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Der 20. Juli 1944

In diese Zeit fiel das Hitler-Attentat am 20. Juli 1944. Zehn Tage zuvor führte mich mein Vater in den Keller unseres Hauses zu Freystadt, öffnete einen alten Schrank, zu dem wir als Kinder bis dahin keinen Zugang hatten, und zeigte mir zum ersten Mal seine „geheime Akte“, von deren Existenz ich bis dahin nichts wußte. Vater war nämlich vom 1. bis 31. Juli 44 zum Genesungsurlaub in Freystadt, weil er in Südita - lien verschüttet worden war. Auch mir gewährte mein Batteriechef in der ersten Juli - hälfte bis zum 15.7. Urlaub. Zurück zu Vaters Akte, ein ziemlich dicker, zerschlisse - ner Schnellhefter, der mich so tief beeindruckte, daß mir viele Einzelheiten all die Jahrzehnte in lebendiger Erinnerung geblieben sind. Zuerst enthielt er Zeitungsarti - kel von 1933 bis 1935, in denen er von den Nazis in niederträchtiger Art und Weise zur politischen Unperson erklärt wurde. Er war nämlich bis 1933 Zentrumsabgeord - neter und weigerte sich als Lehrer beharrlich, der NSDAP beizutreten. 1934 gab es bei uns eine Haussuchung. Dann zeigte er mir Aufzeichnungen über eine Spitzelaffä - re, die durch den plötzlichen Unfalltod des Spitzels, eines Lehrerkollegen, ans Licht kam. Die nichtsahnende Witwe bat nämlich meinen Vater um Hilfe beim Ordnen des Nachlasses und bei der Vorbereitung der Beerdigung; und Vater fand ebenso nichts - ahnend unter den Papieren des toten Kollegen Kopien von Spitzelberichten zu seiner Person an die Gestapo. Was sich da an Häme, Wahrheit, Verleumdung und kleinka - riertem Verpetzen untereinander vermischte, überforderte mich damals, später in der DDR und bei den Schwierigkeiten mit der Staatssicherheit besaß ich dadurch einen unschätzbaren Erfahrungsvorsprung.

Tief beeindruckte mich die Kopie eines Aufnahmeantrages in die NSDAP, den die Kreisleitung Freystadt meinem Vater 1941, auf dem Höhepunkt der deutschen Siege, per Feldpost geschickt hatte. Anstatt den Antrag in den Papierkorb zu werfen, schrieb mein Vater quer drüber : „An meinen Verhältnissen und an meiner Einstel - lung hat sich nichts geändert“ - und schickte das Papier an die Kreisleitung der Partei zurück. Wie gefährlich das war, sollte sich bald zeigen. Am Tage des Hitlerattentats, dem 20. oder am Tage danach, dem 21. Juli 1944, erschien Polizei in unserem Haus und wollte Vater verhaften. Wenige Stunden zuvor aber überwies ihn sein Arzt in ein Lazarett, weil er ganz plötzlich schwere Malariaanfälle bekommen hatte. Noch wuß - ten meine Schwestern nicht genau, daß Vater bis nach Langenau ins Glatzer Berg - land gefahren werden sollte. Doch das war seine Rettung; denn so konnten sie den Polizisten sagen, daß sie nicht wüßten, in welches Lazarett man ihn eingeliefert hät - te. Wieder einmal hatten sich die „dienstfreien“ Schutzengel bewährt. Denn von Malaria hatte er mindestens ein Jahr lang nichts mehr gespürt. Meine älteste Schwes - ter aber bekam bald Bescheid; so fuhr sie ihm sofort hinterher und unterrichtete ihn vom Haftbefehl.

Trotz hohem Fieber packte unser Vater seinen Koffer und fuhr zu seinem Ersatztrup -

penteil nach Wien, um sich wieder an die süditalienische Front zu melden, wo noch immer seine Einheit lag. Denn die Front galt damals in Deutschland so etwas wie ein

„inneres Exil“; dort verhaftete man 1944 niemanden mehr, vor allem keine Frontof - fiziere. In Deutschland aber und in den besetzten Gebieten sperrte man unmittelbar nach dem Hitlerattentat über 4 000 Offiziere ein, und ein großer Teil von ihnen wur - de verurteilt.

Es wird heute oft behauptet, daß sich die Verschwörer um den Attentäter, Graf Stauf- fenberg, nur aus einem verschwindend kleinen Grüppchen hoher Offiziere rekrutier - ten. Gleichzeitig wird es als sichere Erkenntnis dargestellt, daß ein überaus hoher Prozentsatz der Offiziere, der Armee und des Volkes bis zum bitteren Ende mehr oder weniger begeistert an Hitler geglaubt, und deshalb die Attentäter voller Verach - tung verurteilt hätten. Noch im Jahre 1998 gehört es offenbar zum guten Ton in Deutschland, diese Behauptungen zu verbreiten. Etwa wie sie in der BBC-Fernseh - sendung über das Ende des Naziregimes im Dezember 1997 von einem deutschen Fernsehsender (N 3) ausgestrahlt wurde. Die Darstellung strotzte für meine Begriffe derart von tendenziösen Entstellungen, daß ich schließlich abschaltete. Zum Beispiel interviewte man hauptsächlich alte Nazis, solche, die wirklich an die Naziideologie glaubten. Die Hitlerattentäter wurden wiederum nur als ein lächerlich kleiner Klün - gel dargestellt, wobei auch noch hervorgehoben wurde, daß sie ihren Eid brachen! - Alles in allem fand man in diesem tendenziösen Filmstreifen ziemlich genau die Goebbel’sche Propagandaversion wieder, die wir uns in ermüdenden Wiederho - lungsvarianten schon 1944 anhören mußten, so daß sie selbst uns Halbwüchsigen bei der Kinderflak zum Halse heraushing.

Diese Version hat sich erstaunlicherweise bis heute am Leben erhalten. Doch selbst wenn sie weitere Jahrzehnte so verbreitet werden sollte, wird sie dadurch keineswegs wahrer. Denn Tatsache ist, daß viele ältere Offiziere, die schon den Ersten Weltkrieg durchlitten, den Nazis mit größtem Mißtrauen gegenüberstanden. Das wirkte sich bekanntlich in einer beträchtlichen Zahl militärischer Einheiten dadurch aus, daß menschenverachtende Befehle schlicht und einfach ignoriert wurden. Es spielte eine sehr wichtige Rolle dabei, daß sich viele dieser älteren Offiziere aus dem Ersten Weltkrieg kannten und einander vertrauten. Auch mein Vater hatte eine Menge solch alter Bekannter und Freunde, von denen er mir später interessante Einzelheiten er - zählte. Sie standen untereinander nicht nur im freilich vorsichtigen Informationsaus - tausch, sondern wußten auch von Widerstandsbemühungen gegen Hitler mehr, als sie jemals zugeben konnten. Stauffenberg besaß jedenfalls eine bedeutend größere An - hänger-und Sympathiesantenschar, als man heute öffentlich eingesteht. - Aber war - um eigentlich will man das heute nicht wahrhaben? Für mich ist es geradezu irratio - nal, daß man diese Tatsachen gegen die eben beschriebenen Tendenzen mit solcher Hartnäckigkeit verteidigen muß. Ist es nicht pathologisch oder sogar stark rechtslas - tig, daß man fünfzig Jahre danach die Goebbel’sche Propagandavariante vom klei -

nen, meineidigen Offiziersklüngel noch immer hartnäckig glaubt und verbreitet?

Nach dem Kriege trug dann unser Vater das kleine rote Dreieck der Verfolgten des Naziregimes. Doch das half ihm später auch nichts. Während er in der Nazizeit nur seinen Schulleiterposten verlor, wurde er bei den Kommunisten im Februar 1953 fristlos aus dem Schuldienst entlassen. Uns - seinen Kindern - aber war seine gerad - linige Haltung entschieden lieber als eine Mitläuferkarriere mit höherem Gehalt. Später wurde ja stets behauptet, daß Beamte, vor allem Lehrer, in die Nazipartei eintreten mußten. Doch das stimmt einfach nicht. Auch der Vater von Reinhard Ro - che, Lehrer an der Mittelschule, trat nicht in die Nazipartei ein; bei ihm wirkte die sozialdemokratische Tradition weiter, die ihn auch daran hinderte, SED-Genosse zu werden. Karriere konnte man freilich mit dieser Haltung weder bei den Nazis noch bei den Kommunisten machen.

Am 31. August 1944 endete meine Zeit bei der Kinderflak. Gut einen Monat zuvor gab es noch einen großen, nicht ungefährlichen Eklat: Der Hitlerjugend-Bannführer von Brüx, der bei uns schon einige Male hineinreden wollte, kam am Sonntagmor- gen sehr zeitig und wollte mit uns Jungen die „Reichsjugendwettkämpfe“ veranstal - ten. Wir hatten aber einen schweren Nachtangriff hinter

uns, deshalb sollte erst um 10 Uhr Wecken sein. Als wir nun merkten, daß nicht der

UvD (Unteroffizier vom Dienst), sondern ein HJ-Führer das Wecken schon gegen 8

Uhr pfiff, stand nicht einer von uns auf. Dieser schneidige Heimatkrieger aber beging nun den großen Fehler, unseren Batteriechef, einen alten Flak-Hauptmann, aus dem Bett zu holen. Der weckte uns zwar, schaute dann aber ungerührt zu, wie wir auf dem nahen Sportplatz die „Reichsjugendwettkämpfe“ regelrecht sabotierten. Der lOOm- Lauf wurde hinkend und gewissermaßen im Kriechgang durchgeführt; die Zeiten lagen alle bei 20 Sekunden und darüber. Als dann unter anderem ein Keulenzielwurf genau auf den Aufschreibertisch knallte, gab es ein großes Gebrüll. - Antreten: Jeder Einzelne wurde nun befragt. Doch unser Hauptmann legte Wert darauf, es selbst zu tun; die HJ- Führer standen nur dabei und wurden immer zorniger. Unser Alter schritt nämlich die Front ab und fragte jeden einzeln: „Warum haben Sie keine besseren Leistungen?“ Die ersten Antworten kamen sehr zögernd: „Habe mir heute beim Nachtangriff eine Zer- rung zugezogen“ - und der Alte nahm jede Antwort schweigend hin. Dadurch wurden wir natürlich immer frecher: Vom Rheuma bis zum Zipperlein kam fast alles vor. Wäh- rend unser Batteriechef schwieg und keine Miene verzog, „erste Reihe vortreten“ kommandierte, und die Einzelbefragung stur fortsetzte, konnte sich der Bannführer mit seinem Gefolge nicht mehr beherrschen. Sie verließen unter Protest unsere Einheit, drohten Konsequenzen an, warfen sich in ihr Auto und rauschten davon.

Dann aber zeigte die Brüxer Bannführung uns alle namentlich bei der Reichsjugend- führung in Berlin an. Da die Kameraden als Oberschüler alle irgendeinen Dienstrang bei der HJ hatten, ich war der Einzige, der keinen aufwies, bekamen sie - außer mir - ein hochoffizielles Schreiben, daß sie wegen „ehrlosen Verhaltens“

degradiert worden wären. Ich hörte bald darauf, daß sich die Spitzen der Bannfüh - rung in Freystadt berieten, zu was für einer Strafe sie mich verurteilen wollten. Si - cher ist jedenfalls, wären die Nazis länger an der Macht geblieben, so hätten sie uns später nicht zum Studium zugelassen. - Das war unser würdiger Schlußpunkt bei der Kinderflak.

Nach einer ganz kurzen, fast nur symbolischen Zeit beim Reichsarbeitsdienst wurde ich zu weiteren Lehrgängen für die Fliegerei befohlen, die ich hier nicht im Einzel - nen aufzählen will. Auch dazu sagte mein Vater: „Tu das; denn es ist die mit Abstand längste Ausbildungszeit. Ehe Du drankommst, ist der Krieg vorbei.“ - Und damit hatte er auch Recht. Das Chaotische war ja dabei, daß viel Luftwaffenpersonal, sogar erfahrene Piloten wegen Treibstoffmangels zur Infanterie versetzt wurden, die Aus - bildung der jungen Leute aber forcierte man. Freilich wurden wir etwa im Dezember

1944 fast nur noch in Segelflugzeuge gesetzt und mußten Tag für Tag von früh bis abends Ziellandungen üben, ohne jede Landehilfen, sogar die Landeklappen mußten drinbleiben; und so sollten wir gezielt neben einem winzig kleinen weißen Lande - tuch aufsetzen, was man eigentlich nur als akrobatisches Kunststück bezeichnen konnte. Der Fluglehrer, ein alter Feldwebel machte es uns allerdings vor, denn er war ein hervorragender Pilot; deshalb verzieh ich ihm beinahe, daß er mir mitunter eine Platzrunde zu Fuß verordnete, einmal sogar mit angeschnalltem Fallschirm, weil ich den Landepunkt verfehlte. Da er mich aber öfter als die anderen auf diese Weise disziplinierte, verstärkte sich mein Eindruck, daß er mir nicht traute. Übrigens er - zählte er uns, wozu diese verrückten Landeübungen dienen sollten: Die Messersch - mitt-Raketenflugzeuge (Me 163) landeten antriebslos, eben wie ein Segelflugzeug, aber mit der sehr hohen Landegeschwindigkeit von weit über 200 km/h, genau wie heute der amerikanische „space shuttle“. Nur gab es eben damals nicht so lange Landepisten wie heute. Solche Raketenjäger aber sahen wir niemals. Auf dem Platz standen nur einige alte Junkers 87 mit untergehängten 4 cm- Kanonen zur Panzerbe - kämpfung, die aber wegen Treibstoffmangels nur ganz selten aufstiegen.

Vergangenheit, die nicht vergehen will

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