Читать книгу Vergangenheit, die nicht vergehen will - Gerold Schneider - Страница 9

Die Russen kommen

Оглавление

Frauen hat man geschändet, Jungfrauen in den

Städten von Juda. (Klagelieder 5,11)

Wir saßen im Keller: Die Eltern Roche, die Kinder Mimi und Reinhard, ich und noch drei oder vier Nachbarn. Alle bestärkten sich gegenseitig in der Überzeugung, daß es so schlimm nicht werden könnte. Schon bei Dunkelheit hörten wir die ersten russi - schen Kommandos auf der Straße. Es dauerte nicht lange, da kamen zwei sowjeti - sche Soldaten unsere Kellertreppe herunter. Sie hatten offenbar große Eile, suchten vor allem Soldaten und verschwanden wieder. Von der Straße hörten wir Gebrüll und wildes Herumknallen. Wer uns beiden Jungen nun den Rat gab, möglichst schnell zu verschwinden, weiß ich nicht mehr. Der Keller hatte einen Hinterausgang durch die Garage. Reinhard, seine Schwester Mimi und ich, schlichen durch den Garten, der unmittelbar an die Bahnstrecke nach Sagan grenzte, die glücklicherweise nicht auf einem erhöhten Bahndamm sondern etwas niedriger lag. Dahinter war ein großes Schrebergartengebiet, in dem wir untertauchten. So weit wie möglich von den Häu - sern entfernt, öffneten wir eine Gartenhütte, eigentlich nur einen Werkzeugschuppen. Dort verbrachten wir frierend die Nacht vom 13. zum 14. Februar.

In aller Frühe, es war noch stockfinster, wagten wir uns noch einmal in den Keller zu Roches. Alle waren hellwach und in einem ebenso verzweifelten wie völlig nervösen Zustand. Vater Roche sagte, daß die ersten Kampftruppen sich anständig verhalten hätten, aber was die ganze Nacht danach kam, wäre entsetzlich gewesen. Wir konn - ten es im Nachbargarten - die Häuser standen keine 10 m voneinander entfernt - selbst sehen: Da lag die schrecklich entstellte Leiche der Nachbarin, einer alten Frau, deren erwachsene Tochter sich kurz darauf erhängte. Einige Zeit vorher hatte sie die Nachricht bekommen, daß ihr Ehemann an der Ostfront vermißt war. Das geschah

auf der Ostmarkstraße; ich muß es deshalb erwähnen, weil sich bei unseren Nach - barn auf der Hindenburgstraße ähnlich Schreckliches ereignete; doch davon später. Es blieb uns keine Zeit Einzelheiten zu erfahren, denn Vater Roche forderte uns dringend auf, sofort irgendwohin weiterzuziehen und uns zu verstecken.

Reinhard, seine Schwester Mimi und ich rafften schnell ein paar Lebensmittel zu - sammen, nahmen je eine Decke mit und zogen los. Die Finsternis am frühen Morgen war unser Glück. Wir stapften durch die Schrebergärten, dann über freie Felder bis zum Röseleiweg hin und trafen auf den dort sehr einsam liegenden Bauernhof. Zwei oder drei ältere Männer standen vor dem Haus; kaum daß sie uns sahen, von weitem schon winkten sie und forderten uns auf, sofort in Richtung Röselei weiterzugehen, wenn uns unser Leben lieb wäre, und uns irgendwo zu verstecken. Denn die Russen hätten bei ihnen unvorstellbar gehaust. Hier hörten wir zum ersten Mal von Morden und von Vergewaltigungen. So verbrachten wir den Tag in dem unübersichtlichen und bergigen Waldgelände der Röselei. Als Kinder gingen wir dort oft zum Rodeln hin. Denn es gab dort eine gute Rodelbahn, an deren unteren Ende, am Waldrand, die

„Schäferei“ stand. Das war ein Jahrhunderte altes Haus zwischen uralten Bäumen - von einfachen Leuten bewohnt - und von dort hatte man einen wunderschönen Aus - blick auf die etwa 4 Kilometer entfernte Stadt. Nun mußten wir unsere schöne Ro - delbahn, die durch den herrlichen Hochwald steil bergab führte, zu Fuß laufen, ob - wohl noch Schnee lag, der aber seit kurzem schon taute. Es gab uns etwas Sicherheit, daß wir nirgends Auto- oder gar Panzerspuren, kaum Fußabdrücke entdeckten. Ir- gendwann aber, so sagten wir uns, würden die Russen nicht dieses abgelegene Wald - gebiet durchkämmen.

Die Röselei, ich weiß es nicht, wie sie heute auf polnisch heißt, ist ein Teil des nie - derschlesischen Landrückens, einer bezaubernden Hügellandschaft. Deshalb waren wir als Kinder auch so oft dort. Wir erinnerten uns an diesem düsteren 14. Februar vieler froher Erlebnisse unserer Kindheit, erzählten uns auch von den ganz besonde - ren Steinen, die wir in der Röselei suchten; Adlersteine nannten wir sie als Kinder. Es waren Steine mit schwarzen, meist sternförmigen Einschlüssen; mit viel Phanta - sie konnte man sie vielleicht auch als Adler deuten. Begeistert tauschten wir dann die schönsten Steine untereinander. - So sprachen wir lange über unsere nun verlorene Kindheit, wollten uns wohl auch von den schrecklichen Ereignissen ablenken, denn wir hatten viel Zeit, weil wir stundenlang die Schäferei beobachteten, und uns erst bei beginnender Dunkelheit an das alte Haus heranwagten. - Heute ist es nicht mehr da; Bäume wachsen dort, als ob niemals Haus und Hof dort gestanden hätten. So ist es übrigens auch in vielen niederschlesischen Dörfern. Nur wer sie früher genau kannte, weiß wie sehr diese Dörfer in den vergangenen fünfzig Jahren „ausgelichtet“ worden sind. Wo früher einmal stolze Bauernhöfe standen, wachsen heute Bäume. Mitunter kann man die verschwundenen Höfe nur noch an einigen übrig gebliebe - nen, verwilderten Obstbäumen erkennen.

Als wir das Haus endlich betreten wollten, erschreckten wir uns sehr. Reinhard hatte als erster in dem kleinen Kellerfenster einen schwachen Lichtschein gesehen. Wieder beobachteten wir, ich weiß es nicht mehr wie lange. Schließlich wagten wir uns hin - ein. Die Küche und das Wohnzimmer waren noch nicht einmal vollständig ausge - kühlt. Mobiliar stand noch drin, doch Schränke und Kommoden hatten die Besitzer fast leergeräumt. Kaum ein Teller stand im Küchenschrank. Alles aber fanden wir ordentlich, der Fußboden sauber, nichts durcheinandergeworfen; was wir als Beweis deuteten, daß Russen dieses einsame Haus noch nicht gefunden hatten. An den klei - nen Fenstern hingen sogar dichte Vorhänge, die wir sofort schlossen, denn wir muß - ten mit dem Licht unserer Taschenlampe sehr vorsichtig umgehen. Doch zuerst schlichen wir ängstlich wegen des Lichtscheins in das uralte, tiefe Kellergewölbe, das gewiß jeden Artilleriebeschuß ausgehalten hätte. Dort stand auf einem Hocker eine völlig heruntergebrannte Kerze, die gerade noch ein bißchen flackerte. Die Be - wohner mußten also vor vielen Stunden schon geflohen sein. - Draußen aber ver - stärkte sich ein anderer Lichtschein, der von weiter her kam. Wir traten vor das Haus und sahen zu unserem Entsetzen, wie die eng bebaute Altstadt von Freystadt in hel - len Flammen stand. Das über 700 Jahre alte Städtchen besitzt noch heute einen dop - pelten Stadtmauerring aus dem 14. Jahrhundert, in dem die Häuser - viele aus der Barockzeit - eng gedrängt stehen. Bald brannte auch der Rathausturm wie eine riesi - ge Fackel. Angst um unsere alte Kirche bewegte uns, weil sie nur fünfzig Meter vom Rathaus entfernt steht; doch sie wurde vom Stadtbrand nicht erfaßt. Wir hörten noch den durchdringend scheppernden Klang der Rathausglocke, wie sie im Feuer herab - fiel, und fragten uns, ob die Russen die Stadt vorsätzlich angezündet hätten. Es gab zwar beim Einmarsch der Russen auch Brände in der Innenstadt. Doch nun waren die Kämpfe schon seit über 24 Stunden vorbei. Wir kannten beide die Walter’sche Stadtchronik, in der die historischen Stadtbrände beschrieben sind, der letzte große Brand im Jahre 1637.

Der Studienrat im Glogauer Wehrbezirkskommando hätte statt auf Goethes und Schillers Geburtsdaten besser auf den berühmten Barockdichter Schlesiens verwie - sen: Der Glogauer Andreas Gryphius (1616-1664) hatte schon dreihundert Jahre früher dieselben Erlebnisse am selben Ort, den „Untergang der Stadt Freystadt“ in sechsfüßigen Jamben (Alexandrinern) gereimt. 3

Später erfuhren wir, daß der Stadtbrand eine Strafmaßnahme der Russen war. Ein Hitlerjunge hatte auf der Sprottauer Straße - vor dem Kommunikandenstift - einen russischen Panzer T 34 mit einer Panzerfaust abgeschossen. Dieser Junge soll erst 13

Jahre alt gewesen sein. Es wurde auch erzählt, daß Hitlerjungen einen sowjetischen

Parlamentär, der mit einer weißen Fahne in die Stadt kam, niedergeschossen hätten. Daran haben wir nicht gezweifelt. - Doch auch andere schlesische Innenstädte brann - ten die siegreichen Soldaten der Roten Armee lange nach den Kämpfen nieder. Au - genzeugen erzählten uns übrigens später, daß alle Löschversuche vergeblich waren, einmal weil es kein Wasser mehr gab, zum anderen weil Russen die Bemühungen gegen das Feuer anzukämpfen, behinderten.

Wir gingen traurig in die alte Schäferei zurück und legten uns todmüde auf die leeren Bettgestelle, einigermaßen sicher, daß die Russen in der Stadt ihr Freudenfest feier - ten und bestimmt nicht in unsere verwunschene Gegend kommen würden. Das war die Nacht vom 14. zum 13. Februar 1945. Zeitig wachten wir auf. Frühstück? Wir wagten es nicht, im Herd Feuer zu machen. Im Rucksack hatten wir Hartwurst, ein bißchen Kuchen, kein Brot - eben nur das, was wir bei Roches in Eile einstecken konnten. Irgendwann an diesem Morgen verließ uns Reinhards Schwester, weil sie nach Hause wollte. Wir aber gingen in den Wald, und ich kann es nicht mehr sagen, wie wir den Tag verbrachten. Wir sprachen darüber, auf welchen Wegen wir im wei - ten Bogen die Stadt umgehen könnten, diskutierten schließlich den Gedanken, im Westen, bei Naumburg am Bober, wieder die deutsche Front zu erreichen, die es ja eigentlich gar nicht gab.

Nach stundenlangem Aufenthalt in dem ziemlich dichten Wald der Röselei gingen wir in unübersichtlichem Gelände bis zur äußersten Grenze der großelterlichen Ro - dewald-Felder, die sich in relativ schmalem Streifen drei bis vier Kilometer nach Westen bis zum Rodewaldhof erstreckten. Da der einzige Feldweg teilweise als Hohlweg durch die Hügellandschaft des niederschlesischen Landrückens führt, fast immer durch Buschwerk, Bäume und Hecken gedeckt ist, schlichen wir ihn entlang auf den Rodewaldhof zu. Am frühen Nachmittag kamen wir an die schwierigste Stelle, dort wo der Feldweg die Fernstraße nach Sprottau kreuzt, die viel später bei den Polen sogar Europastraße wurde. Lange beobachteten wir den Verkehr und be - kamen es mit der Angst zu tun. Mit ganz unterschiedlichen Abständen fuhren einzel - ne russische Autos, ganze Kolonnen und bespannte Wagen auf der Straße. Nicht selten schossen russische Soldaten von ihren Wagen aus einfach so in die Gegend. Wir waren keine 200 Meter von der Straße entfernt, als ein russischer Wagentreck hinter dem nächsten Hügel auftauchte. Wir legten uns schnell auf die Erde, auf eine schneefreie Stelle und schlugen die graubraunen Decken über uns. Und so wurden wir tatsächlich nicht gesehen.

Auf der anderen Seite der Straße nahm uns Wald auf, - Himbeerwald nannten wir ihn als Kinder. Am südlichen Waldrand entdeckte ich zwei tote deutsche Soldaten. Es

3 „Über den Untergang Freystadts“ von Andreas Gryphius - gekürzter Text: siehe Anhang Seite 314 - Gryphius erlebte den Stadtbrand 1637 von der Schönbrunner Straße aus, wo er im Vorwerk wohnte. Nach dem Kriege sind die Gebäude des Vorwerks abgerissen und durch eine Wiesenfläche ersetzt worden. (Die Schönbrunner Straße ist eine Nebenstraße zwischen Niedersiegersdorf und der Lorenzstraße in der Nähe des Bahnübergangs, unweit vom Kalkreuther Schloßpark).

gab keine Chance, sie zu begraben, denn sie lagen viel zu nahe an der Straße; ihre Waffen waren zwar dort, aber einen Feldspaten hatten sie nicht. Im Juni 1946 - über ein Jahr später - kam ich wieder an diese Stelle, diesmal unter Bewachung eines polnischen Milizionärs, da lagen die beiden toten Soldaten immer noch dort; doch es waren nur noch die mit Uniformfetzen dürftig bedeckten Knochengerippe übrig geblieben. Waldameisen hatten ihr Werk getan. Wieder gab es für mich durch den drängelnden Milizionär keine Möglichkeit, sie zu begraben. -

Damals aber gingen wir schnell weiter. Das Gelände wurde günstiger für uns, weil es ziemlich viele Deckungsmöglichkeiten bot. Wir mußten zwar noch die Bahnlinie Freystadt - Sagan kreuzen; doch das war weniger gefährlich als vorher die Straße. Vom Wald aus, der etwa 500 Meter vom Rodewaldhof entfernt liegt, beobachteten wir lange die Bewegung im Hof und in den Nachbargrundstücken. Es erschien uns alles ruhig. Als es dunkelte, erreichten wir die vom Waldrand nur etwa 100 Meter entfernte offene Feldscheune. Fast bis unter das Dach war sie mit der vorjährigen Ernte gefüllt. Die schlesischen Bauern droschen ihr Getreide hauptsächlich im Win - ter. Dort wollten wir übernachten. Als wir die sauber gestapelten Getreidebündel, eher einer Wand ähnlich, emporkletterten, hörten wir oben Laute und bekamen es mit der Angst zu tun. Doch stellte sich schnell heraus, daß Mädchen und junge Frau - en aus den Höfen des Dorfes hier eine Zuflucht gefunden hatten. Sie erzählten uns erschüttert und halbverwirrt, wie die russischen Soldaten bei ihnen gehaust hatten, von brutalen Vergewaltigungen, von wahllosen Erschießungen. Auch daß mein On - kel Alfons Rodewald am Tage zuvor erschossen wurde, erfuhr ich von ihnen. Das war die Nacht vom 15. zum 16. Februar.

Die Frauen und Mädchen gingen früh am Morgen sehr zeitig bei völliger Dunkelheit ins Dorf zurück, denn es war kalt. Sie müssen im Dorf von uns erzählt haben. Ir- gendwie ist unser Versteck Reinhards Vater zu Ohren gekommen. Wir wollten tags - über bis zum Einbruch der Dunkelheit in der Scheune bleiben. Freilich hatten wir Angst davor, daß Russen in die Nähe kommen und das Getreide anzünden könnten. Denn von unserem erhöhten Ausguck sah man im Umkreis mehrere sehr große Brandherde. Erst viele Monate später wurde die Feldscheune mit der Getreideernte eines ganzen Jahres angezündet und brannte wie eine riesige Fackel ab.

Am späten Nachmittag aber hörten wir plötzlich die bekannte Stimme von Vater Roche. Er rief uns herunter und berichtete uns von schrecklichen Ereignissen. Min - destens 70, in der großen Mehrzahl alte Männer und junge Frauen sind zum Teil nach brutalen Folterungen erschossen worden. Kaum eine Frau oder ein Mädchen - von 10 bis über 70 Jahren - kam ohne Vergewaltigungen davon, oft standen 20 und mehr Russen vor einer Frau Schlange, bis sie „drankamen“. Unsere knapp 13 jährige Nachbarstochter, Jutta Rieger, wurde so oft im Beisein ihrer Mutter vergewaltigt, daß sie sich nachher auf den Dachboden schleppte und erhängte. Sie war das einzige Kind des Malermeisters Rieger, der wenige Monate zuvor an Krebs verstorben war.

Auf der Hindenburgstraße war Jutta fast unsere einzige Spielgefährtin. Denn etliche Kinder aus Nazifamilien durften mit den Schneider-Kindern und der Jutta Rieger nicht spielen. Vater Rieger war eben kein Nazi, und Frau Rieger hatte sich bewußt dafür entschieden, nicht vor den Russen zu fliehen, weil sie die Nazipropaganda für verlogene Greuelpropaganda hielt. Sie hat schrecklich dafür gebüßt.

Vergangenheit, die nicht vergehen will

Подняться наверх