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In Breslau - als die Hauptstadt Schlesiens zur Festung wurde

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So wurde ich etwa am 22. Januar 1945 auf den Flugplatz nach Breslau befohlen, dort sollte ich mich in der „Zentrifuge“ melden. Doch schon Ende Januar 1945 (etwa am

26/27.1.1945) kam ich unverrichteter Dinge auf großen Umwegen aus Breslau zu - rück nach Freystadt/Niederschlesien. Denn meine Mutter war gerade bei hektischen Fluchtvorbereitungen. Sie wollte mit meinen vier Schwestern - die jüngste gerade

ein Jahr alt - mit der Eisenbahn vor der schnell näherkommenden Front ohne Ziel einfach wegfahren. Eigentlich durfte ich gar nicht nach Freystadt in mein Elternhaus. Denn von Breslau sollte ich direkt nach Rothenburg an der Lausitzer Neiße und mich dort auf dem Flughafen melden. Das hatte man mir in Breslau schriftlich gegeben. Mein „Marschbefehl“ nach Breslau hatte sich nämlich dadurch erledigt, daß das dortige Luftwaffenpersonal sich vor der nahenden Front schon abgesetzt hatte. Das muß ich noch ein wenig ausführlicher beschreiben, weil es eigentlich eine dramati - sche Sache war.

Schon die Bahnfahrt nach Breslau - etwa am 24. Januar - legte sich wie ein Alptraum auf meine Seele. Ich saß - im D-Zug-Wagen fast allein - in einem der letzten Züge, die auf der Hauptstrecke über Glogau, Steinau, Wohlan nach Breslau fuhren. Denn selbst wenn russische Panzer schon in unmittelbarer Nähe standen, der Fahrplan wurde bis zum letzten Augenblick mit preußischer Genauigkeit eingehalten. Übri - gens war das die Hauptstrecke nach Berlin, die erste in Deutschland, auf der schon im Jahre 1937 FD-Züge mit 160 km/h verkehrten. Auf dem Gegengleis fuhren Ende Januar 1945 viele Züge in Richtung Westen: Sie waren vollgestopft mit flüchtenden Menschen. Ich tröstete mich damit, daß die vielen Menschen mit der Eisenbahn fah - ren konnten, denn die Tage zuvor hatte ich nur die Elendszüge der Wagentrecks auf verschneiten und vereisten Straßen gesehen.

In Breslau angekommen, fuhr ich sofort mit der Straßenbahn in Richtung Flugplatz. Doch, wie gesagt, die Luftwaffendienststelle war schon leer und verlassen. Diesen Vorteil hatten die Spezialisten bei der Luftwaffe immer, daß sie sich vor allen ande - ren rechtzeitig absetzen konnten, hier die Leute von der „Zentrifuge“, in der ich auf Belastbarkeit geprüft werden sollte. Es ging dabei um die bestimmten G (Gravitati - onskraft), die ein Mensch aushalten kann, bis er bewußtlos wird, also um extreme Beschleunigungskräfte wie heute bei den Raketenstarts. Natürlich freute mich, daß ich diesen brutalen Test nicht über mich ergehen lassen mußte. Zu meinem Glück fand ich in der fast leeren Dienststelle einen zuständigen Luftwaffenfeldwebel, der mir meine Papiere - nun auf den Bestimmungsort Rothenburg an der Neiße - um - schrieb, was in diesen Zeiten wirklich lebenswichtig war. Denn junge Männer - nicht nur Soldaten - die von den überall gegenwärtigen Streifen der Militärpolizei - „Ket - tenhunde“ genannt - ohne gültige Papiere angetroffen wurden, galten sehr schnell als Deserteure.

Bald fuhr ich zum Hauptbahnhof zurück und hörte dort, daß der Zugverkehr auf der Hauptstrecke über Glogau, auf der ich anreiste, „eingestellt“ war. Einige wußten bereits zu berichten, daß die Eisenbahnbrücke über die Oder bei Steinau schon in die Luft gesprengt, und die Russen westlich der Oder einen Brückenkopf gebildet hatten. Tatsächlich rollten die Russen nach tagelangen, schweren Abwehrkämpfen bei Stein - au in wenigen Tagen bis Bunzlau und Liegnitz. - Was sollte ich in einer so aussichts - losen Lage tun? Ich ging erst einmal ins Breslauer Zentrum und wanderte dort um -

her. Alles war erfüllt von zurückflutendem Militär, Fahrzeuge, Lkw’s, von denen einer immer von einem anderen wegen Treibstoffmangels im Schlepp gefahren wur - de; Schützenpanzer, Kanonen, dazwischen flüchtende Frauen, Kinder und alte Leute, die durch große Plakate aufgefordert wurden, sofort die Stadt zu verlassen. - Angst aber machten mir andere Plakate: „Breslau ist Festung“, stand da in großen Lettern zu lesen, und „alle Männer zwischen 16 und 55 haben sich zur Verteidigung zu mel - den. Das Verlassen der Stadt ist ihnen unter schwerer Strafe verboten“.

Nur ein Gedanke bewegte mich, wie ich aus diesem Hexenkessel herauskommen könnte, zumal die hektische, mit Angst geladene Atmosphäre auch noch durch das Grollen fernen Geschützdonners verstärkt wurde. Vielleicht kann man es heute nicht mehr begreifen: Ich wanderte trotzdem streckenweise mit einem guten Gefühl durch die Innenstadt. Denn vor Monaten schon hatte ich als Flakhelfer zerstörte Städte, brennende Häuserzeilen und das Elend der Ausgebombten gesehen. - In Breslau aber fand ich alles intakt wie im Frieden; „Luftschutzkeller Deutschlands“ sagten wir damals. Nicht ein zerbombtes Haus war zu sehen; ein Erlebnis, das mich auf merk - würdige Weise froh machte. Doch der unüberhörbare, noch ferne Gefechtslärm stell - te die bange Frage, wie es hier in einigen Tagen oder Wochen aus- sehen würde. - Völlig verrückt oder hilflos: Ich ging am Abend in der Nähe des Hauptbahnhofes ins Kino: „Die Frau meiner Träume,“ ein mit großem Aufwand gedrehter Farbfilm mit Marika Röck. Im geheizten Kino wärmte ich mich auf, denn die Außentemperatur war auf unter -10° gefallen. Ich entschloß mich im Kino endgültig, dem Befehl, in Breslau zu bleiben, nicht zu folgen.

Vergangenheit, die nicht vergehen will

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