Читать книгу Vergangenheit, die nicht vergehen will - Gerold Schneider - Страница 4

Die Jugendzeit fiel für unsere Generation aus

Оглавление

Das Kriegsende fand für uns schon am 13. Februar 1945 statt; so glaubten wir we - nigstens, als an diesem Tage die Rote Armee meine Heimatstadt Freystadt/Nieder - schlesien einnahm. Wir - mein Schulkamerad Reinhard Roche und ich - beide gerade

17 Jahre alt geworden und deshalb wehrpflichtig, entzogen uns der Wehrmacht, mel - deten uns auch nicht beim Volkssturm; wir ließen uns von den Russen „überrollen“; so nannten wir es damals. Mit diesem Wort ist übrigens auch unser jugendlicher Leichtsinn charakterisiert, den wir damals mit Mut verwechselten. Denn wenn deut - sche Militärpolizei solche Leute wie uns aufgriff, machte sie in der Regel kurzen Prozeß. Unter der häßlichen Beschuldigung, Deserteure zu sein, wurden sie in jenen Tagen, ohne viel zu fragen, sofort an die nächstbeste Wand gestellt. - Wir aber hatten großes Glück, und von diesem Tage an befanden wir uns im roten Herrschaftsgebiet. Daran hatten wir ja unsere Hoffnung geknüpft, nun endlich vom mörderischen Krieg und vom verhaßten Naziterror frei zu werden, genau wie es uns die Sender BBC London und Radio Moskau nicht selten verheißen hatten. Deshalb waren für uns Rot oder Braun unvereinbare Unterschiede, zwischen denen nicht nur weltanschauliche Abgründe lagen, sondern Frieden oder Krieg, Befreiung oder Diktatur.

Diese unsere Hoffnung aber erwies sich schon in der folgenden Nacht vom 13. zum

14. Februar 1945 als lebensbedrohende Illusion. Denn was uns in den nächsten Ta - gen mit Urgewalt überfiel, war um Größenordnungen schrecklicher als alles, was wir bisher erlebt hatten: Der Terror, der existenzbedrohende Hunger, die tägliche Todes - gefahr, die totale Rechtlosigkeit und die vielen Kameraden, ebenso Frauen und Kin - der, die rechts und links von uns elend zugrunde gingen. Sie zwangen uns eine neue Deutung des 13. Februar 1943 auf: Mit diesem Tage begann nicht der Friede, schon gar nicht die Befreiung, sondern der Krieg trat für uns in eine bis dahin unvorstellbar schreckliche Phase ein. Sie reichte sogar über das offizielle Kriegsende, den 8. Mai

1945, weit hinaus. - Anfangs war unsere Enttäuschung bodenlos; und der für uns so gewaltige Unterschied zwischen Braun und Rot schrumpfte in der Folgezeit schnell zusammen. Nationalsozialismus und Sozialismus vermischten sich wie zu einem ungenießbaren Einheitsbrei, denn die babarischen Methoden beider erwiesen sich nahezu als deckungsgleich. Die theoretischen Differenzen wurden immer unwichti - ger; auch weil es den Qualen der Opfer völlig gleichgültig ist, ob niedrige faschisti - sche oder höhere kommunistische Motive ihre Ursache sind.

Die ersehnte Freiheit und den Frieden fanden wir erst im Juli 1946, als die polni - schen Behörden uns aus Schlesien „transferierten“: Wir wurden mit Güterwaggons, die das stolze Hoheitszeichen der Vereinten Nationen trugen, unter mehr als men - schenunwürdigen Umständen in die britische Zone gefahren. - Erst dort war der

mörderische Krieg wirklich für uns zu Ende. Doch um die von der harten Wirklich - keit verwischten Unterschiede, sowie die wirren Ereignisse ein wenig verständlicher zu machen, muß ich mit meiner Erzählung um mehr als ein Jahr früher, nämlich mit meinen Erfahrungen unter der braunen Diktatur beginnen.

Am 1. September 1943 - ich war 15 Jahre alt - wurde ich mit meiner ganzen Neusal - zer Oberschulklasse zur „Flak“ - es ist die Abkürzung von „Fliegerabwehrkanone“ - eingezogen. Das war kein freiwilliger Einsatz, sondern Wehrpflicht wie bei erwach - senen jungen Männern. Viele nannten uns abfällig „Kinderflak“, und das stimmte ja auch. Trotzdem war es eine bitter ernste Angelegenheit.

Wir wurden nördlich von Stettin - in Pölitz, ganz nahe am Oderhaff - an leichten Maschinenwaffen (2 cm Flak 38) ausgebildet. Alliierte Flugzeuge kamen nicht sel - ten, denn nur ein Stück weiter im Norden, in Peenemünde, war das Raketenver - suchsgelände des Wernher von Braun 1 , des späteren Konstrukteurs der amerikani - schen Mondrakete Saturn V. In Peenemünde experimentierte man mit der A 4-Rake - te, die später als V 2 nach England geschossen wurde. Damals war das noch streng geheim. Bei uns aber gab es viele Gerüchte; denn gar nicht so selten faßten wir bei der Ausbildung mit unseren Kommando- und Meßgeräten fliegende Objekte auf, die so hoch waren, daß die Meßgeräte nicht mehr darauf ansprachen.

Zwei bis drei Monate später kam unsere Flakbatterie nach Brüx im Sudetenland, wo wir ganz nahe an einem riesigen Benzinwerk unsere Stellungen in den gefrorenen Boden hacken mußten. Wieviele Stellungswechsel, immer mit neuen schweren Erd - arbeiten verbunden, diesem ersten Bau folgten, kann ich nicht mehr sagen. Auch unsere Unterkunftsbaracken mußten wir tief eingraben und mit einem Erdwall schüt - zen.

Das Benzinwerk mit einem Bunawerk bedeckte mehrere Quadratkilometer und war fast ringsum von Arbeitslagern umgeben, in denen tausende Zwangsarbeiter, auch russische Kriegsgefangene, interniert waren. Damit wollte man die Alliierten wahr - scheinlich von Luftangriffen abhalten; doch die nahmen darauf keinerlei Rücksicht. - Neben einer unserer zahlreichen Stellungen, wir sind nämlich oft „umgezogen“, standen ganz in der Nähe Baracken mit russischen Kriegsgefangenen. Schnell merk - ten wir, daß sie hungerten, und daß sie unter aller Würde behandelt wurden. Wir waren davon tief betroffen und angewidert, weil wir in unserer jugendlichen Naivität ein derartiges Maß an Menschenverachtung einfach nicht für möglich gehalten hat - ten. Da wir immer noch genug zu essen bekamen, paßten einige von uns Gelegenhei - ten ab, um den Russen Lebensmittel zuzustecken. Eine große Gefangenentruppe führte mehrere Tage ganz in unserer Nähe Erdarbeiten durch. Wir riefen die nächsten an unsere Barackenfenster und gaben jedem ein „Kochgeschirr“ voll Essen. Die deutschen Wachsoldaten sahen es zwar, aber sie duldeten es wortlos, obwohl es

1 Der Stammsitz der von Brauns befand sich in Ottendorf, Krs. Freystadt.

ziemlich viele Bewacher waren. Unsere Budenbesatzung zeigte sich ebenfalls damit einverstanden. Doch da kam ein anderer von uns, stellte sich neben mich, lockte auch einen Russen an und schüttete ihm ein mit Essen gefülltes Kochgeschirr ins Gesicht und auf die Kleidung. Zornig fiel ich über ihn her und verprügelte ihn, wobei er mit dem Kopf an eine Ecke schlug. Die Sache hatte für mich ein Nachspiel.

Man würde es sich aber zu leicht machen, wenn man aus solch einem Konflikt - wie heute manchmal üblich - schließen wollte, wer von den Jungen ein Nazi war und wer nicht. Denn wir unterschieden uns als Fünfzehn- bis Sechzehnjährige keineswegs in überzeugte Hitlerjungen einerseits und in unversöhnliche Gegner andererseits. Ers - tens waren damals alle in der Hitlerjugend (HJ), denn seit 1938/39 war die Mitglied - schaft Pflicht. Es gab ja sogar eine „Straf-HJ“; in die jene unverbesserlichen Jungen gezwungen wurden, die stets den HJ-Dienst schwänzten. Mich holten einmal zwei uniformierte Hitlerjugendführer während des Sonntagsgottesdienstes aus der Kirche. Sie scheuten sich nicht, im Angesicht der Gemeinde bis nach vorn zur Ministranten - bank zu gehen, und niemand von den vielen Erwachsenen wagte es, sie daran zu hindern. Die sogenannten Dienststunden der Hitlerjugend wurden eben, um die Christen zu ärgern, meistens auf den Sonntagvormittag gelegt.

Jahre später, etwa 1949, behaupteten viele rot gewendete Neulehrer in Sachsen ener- gisch, sie seien nie in der Hitlerjugend gewesen. Ich habe sie dann immer respektvoll gefragt, wie sie denn aus Deutschland hatten fliehen können, und ob sie in der So - wjetunion oder in den USA im Exil gelebt hätten? worauf ich nie eine Antwort be - kam. - Zweitens waren wir in diesem Alter für eine persönliche politische Entschei - dung viel zu jung. Denn wir besaßen dafür weder die notwendigen Vergleichsmög - lichkeiten noch das politische Grundwissen. Gehört doch letzteres zu jenen unbelieb - ten Lehrstoffen, die man in diesem Alter mit leichter Hand zur Seite schiebt, weil man ja solch theoretischen Qualm im Leben niemals brauchen wird.

Gewiß hatten wir auch Studienräte, die uns mit der gebotenen Vorsicht zum Beispiel Menschenrechte, wie sie der Humanismus bekennt, nahebringen wollten. Meistens klang uns das aber zu abstrakt. Und wenn überhaupt jemand hinhörte, dann konnten vielleicht Christen diese Bemerkungen mit Erfahrungen der Glaubenslehre verknüp - fen. Jungen aber, die von Hause aus im weltanschaulich luftleeren Raum lebten, konnten solche Bemerkungen nirgends festmachen und vergaßen sie sehr schnell. Auch die klugen Ausführungen unseres Lateinlehrers über republikanische Staats - formen in der Antike, die er immer mit vorsichtigen Anspielungen auf das Nazire - gime verband, verstanden nur wenige von uns. Später erst wurde uns klar, daß diese beiden Lehrer mit ihren Exkursen viel riskiert hatten.

Mit um so größerer Frechheit fällten wir politische und sonstige Urteile - ein „Vor - recht der Jugend?“ - Natürlich waren das Urteile aus dem Bauch heraus, wie man heute sagt, aus diffusen sich stets ändernden Sympathieoder Antipathiegefühlen. Diese Affekte machten sich fast immer an Personen fest, denn jede Jugendgeneration

hat offenbar ihre falschen Idole, ehe sie echte Ideale findet. Zum Beispiel gab es da einen Kapitänleutnant Prien, der mit seinem U-Boot in einen englischen Kriegshafen eindrang, mehrere große Kriegsschiffe versenkte und heil wieder herauskam. Doch da er keine Erfolgsserie daraus machen konnte, ging sein Stern ganz schnell wieder unter, und ein neuer erschien. Freilich sahen wir daran sehr oberflächlich zuerst die

„sportliche Leistung“. - Heute ist es ja ähnlich. Jugendliche folgen Modetrends im weitesten Sinne, und der Mehrheitsdruck der Szene, verbunden mit dem nagenden Zweifel, ob denn so viele unrecht haben können, beeinflußt ihre Entscheidungen in der Regel stärker als die der Erwachsenen.

Eins hatten die Nazis ja wirklich fertiggebracht: Sie hatten uns Jungen - und nicht nur die Jungen - streckenweise fast davon überzeugt, daß wir einen Verteidigungs - krieg führten. Um diesen Glauben zu stützen, scheuten sie keine Mühe und erklärten ständig viele historische Details, vom Versailler Vertrag (1919) angefangen mit sei - nen verheerenden Folgen für Deutschland, über den „Bromberger Blutsonntag“ (ein Massaker an Volksdeutschen in Polen kurz vor dem deutschen Angriff), bis zu den anglo-amerikanischen Terrorangriffen gegen die Zivilbevölkerung in Deutschland. Mit ermüdender Langeweile wurde stets wiederholt, daß England und Frankreich den Krieg begonnen, weil sie am 3. September 1939 Deutschland den Krieg erklärt hatten. Der deutsche Überfall auf Polen wurde dabei natürlich nicht erwähnt. Immer waren es die anderen, die das Völkerrecht, die Haager Konvention u.s.w. brutal ver - letzten. Deshalb nur - so wurde uns immer wieder eindringlich vor Augen gestellt - müßten wir uns bei der „Kinderflak“ mit unseren Verteidigungswaffen gegen das völkerrechtswidrige Unrecht wehren. Jede Woche indoktrinierte man uns mit dieser Art Propaganda, und wir gähnten schon, wenn der „Politnik“ damit anfing. Wer aber zu all diesen propagandistischen Argumenten kein solides Geschichts- und Rechts - wissen besaß, und das galt damals fast ausnahmslos für uns alle, der hatte auch keine Antworten. - Den Nazis gelang es ja damals tatsächlich, ihren maßlosen Terror in Konzentrationslagern und in besetzten Gebieten zu verheimlichen. Nur die dem Sys - tem mißtrauisch oder ablehnend gegenüberstanden, erzählten darüber unter vorge - haltener Hand Gerüchte, deren Wahrheitsgehalt niemand nachweisen konnte. Sogar die „Feindsender“ (BBC London und Radio Moskau) berichteten meines Wissens nicht über Konzentrations- und Vernichtungslager, was ihnen ja israelische Histori - ker heute noch vorwerfen; jedenfalls habe auch ich aus dieser Quelle damals nichts gehört. Freilich konnte man diese Sender nicht täglich einschalten. Doch in unserem jugendlichen Leichtsinn wagten wir es sogar in der Unterkunftsbaracke Nachrichten - sendungen der BBC- London zu hören, denn die drakonischen Strafen, die dafür angedroht wurden, nahmen wir nicht so ernst. Wir wollten wissen, wie es vor allem an der Ostfront und nach den schweren Bombenangriffen in Deutschland wirklich aussah und waren jedes Mal bestürzt und betroffen, wie sehr sich die Nachrichten des Londoner Rundfunks vom deutschen Wehrmachtsbericht unterschieden. Ein

Kamerad versicherte mir, als ich ihn nach Jahrzehnten wiedersah, daß ich selber ein kleines Radio mitgebracht haben sollte. Als wir einmal den Londoner Rundfunk hörten, kam der UvD (Unteroffizier vom Dienst) ganz unverhofft in unsere Unter - kunft. Kurz zuvor beendete der Sender die Nachrichten, und Musik ertönte aus dem Lautsprecher. Der UvD gab irgendwelche dienstlichen Anweisungen und bemerkte, ehe er wieder ging: „Was hört ihr denn da für flotte Musik?“ Wenige Minuten später, gerade als er die Tür hinter sich schloß, beendete der Sender die musikalische Einla - ge, und ein politischer Kommentar begann. Zweifellos setzten wir uns damit einer beträchtlichen Gefahr aus, mindestens lange Gefängnisstrafen verhängten die Nazis für das Abhören von Feindsendern, doch das nahmen wir als Sechzehnjährige auf die leichte Schulter. Noch heute aber muß ich mit Respekt anmerken, daß uns niemals einer der Kameraden verpfiff, denn es hausten über zehn Mann in unserer Bude. Trotz alledem ist es den Nazis tatsächlich gelungen, potentielle Gegner, Mitläufer und Überzeugte vor ihren Karren zu spannen.

Am meisten widersprach dem unser Freystädter Kaplan. Im Nachhinein erst wußte ich, daß er damit ständig das KZ riskierte. Doch wir Jungen nahmen seine Einsprüche auch nur mit Vorbehalten auf. Gewiß wurden wir sehr nachdenklich, als Kaplan Lachawiet- z 2 ), unser Jugendseelsorger aus Neusalz - dort befand sich nämlich unser Gymnasium - im Sommer 1941 ins Konzentrationslager Dachau eingesperrt wurde. Für die meisten Jugendlichen war das ein schwerer seelischer Schock, und doch konnten wir uns unter dem Namen KZ nichts Genaues vorstellen. - Dann aber hörten wir wieder, vor allem in diesen ersten Kriegsjahren, Siegesmeldungen, zum Beispiel aus Norwegen, vom U- Bootkrieg im Atlantik, vom Balkan bis Griechenland, aus Frankreich und aus Nord- afrika. Der Verdrängungsmechanismus, von den Nazis raffiniert eingefädelt, funktio- nierte 2 bei den meisten, und bald sprach niemand mehr von Kaplan Lachawietz. Au- ßerdem waren ja Erfolgsmeldungen für Halbwüchsige - aber leider auch für viele Er- wachsene - schon immer der unwiderlegbare Beweis für die Wahrheit einer Lehre und für die Richtigkeit ihrer praktischen Ausführung. - Als Dreizehnjähriger sah ich am Freystädter Bahnhof einen Marschblock Häftlinge in ihrem gestreiften Drillichzeug, bewacht von SS-Soldaten und Hunden. Das Elendsbild hat mich nie verlassen, doch begründete auch das nicht mehr als eine diffuse innere Distanz zum System. - Mein Onkel zeigte mir einmal die scharfe Kritik eines Jesuiten (etwa 1937 heimlich ge- druckt) gegen den „Mythos des 20. Jahrhunderts“, vom Nazi-Chefideologen Rosen- berg verfaßt, neben Hitlers „Mein Kampf' die Bibel der Nationalsozialisten. Ich war zu jung und zu dumm dazu, um irgendetwas davon zu verstehen, außer der erbarmungslo- sen Feindschaft dieser Leute gegen alles, was einen christlichen Namen trug. Erst

1943/44 konnte mich mein Vater von der Dämonie dieses Systems echt überzeugen, oder waren es auch die sich häufenden Mißerfolge?

Kehren wir nach Brüx zurück: Einige unserer leichten Flakgeschütze standen auch auf hohen, brückenähnlichen Stahlkonstruktionen des Benzinwerkes. Doch die zog man bald zurück. Denn wenn auch nur in der Nähe einer solchen Brücke eine Bombe einschlug, kippte die Stahlkonstruktion mit der ganzen Geschützbedienung um; und das überlebte in der Regel keiner.

Jede Nacht mußte fast jeder von uns zwei Stunden Wache stehen. Bei sternklarem Himmel nutzten wir die Zeit oft zu astronomischen Beobachtungen; dazu ver- half uns das ausgezeichnete Nachtglas, das auf einem Stativ befestigt, extreme Vergröße - rungswerte lieferte. Bei einem nächtlichen Alarm nutzte es uns trotzdem nichts; denn wir erkannten einen deutschen Nachtjäger nicht und schossen ihn ab. Bevor es aber bekannt wurde, daß wir einen Deutschen heruntergeholt hatten, gab es euphorische Lobreden - der Batteriechef, ein alter Hauptmann, spendete sogar jedem der Sech - zehnjährigen einen Schnaps, und einige träumten schon vom Eisernen Kreuz zweiter Klasse. Am nächsten Morgen aber schlug die Freude in tiefe Enttäuschung um. Schließlich wurde unser erster unrühmlicher Abschuß dadurch bekrönt, daß der Pilot des Nachtjagdflugzeuges, ein junger Offizier, in unsere Stellung kam und uns als Kindergarten beschimpfte. Wir waren zutiefst beleidigt, als er uns aufforderte, heim zu Muttern zu gehen. Und einige unter uns bedauerten es, daß der Pilot glücklicher - weise aus seiner zerschossenen Maschine springen und sich mit dem Fallschirm retten konnte.

Im zeitigen Frühjahr 1944 kam der erste vernichtende Bombenangriff über uns, und das Werk wurde schwer getroffen. Man versetzte uns zur schweren Flak 8,8 cm; glücklicherweise stand die viel weiter vom Benzinwerk entfernt als die leichten Waf- fen. Doch zur Enttäuschung der meisten Jungen bekamen wir russische Beutege - schütze, deren Rohre auf das deutsche Maß 8,8 cm aufgebohrt worden waren. Unse - re alten Unteroffiziere erzählten, daß diese Kanonen von einem deutschen Rüs - tungswerk, von Bergmann-Borsig sagten sie, während der dreißiger Jahr gebaut und an die Sowjetunion verkauft worden waren. Als außerordentlich robust erwiesen sich diese Kanonen, und sie versagten während der zahlreichen Angriffe leider nie. Fast gleichzeitig mit unserer Versetzung wurden im weiten Abstand rund um das Werk angeblich über 2000 Rohre schwere Flak zusammengezogen. Doch zu einer ordent - lichen Ausbildung an den Russenkanonen blieb kaum Zeit. Denn sehr bald begann eine Serie schwerer Luftangriffe. Wieviele wir dort durchstanden, weiß ich heute nicht mehr. Immer kamen amerikanische Bomberflotten - nicht selten 400 bis 400

2 Kaplan Paul Lachawietz Neusalz/Oder. Von 1941-1945 sperrten ihn die Nazis ohne Gerichtsverfahren ins Konzentrationslager Dachau ein. Er kam mit dem Leben davon und war nach dem Kriege Pfarrer in der Nähe von Dachau. Er wurde ins KZ verschleppt, weil er im Neusalzer Krankenhaus einer jungen Mutter, die sich als fanatische Nationalsozialisten erwies, die Taufe ihrer Kindes nahelegte, was diese dann als Nötigung darstellte. Bei der erklärten Feindschaft der nazis gegen alles Christliche genügte ein solch unbewiesener Vorwurf für die jahrelange KZ-Haft. Pfarrer Hermann Scheipers kannte Kaplan Lachawietz; beide haben im KZ Dachau die Pries- terweihe Karl Leisners miterlebt.

viermotorige Flugzeuge - dazu einige Male mit tief fliegenden Fernjägern, „Ligth - nings“ oder „Mosquitos“, die die Flugabwehr bekämpften. Bald erwies sich, daß wir Jungen noch nicht ausdauernd und kräftig genug waren, um die schweren 8,8 Grana - ten präzise zu laden. Denn die fast 20kg schweren Granaten mußten im genauen Zeitabstand von 3 Sekunden geladen und abgeschossen werden. Oft wurden 100

Stück in kurzer Zeit verschossen, dann allerdings glühten fast die Bohre. Eine merkwürdige Abhilfe wurde geschaffen: Jedes Geschütz bekam einen oder zwei

„Hiwi's“ (Hilfswillige) als Ladekanoniere zugeteilt. Das waren russische Kriegsge - fangene, die mit erstaunlicher Genauigkeit schossen. An unserem Geschütz tat einer diese Arbeit, der so etwas wie Kampfesfieber bekam, wenn es wieder losging. Er lud auch dann noch die Kanone und schoß ab, wenn unser Geschützführer, ein Unterof - fizier, längst „volle Deckung“ geschrien hatte, und wir alle im Dreck lagen. Dann brüllte er nach neuer Munition und beschimpfte uns und den Geschützführer. Wollte er die kapitalistischen Amerikaner mit solchem Eifer bekämpfen? Wir bekamen es nie heraus; der Mann aber wurde uns in seiner Kampf-Ekstase unheimlich, und wir dachten schon daran, was da wohl an der Ostfront los wäre, wenn russische Soldaten in einer solchen Weise kämpften. Übrigens bekamen diese „Hiwi’s“ die gleiche Ver - pflegung wie wir. Bei der deutschen Armee gab es ja auch für Offiziere keine beson - dere Verpflegung.

Wie es dort manchmal zuging, mag nur ein Erlebnis am Rande demonstrieren: Ein Obergefreiter wurde zu unserer Großbatterie (24 schwere Geschütze) versetzt. Er kam aus dem Lazarett, war jahrelang an der Ostfront und wegen einer schweren Verwundung nicht mehr „frontdiensttauglich“. Nach dem ersten schweren Angriff sagte er erstaunt: „Das ist ja hier schlimmer als vorne an der Front. Dort weiß man wenigstens, woher es kommt. Hier weiß man überhaupt nicht mehr, woher es kommt. Hier muß ich ganz schnell wieder weg“. Er blieb dann aber doch und ge - wöhnte sich daran.

Mein Vater riet mir, mich zu allen Lehrgängen zu melden, die angeboten wurden, um möglichst oft diesem Schlamassel zu entgehen. Er war nämlich als alter Reserveoffi - zier aus dem Ersten Weltkrieg auch bei der Flak in Süditalien. Ich kann hier die Lehrgänge nicht alle aufzählen, - vom Entfernungsmessen bis zum Funkmeßgerät (so hießen damals die Radargeräte), die ich ableistete. Schließlich meldete ich mich freiwillig zur Luftwaffe, damit ich zu weiteren Lehrgängen kommandiert werden konnte; und so absolvierte ich alle möglichen Segelfliegerprüfungen, von der A bis zur C und zum L 1. Die Prüfung zum L 1, „Luftfahrerschein“ nannten wir ihn da - mals, verhaute ich dann absichtlich durch schwere Flugfehler, damit ich einige Tage auf dem Flugplatz bleiben konnte, um die Prüfung nachzuholen. Dadurch entging ich einigen schweren Angriffen, bei denen es auch Verluste gab; so einfach wurde das damals genannt. Und doch waren wir alle dadurch schwer geschockt; unsere Jugend - zeit wurde damit brutal und abrupt beendet.

Meine Freiwilligenmeldung zum fliegenden Personal war keineswegs nur von der Lust am Fliegen bestimmt, obwohl ich mich bald daran begeisterte. Gehört doch das Segelfliegen, wenn man es einigermaßen beherrscht, noch vor dem Motorflie - gen zu den großartigsten Erlebnissen. Doch so naiv war ich wirklich nicht mehr, daß ich mir einbildete, nur zur eigenen Freude Fliegersport zu treiben, und außer - dem galt unter uns christlich orientierten Jungen Freiwilligmelden als völlig ver - pönt. Warum ich es dennoch tat, hatte einen besonderen Grund: Es gab nämlich im Sommer 1943 einen Vorfall mit zwei Offizieren der Waffen-SS. Sie erschienen kurz vor unserer Einberufung zur Kinderflak, ließen uns antreten und schauten sich alle Jungen genau an. Etwa an die fünfundzwanzig Jungen gefielen ihnen offenbar; die sonderten sie aus, und ich war unter diese Auserwählten geraten. Damals rissen wir freche Witze über diese Aussortierung, zumal sich die Herren SS-Offiziere nicht einmal für sportliche und sonstige Leistungen, sondern nur für die „nordi - schen Rassemerkmale“ und für die Haarfarbe interessierten. Später aber erfuhren wir, daß sie sich Leistungsnachweise von der Schule besorgten. - Monate später, im Frühjahr 1944, schon bei der Kinderflak, lachten wir nicht mehr darüber, son - dern begriffen den bitteren Ernst dieser Angelegenheit. Denn bis dahin galt die Waffen-SS als Freiwilligenverband. Ab Sommer 1944 wurde das radikal geändert, vermutlich weil sie zu wenig Freiwilligenmeldungen bekamen. Nun verschickte die SS genau wie die Wehrmacht Gestellungsbefehle. Wer aber einmal diesen ge - fürchteten Einberufungsbefehl in die Hand bekam, riskierte unter Umständen sogar die Todesstrafe wegen Wehrdienstverweigerung, wenn er nicht zum angegebenen SS-Truppenteil hinfuhr. Davon gab es allerdings eine Ausnahme: Wer sich schon vorher freiwillig zur Luftwaffe oder zur Marine gemeldet, und bereits einige Aus - bildungslehrgänge hinter sich hatte, den ließen sie frei. Das sprach sich bei uns ganz schnell herum, und wir nahmen es sehr ernst. Tatsächlich bekam ich - noch nicht einmal 17 Jahre alt - kurz nach dem Jahr bei der Kinderflak, im Herbst 1944, eine schriftliche Ankündigung, daß ich in Kürze zu einer SS- Ausbildungseinheit in Liegnitz einberufen werden sollte. Ich schrieb sofort hin, schickte meine Mel - dung zur Luftwaffe und die Ausbildungsbelege mit, und der drohende Gestel - lungsbefehl wurde glücklicherweise zurückgezogen.

Noch aber waren wir bei der Kinderflak, und trotz der brutalen Erfahrungen bei den schweren Bombenangriffen faszinierte uns Jungen die Technik, mit der wir es täglich zu tun hatten. Da gab es zum Beispiel die großen Radargeräte, an die jeweils 24 schwere Geschütze angeschlossen waren, heute würde man „elektronisch vernetzt“ sagen. Da staunten wir über unsere Nachbarbatterie, bestehend aus zwölf 10,5 cm Geschützen, bei denen sogar der Ladevorgang automatisch ablief, weil man die schweren Granaten in der geforderten kurzen Schußfolge nicht mehr mit der Hand laden konnte. Auf den täglich zwischen elf und zwölf Uhr erscheinenden amerikani - schen Fernaufklärer konnten nur sie schießen, weil ihre Reichweite über zehntausend

Meter betrug, und weil der Aufklärer etwa in dieser Höhe flog. Wenn aber bei einem Großangriff alle 2000 Geschütze unter der Leitung eines einzigen Kommandogerätes vorgelagertes Sperrfeuer schossen, war das für uns ein großartiges Schauspiel. Nur wenn man das Pech hatte, daß die Splitter der Detonationswand genau über dem eigenen Standort herunterkamen, hörte sich das wie Summen überlauter Bienen - schwärme an. Doch da diese Granatsplitter keine große Energie mehr hatten, gab es höchstens leichte Verletzungen, oder auch nur ein helles Klicken am Stahlhelm. Einmal geschah das bei Seestadt, zwölf Kilometer westlich von Brüx. Ganz kurz nach einem Stellungswechsel, was wegen der gefürchteten Tiefangriffe durch Fern - jäger ziemlich häufig geschah, standen unsere schweren Geschütze auf einem abge - ernteten Getreidefeld zwischen den Kornpuppen. Noch nicht einmal Deckungslöcher hatten wir gegraben, und große Munitionsstapel tarnten wir gerade notdürftig mit Getreidebündeln. Da erfolgte plötzlich ein Angriff von über 300 viermotorigen ame - rikanischen Bombern, die exakt aus westlicher Richtung auf unsere Stellung zuflo - gen. Nachdem wir zwei Flugzeuge abgeschossen hatten, begann das vorgelagerte Sperrfeuer genau über unserer Stellung, die ja eigentlich noch gar nicht existierte. Eine Bomberwelle nach der anderen drehte ab, und einige warfen ihre Bombenteppi - che ganz knapp bis vor uns ab.

(Glücklicherweise konnte der Fernaufklärer am Tage zuvor unsere Stellung noch nicht entdecken, denn auch • lic tief fliegenden Fernjäger huschten an uns vorbei. Ich saß im „Telefonwagen“, der unter Bäumen am Straßenrand einigermaßen getarnt war, und schrieb Gefechtsmeldungen mit. Der Wagen wackelte mächtig, als ganz in der Nähe schwere Bomben detonierten. Als ein großer Splitter das Dach durchschlug und mir vor die Füße fiel, sprang ich aus dem Wagen und warf mich in den Straßen - graben. Zwischen den Bäumen sah ich plötzlich etwa zehn Fallschirme hoch in der Luft, die nach Norden auf das Erzgebirge zutrieben.

Zum ersten Mal wurde mir sichtbar bewußt, daß wir ja auf Menschen schossen und nicht nur auf Maschinen. Der Leser mag darüber verwundert den Kopf schütteln, aber so naiv waren wir damals wirklich. Bald darauf kam der groteske Befehl, daß wir - etwa fünf Halbwüchsige - mit unseren alten französischen Schießprügeln, die fast länger waren als wir, losmarschieren und die abgesprungenen Flieger einfangen sollten. Wir marschierten zwar, aber nur etwa zwei Kilometer weit, bis wir in einem dichten Gebüsch gute Deckung fanden. Dort legten wir uns für ein paar Stunden hin und dösten. Denn daß wir Halbwüchsigen gegen eine Überzahl gut trainierter Flieger überhaupt keine Chance hatten, wußten wir genau. Die anschließende Meldung, daß wir sie nicht gefunden hätten, wurde uns sogar abgenommen. Übrigens waren wir nach diesem und nach anderen Angriffen fast taub und mußten uns anbrüllen, bis sich das Hörvermögen nach Stunden wieder normalisierte.

Vergangenheit, die nicht vergehen will

Подняться наверх