschland und in Berlin - als der erste Haß schon verraucht war.

Im gleichen Zimmer - mit der ganzen Familie - durften wir übernachten. Um Mitter- nacht schreckten uns laute Schritte auf der Treppe, schlagende Türen und Gebrüll auf. Zwei Russen standen plötzlich in unserer Tür, leuchteten mit ihren Lampen alle an und gingen wortlos wieder herunter. Am Morgen marschierten nun Reinhard und ich ban- gen Herzens in die Stadt. Bald sahen wir rote Plakate, mit denen alle Männer unter Todesstrafe zur Registrierung ins Hotel „Deutsches Haus“ aufgefordert wurden. Wir trösteten uns mit dem Hotel: Das kann ja so schlimm nicht werden. Da wir noch eine Stunde Zeit hatten, machten wir einen kleinen Umweg in unser Wohnviertel an unseren Häusern vorbei. Auch dort sah es so schlimm aus, daß mir für die Schilderung dieser Zustände die Worte fehlen. Was allein an Hausgeräten, an Wäsche und dazwischen an toten Menschen und Tieren auf den Straßen und Wegen lag, ist nicht zu beschreiben. Darüber fuhren ungerührt russische Armeeautos. Ich konnte sogar einen Blick in unser Haus werfen - nur einen Blick freilich. Denn einmal kam ich nur bis in unsere Diele, an der Wohnzimmer und Küche anschlossen, zum anderen mußte man sehr vorsichtig sein, um nicht von einer Streife gefaßt zu werden. Meine Mutter hortete als Bauern- tochter immer viele Vorräte - schon deshalb, weil sie überzeugt davon war, daß es nach dem Kriege schwere Notzeiten geben würde. Auf einem riesigen Berg von Mutters Wäschebeständen, - dem Stolz einer schlesischen Hausfrau -, alles durcheinanderge- worfen, zertreten und verdreckt auf dem Fußboden, hatten sie Weckgläser jeglichen Inhalts zerbrochen und verteilt, zerschlagene Bilder, zerrissene Bücher, zertrümmertes Küchengeschirr, eingetretene Schranktüren, dazu die bereits verdorbenen Speisereste vom Siegesmahl der russischen Soldaten. Wie eine Krönung auf diesem Berg Unrat mehrere Haufen stinkenden menschlichen Kots. Ich ging fassungslos weg, so schnell ich konnte. - Zu unserer Nachbarin, Frau Rieger, traute ich mich nicht; hatte ich doch vom schrecklichen Ende unserer Spielgefährtin Jutta schon erfahren.

Später hörte ich dann, daß meine Großmutter die Verwüstung in unserem Haus wie - der in Ordnung brachte. In wochenlanger Arbeit wusch und reinigte sie Wäsche- und Kleidungsstücke, reparierte, was noch verwendbar erschien, sortierte es ein, reinigte

4 Dokumentation der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße. Band 1/1 Hrsg. Bundesvertriebenenministerium Kap. II : „Die Verluste der deutschen Zivilbevölkerung östlich der Oder- Neiße im Verlaufe der Vertreibung“, Weltbild Verlag Augsburg 1992, S. 158/159E. Für den Zeitraum ab Kriegsende (Mai 1945) sind dort 1,6 Millionen umgekommene Zivilpersonen angegeben (außer Sudetengebiet); das sind über 15,8% der Gesamtbevölkerung des ehemaligen Ostdeutschland. Verglichen mit der Zahl der gefallenen deutschen Soldaten aus dem gleichen Vertreibungsgebiet, ist die Zahl der Vertreibungsopfer mehr als doppelt so hoch.

das Haus vom Keller bis zum Boden und ließ auch notwendige Reparaturen durch - führen. Bald mußte sie jedoch erkennen, daß sie diese enorme Arbeit nur für die einrückenden Polen erledigt hatte, die das geordnete Haus mit weniger als einem Federstrich beschlagnahmten, und es für immer als ihr rechtmäßiges Eigentum be - trachteten. Meine Großmutter verfügte über einen reichen Bestand an Sprichworten, eines davon sagte sie uns, ihren Enkeln, viel öfter, als wir es hören wollten: „Unrecht Gut gedeihet nicht!“ Wenn sie heute den Zustand „unseres“ Hauses und „ihres“ Ro - dewaldhofes sehen könnte, würde sie ihr weises Sprichwort bestätigt finden. -

Mit Reinhard ging ich in die Stadt in Richtung des Ringes zum Hotel. Die Straßen waren streckenweise nur mit Mühe begehbar. Über einem Zaunpfahl noch auf der Amtsstraße hing eine neue Jacke, mit auffälligem Preisschild und Markenzeichen wie eine Werbung; unmittelbar davor, auf der Straße und im Rinnstein, lag eine gan - ze Wagenladung neuer Textilien im schmutzigen Schneematsch breitgefahren. - Aus einigen Häusern hatte man offenbar das gesamte Mobiliar aus den Fenstern gewor - fen. Dann aber belästigte uns immer intensiverer Brandgeruch, und bald sahen wir die Verwüstung: Ganze Straßenseiten in der eng bebauten Innenstadt waren abge - brannt, auf der Glogauer Straße die ganze linke Seite, die ganze Klosterstraße und andere mehr. In vielen Brandruinen schwelte und rauchte es noch. Freystadt hatte im Mittelalter mehrere verheerende Stadtbrände erlebt, wie die alte Chronik berichtet. Dieser aber - in der Nacht vom 14. zum 15. Februar 1945 - steht den historischen Bränden nicht nach. Bald erfuhren wir auch, daß sie den Deutschen, die Löschmaß - nahmen ergriffen, jedes Löschen mit Strafandrohungen verboten hatten. Einige, die beim Löschen dann ertappt wurden, sollen sogar erschossen worden sein. Ich besitze darüber aber keine gesicherte Aussage. Das Brandbild jedoch - immer komplette Straßenzeilen - verleiht dieser Behauptung eine gewisse Wahrscheinlichkeit.

Vergangenheit, die nicht vergehen will

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