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KONSTANTINOPEL, FRÜHLING 1946

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Anfangs hatte es noch einen gewissen Reiz gehabt, den Leuten die goldene Auszeichnung unter die Nase zu halten. Der Anblick der Auszeichnung half Meyendorff, die unzähligen neuen Gesichter einzuschätzen. Und er erlebte die gesamte Klaviatur menschlicher Regungen, Neid, Heuchelei, ehrliche Bewunderung, kollegiales Einverständnis, Ignoranz, alles, was man sich vorstellen konnte. Die Medaille provozierte, ein Blick in das Innere der Leute wurde möglich. Anhand dieses Blickes beurteilte Meyendorff die Offiziere, Soldaten, Beamten des Fliegerquartiers Süd. Aber mit der Zeit nutzte sich der Effekt ab, zum einen kannten viele Meyendorff bald, zum anderen maß er selbst dem Orden nicht mehr so viel Bedeutung bei.

Er stand im Gang vor der Kantine, zupfte an seinem Rock, öffnete den Nadelverschluss der Medaille und ließ das Ding in der Tasche verschwinden. Es war später Nachmittag, also würde in der Kantine nicht mehr viel los sein, dennoch wollte er nicht durch den Orden auffallen. Er wollte einfach nur einer von vielen sein, ein Bediensteter des Fliegerquartiers unter anderen.

Meyendorff versuchte sein Bein möglichst nicht nachzuziehen, sondern gerade und aufrecht zu gehen. Er zog an der Tür zur Kantine, der Geruch von gesottenem Gemüse strömte ihm entgegen. Wie üblich gab es irgendeinen Eintopf mit türkischem Gemüse. Meyendorff schätzte die türkische Küche sehr, aber wenn böhmische Köche mit türkischem Gemüse und Fleisch kochten, kamen meist keine besonderen Delikatessen dabei heraus. Aber satt wurde man davon. Immerhin. Nicht alle Soldaten des Kaisers wurden immer satt, in Mesopotamien etwa war die Versorgung jämmerlich.

Meyendorff bevorzugte es, seine Mahlzeiten in der Kantine zu sich zu nehmen, er mied das Offizierskasino, so gut es ging. In der Kantine war er anonym. Im Kasino tummelten sich die Etappenhengste, schlürften Schnaps und hatten stets den aktuellsten Soldatentratsch auf Lager. Hast du gewusst, dass Oberstleutnant Soundso ein Affärchen hatte? Der Feinspitz, jetzt ist er über der Ägäis abgeschossen worden. Hast du gewusst, dass Major Dieserundjener neulich zehntausend Kronen beim Hasard verspielt hat? Und so weiter. Meyendorff konnte wahrlich nicht behaupten, die Gesellschaft der Kasinoplatzhirsche wäre ihm angenehm. Da mischte sich der Herr Graf lieber unters Volk. Die einfachen Leute ließen ihn wenigstens in Ruhe. Dass er überall gemustert wurde, störte ihn nicht, daran war er gewöhnt. Die Offiziere munkelten natürlich über den jungen Graf von Meyendorff und seine Vorliebe für das niedere Volk in der Kantine, aber das war ihm auch ziemlich egal. Natürlich fand er so keine Freunde, natürlich blieb er so isoliert, aber gerade das wollte er ja. Er brauchte niemanden in seiner Nähe, zumindest keine Etappenoffiziere mit ihren Allüren.

Meyendorff zückte die Essensmarken, reichte sie der Küchenkraft, die im Gegenzug einen Teller mit einem dicken Eintopf auf ein Tablett stellte und es ihm zuschob. Er fasste in den Besteckkorb, nahm einen Löffel und trat an die Brotausgabe.

„Könnte ich bitte zwei Scheiben haben?“, fragte er den einarmigen Mann.

Strenge, graue Augen musterten Meyendorff. Der Mann hatte slawische Gesichtszüge und dunkles, grau durchzogenes Haar. Wahrscheinlich ein Kroate oder Bosniake. Falten schnitten tief in das Gesicht des Mannes, Falten, die zeigten, dass dieser Mann lange dem Tod näher als dem Leben gewesen war. Wortlos legte er zwei Scheiben Brot auf Meyendorffs Tablett. Danach stellte er einen Blechbecher mit kaltem Apfeltee dazu. Eintopf mit Brot, dazu Apfeltee, also irgendwie ein türkisches Mahl, dennoch aber ein österreichisches. Meyendorff nahm das Tablett und schlurfte davon. Er wusste, dass der Mann an der Brotausgabe ihm nachblickte, also vertuschte er unbewusst sein Hinken nicht. Der Krieg schlägt allen Wunden, egal ob kroatischer Kleinhäusler oder österreichischer Graf, der Stand war egal, solange man für das Vaterland Dienst leistete. Das signalisierte Meyendorff dem Mann, ohne darüber nachzudenken.

Er sah sich im Saal um. Vereinzelt saßen noch Leute herum. Sein Blick wanderte umher, da kreuzte ein Blick den seinen. Er erschrak. Ihm wurde heiß.

Da saß sie! Jawohl, da saß sie und schaute zu ihm herüber. Sie und zwei andere junge Frauen flüsterten miteinander. Meyendorffs Hände wurden feucht. Sollte er sich einfach zu ihnen an den Tisch setzen? Ein schneidiger Offizier würde das tun. Keine Frage, ein schneidiger Kerl ginge hin, setzte sich zu den jungen Frauen und unterhielt sie mit flotten Anekdoten aus dem Soldatenleben. Meyendorff zweifelte, ob er überhaupt nur einen einzigen Satz würde hervorbringen können.

Nun blinzelten die anderen beiden Frauen zu ihm herüber und musterten ihn neugierig. Wenn er noch länger ratlos herumstünde, machte er sich lächerlich, also schritt er los. Je näher er dem Tisch kam, desto heftiger pochte sein Puls. Er wusste wirklich nicht, wie er es schaffen sollte, das Wort zu erheben, aber irgendwie klappte es doch.

„Entschuldigen Sie bitte. Ist an diesem Tisch noch ein Platz frei?“

Er zitterte innerlich, als ihm das Fräulein ein strahlendes Lächeln schenkte. Wie glücklich musste ein Mann sein, den morgens dieses Lächeln begrüßte. Er konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden.

„An den anderen Tischen sind noch mehr Plätze frei“, plapperte eine Stimme ebenso kokett wie herausfordernd.

Meyendorff löste mit Mühe seinen Blick von dem Fräulein. Er wandte sich der Sprecherin zu.

„Ich wollte natürlich nicht aufdringlich sein. Wenn Sie lieber alleine zu speisen gedenken, suche ich anderswo einen Platz.“

Die Sprecherin war gewiss nicht älter als zweiundzwanzig. Sie war von großer Statur, nicht gerade hübsch, aber auch nicht hässlich. Ein Mädchen mit losem Mundwerk, wohl nicht dumm oder ungeschickt, aber für Meyendorff völlig uninteressant. Außer natürlich sie stellte sich zwischen das Fräulein und ihn.

„Sie können sich gerne setzen, Herr Oberleutnant“, sagte sie. „Wir sind schon fertig und müssen wieder los.“

Meyendorff blickte erst jetzt auf die Tabletts auf dem Tisch. Tatsächlich, sie hatten ihr Mahl schon beendet. Die drei jungen Frauen erhoben sich.

Kurz entschlossen stellte er sein Tablett ab, ging um den Tisch herum auf das schöne Fräulein zu und nahm Haltung an.

„Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Von Meyendorff. Hermann von Meyendorff.“

Sie reichte ihm verlegen lächelnd die Hand, er ergriff und küsste sie.

„Clarissa Roth“, flüsterte sie.

Dann trugen die drei jungen Frauen ihre Tabletts fort. Im Gehen tuschelten sie miteinander.

Clarissa Roth. Jetzt kannte er ihren Namen. Clarissa Roth. Immer wieder sagte er ihn still vor sich hin. Clarissa Roth. Und wie strahlend schön sie lächelte!

Meyendorff sah nicht, dass alle Anwesenden in der Kantine die Szene genau verfolgt hatten. Er setzte sich und aß, ohne zu bemerken, dass er aß. Langsam und versonnen löffelte er den Eintopf. Fortwährend klang der leise Hauch ihrer Stimme in seinem Ohr. Clarissa Roth.

„Das kann ich dir schon sagen, Hermann, wenn man alles zusammenrechnet, ist der Krieg nichts anders als eine Täuschung. Eine Illusion. Man bildet sich den ganzen Zirkus bloß ein. Die Waffen, die Flugzeuge, die Ehre, die Tapferkeitsmedaillen, das ist alles Einbildung. Das einzig Wirkliche am Krieg sind diese Dinger hier. Das ist alles.“

Meyendorffs Gast zeigte auf die Beinprothese, die auf dem Teppich lag.

Die Luft im Zimmer war zum Schneiden, dicke Rauchschwaden nebelten alles ein. Die beiden Männer rauchten dennoch im Eilzugtempo weiter. Hauptmann Werner Freiherr von Wildenstein-Glawogger hatte zwei Flaschen Raki und türkische Zigaretten mitgebracht. Meyendorff füllte erneut die Gläser.

„Diese Bude hier, dieses stinkende Kaff, die Hitze, das brackige Wasser am Bosporus, das ist alles nur Mumpitz. Dein lächerlicher Orden da auf dem Tisch ist wertloser Kram. Du warst in der Zeitung, Herr Oberleutnant? Na bravo! Du bist in der ganzen Monarchie berühmt? Sehr gut, Herr Graf! Sehr gut! Heute bist du berühmt, weil du Glück gehabt hast, wo andere Pech hatten, aber morgen bist du tot. Du kriegst eine ehrenvolle Nennung in der Zeitung und hopp, vergessen bist du. Das ist sogar die bessere Variante für dich. Die schlechtere ist, wenn du ein Krüppel bist. Helden mit zwei Armen, zwei Beinen und einem feschen Gesicht gehört die Welt. Helden im Rollstuhl mag man gar nicht. Die will man vergessen. Und die sogenannte Öffentlichkeit vergisst Helden, denen irgendwo ein Körperteil abhandengekommen ist, verflucht schnell. Das Dumme daran ist, dass die Helden noch leben, als Krüppel zwar, aber sie leben. Und sie können nicht vergessen.“

Mit stoischer Ruhe ertrug Meyendorff die bitteren Worte seines einzigen Freundes in Konstantinopel. Er wusste noch sehr gut, wie der damalige Rittmeister von Wildenstein mit einer Etrich E-100 von Luftsieg zu Luftsieg geflogen war. Wildenstein war der erste österreichische Jagdpilot, der mit einem Düsenflugzeug über einhundert Abschüsse erzielt hatte. Insgesamt gehörte er mit 147 Abschüssen zu den größten Fliegerassen der k. u. k. Luftflotte. Als er selbst zum vierten Mal abgeschossen worden war, war es nicht so glimpflich wie die drei Male zuvor ausgegangen. Dem Heldentod knapp entkommen, war sein linkes Bein nicht mehr zu retten gewesen. Meyendorff hatte es immer wieder erlebt, manche Männer konnten nach einer Amputation ungeahnte Kräfte und Energien freisetzen, sie gierten nach dem flüchtigen Leben, die meisten allerdings wurden bitter. Wildenstein gehörte zur zweiten Gruppe, er war voller Wut auf sich und die Welt.

Wildenstein griff nach dem Glas und kippte den Raki rasch hinunter. Er verzog das Gesicht, heiß brannte der Schnaps in der Kehle. Dann langte er nach den Zigaretten.

„Los, Herr Oberleutnant, rauch noch eine. Das ist ein Befehl!“

Wildenstein sog den Qualm kräftig ein.

„Das Einzige, was einem Krüppel noch Spaß macht, ist guter Tabak und starker Schnaps. Zum Teufel damit!“

Meyendorff starrte auf die Beinprothese, die Wildenstein abgeschnallt und mitten auf den Teppich geworfen hatte. Er dachte an sein verbranntes Bein. Unwillkürlich griff er danach, gleichsam um sich zu versichern, dass die Prothese nicht doch ihm gehörte. Wildenstein verfolgte die Bewegung.

„Und, hast du Schmerzen?“

Meyendorff schreckte ein wenig hoch, ihm war seine Bewegung gar nicht bewusst gewesen.

„Nein, nein. Zumindest jetzt nicht.“

Wildenstein schnippte die Asche achtlos auf den Teppich. Ihm fiel so etwas gar nicht auf, genauso wenig wie ihm auffiel, dass seine Uniform längst einmal gereinigt gehörte, dass er einen Haarschnitt und eine Rasur brauchte, dass seine Fingernägel geschnitten werden sollten. Sehr nachlässig wirkte der Hauptmann, auf dessen Brust alle nur erdenklichen Orden glitzerten.

„Du hast Schwein gehabt, Hermann, riesiges Schwein. Brandwunden heilen, Narben bleiben, aber du bist nicht beschädigt. An dir ist alles dran. Du hast großes Schwein gehabt.“

Wildenstein inhalierte und hielt den Rauch lange in der Lunge, ehe er ihn wieder ausblies.

„Nur wie lange wirst du Schwein haben? Irgendwann schicken sie dich wieder hinaus. Irgendwann sitzt du wieder in deinem Bomber und wirst kein Schwein haben. Das ist das Gesetz des Krieges. Und wenn dich das Schwein verlässt, du aber Schwein hast, wirst du tot sein. Wenn du aber doppeltes Pech hast, wirst du ein Krüppel sein. Prost.“

Meyendorff war betrunken, was ihm half, das ewige Gejammer des Hauptmannes mit der Prothese nicht zu hören. Er dachte an Clarissa. Er dachte an die gestrige Begegnung in der Kantine. Er dachte an ihr Lächeln. Noch nie waren seine Gedanken von einem Fräulein so gefesselt gewesen. Er konnte es nicht anders nennen, er war verliebt. Er saß ruhig auf seinem Stuhl, regte sich nur, wenn er nach Zigaretten oder dem Schnapsglas griff. Auf dem Stuhl gegenüber saß Wildenstein und redete und redete. Vielleicht war es Wildenstein egal, ob Meyendorff zuhörte oder nicht, solange der Vortrag nicht gestört wurde. Und Meyendorff hörte nicht mehr zu, vielmehr lauschte er einem geflüsterten Namen. Clarissa Roth.

„Ich hab dich etwas gefragt, Hermann!“, fauchte Wildenstein mürrisch.

Er schrak aus seinen Träumen hoch, er blickte in die müden Augen des fünfundzwanzigjährigen Greises in seinem Zimmer.

„Gehst du ins Bordell?“, wiederholte Wildenstein seine Frage.

„Nein, gehe ich nicht. Also zumindest derzeit nicht.“

„Zumindest, zumindest, ständig sagst du Nein und zumindest“, keifte Wildenstein.

„In Wien war ich gelegentlich im Café Rosa in der Zirkusgasse.“

„Und jetzt gehst du nicht?“

Meyendorff griff zu einer Zigarette. Sein Hals fühlte sich kratzig an, eigentlich hatte er für drei Tage genug von Tabak, dennoch entflammte er die Zigarette. Er antwortete nicht auf Wildensteins Frage. Eine Minute herrschte Schweigen zwischen den Männern.

„Und wie heißt sie?“, fragte Wildenstein lapidar.

Eine Ewigkeit verstrich ehe Meyendorff antwortete.

„Clarissa Roth.“

Wildenstein kippte sein Glas.

„Wie lange kennt ihr euch?“

„Ich kenne sie nicht. Noch nicht.“

Wieder verstrich eine Minute des Schweigens. Wildenstein streckte sich und angelte nach der Prothese. Er band die Gurte an den Beinstumpf. Er flüsterte.

„Sie ist sehr hübsch, nicht wahr?“

Es war zwar nicht unmöglich, dennoch schwierig, die Dienstzeiten von Angestellten anderer Abteilungen herauszubekommen. Meyendorff mühte sich schon den ganzen Vormittag, seine Kopfschmerzen und seine Ungeschicklichkeit bei verdeckten Ermittlungen zu überwinden. Die zwei Flaschen Raki, die Wildenstein mitgebracht hatte, war nicht der letzte Alkohol des gestrigen Abends gewesen. Wildenstein hatte Meyendorff solange beflegelt, bis sie schließlich gemeinsam in jenes Nachtlokal gegangen waren, in welchem sich die jüngeren Offiziere zu Besäufnissen einfanden.

Wildenstein hatte die Korken knallen lassen. Raki, ungarischer Tokaier, Tiroler Obstler, kroatischer Slibowitz, der Alkohol war in Strömen geflossen. Das war das Leben in der Etappe, durchzechte Nächte mit Invaliden oder Drückebergern, billiger Tabak, Tristesse und Aufschneidertum, geheuchelte Siegeszuversicht und als patriotische Begeisterung getarnte Selbstsucht. Als sich die Trunkenbolde um Wildenstein für eine Wehrpflichtmusterung im Offiziersbordell gerüstet hatten, war es Meyendorff gelungen, sich abzusetzen. Wildenstein hatte zwar herumgemeckert und ihn einen traurigen Poeten genannt, aber er hatte nichts von seinem Wissen preisgegeben. Anderenfalls hätte Meyendorff nicht gezögert, ihn an Ort und Stelle zu erschießen. Aber Wildenstein war nicht der Mann, der Kameraden öffentlich bloßstellte, er beschimpfte zwar jeden, aber er verletzte nie die Ehre eines Mannes. Alleine deswegen pflegte Meyendorff Kontakt zu ihm.

Unmöglich war es nicht, aber die Schwierigkeiten drohten ihm den Schädel zu sprengen. Die Kopfschmerzen schaukelten sich mit jedem Telefonat noch auf, bis Meyendorff seine Aktivitäten beendete. Ergebnislos. Er hatte Clarissa Roths Dienstplan nicht herausfinden können, also widmete er sich wieder seinen Listen.

Draußen vor der Tür seines winzigen Büros klapperten Schreibmaschinen und Fernschreiber, klingelten Telefone, zuckten gedämpfte Stimmen durcheinander. Was war das doch für eine einfache Sache, einen viermotorigen Bomber tief ins Feindesland zu fliegen, im Vergleich mit dem Ausfüllen von Tabellen und Formularen. Wie leicht war dieser gewaltige technische Organismus Flugzeug zu beherrschen im Vergleich zu den bürokratischen Abläufen der Militärverwaltung. Meyendorff spitzte mit dem Taschenmesser einen Bleistift. In Wahrheit war das seine Hauptbeschäftigung, das Spitzen der Bleistifte. Spitz wie deutsche Vergeltungswaffen waren seine Bleistifte, bloß lagen die Bleistifte in ihren Munitionsmagazinen, während die Vergeltungswaffen auf englische Städte und Fabriken niederstürzten. Meyendorff begutachtete den Bleistift von allen Seiten, wunderte sich über diesen merkwürdigen Vergleich, schüttelte den Kopf und legte den Bleistift zur Seite.

Ihm fiel ein Gesprächsfetzen des gestrigen Abends ein. Ein paar Leutnants hatten stockbesoffen vom Mädchenpensionat des Fliegerquartiers gesprochen. Mädchenpensionat, so hatten sie das Barackenlager am Rande Konstantinopels genannt, in dem ein Großteil des weiblichen Personals des Fliegerquartiers untergebracht war. Wahrscheinlich logierte Clarissa Roth dort. Meyendorff griff zum Hörer und ließ sich von der Vermittlung verbinden. Es dauerte beinahe zehn Minuten, bis die Verbindung hergestellt war, aber endlich erreichte er den Wachdienst des Barackenlagers.

„Hallo, hier spricht Oberleutnant von Meyendorff, Fliegerquartier Süd. Ich hätte gern eine Auskunft. Ja, ich warte.“

„Ja hallo, ich hätte gerne Auskunft in einer privaten Angelegenheit. Können Sie mir sagen, ob und wann ich Fräulein Clarissa Roth antreffen kann. Ja, eine private Angelegenheit. Von Meyendorff mein Name. Habe ich schon gesagt. Ich bin ein Bekannter der Familie und soll Empfehlungen von ihrem Onkel überbringen. Hören Sie nicht zu? Eine private Angelegenheit, nicht dienstlich. Also bitte. Ich weiß nicht, ob sie bei Ihnen untergebracht ist, sonst würde ich nicht anrufen, sondern gleich kommen. Ich bitte Sie, hören Sie doch zu. Blicken Sie nur einmal auf Ihre Listen und sagen Sie mir, ob Fräulein Clarissa Roth bei Ihnen untergebracht ist. Ja, ich warte.“

Meyendorff war genervt, zuerst unzählige Versuche, überhaupt eine Leitung zustande zu bringen, und dann dieser Hornochse von Adjutant. Die Zigarette war in seinen Fingern beinahe verqualmt, ehe sich am anderen Ende der Leitung jemand rührte.

„Hallo, ja ich höre. Wie bitte. Sie ist derzeit nicht im Lager, sie ist im Dienst. Um sieben Uhr hat sie sich abgemeldet? Jawohl, Sie haben mir sehr geholfen. Natürlich, also notieren Sie. Oberleutnant von Meyendorff in einer privaten Angelegenheit. Haben Sie es notiert? Ich sage Ihnen noch meine Dienstnummer, damit auch alles seine Richtigkeit hat. Brauchen Sie nicht. Gut. Danke sehr. Auf Wiederhören.“

Meyendorff legte auf und lehnte sich zurück. Sein Blick schweifte ins Leere. Clarissa Roth.

Er bezahlte den Fahrer. Dieser redete gestenreich, er schien etwas erklären zu wollen, aber Meyendorffs Türkischkenntnisse reichten nicht, um den Mann zu verstehen. Das Getriebe krachte, der Wagen fuhr los und verschwand. Er blickte sich um. Ein einigermaßen hübscher Platz, niedrige Häuser, ein paar Läden, ein Kaffeehaus und drei Palmen in Mitte des Platzes. Links zweigte eine Straße ab, die hinaus auf das Land führte. In der Ferne sah er ein paar zerbombte und ausgebrannte Häuser. Die letzten schweren Luftangriffe auf Konstantinopel waren über ein Jahr her. Wahrscheinlich war ein Bomber abgedrängt worden und der Bombenwerfer hatte die Bomben in Panik irgendwo ausgeklinkt, anderenfalls wäre es nicht erklärbar, weshalb man so ein unwichtiges Viertel angriffen hatte. Hier gab es keine Industrie und keine militärischen Stützpunkte. Ein paar Hundert Schritte trennten ihn vom Eingang zum Barackenlager. Er sah zwei Soldaten vor einem Gittertor Wache schieben. Auf dem Platz tummelten sich Leute. Vor allem junge Frauen. Meyendorffs Blick tauchte in die Menge. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich dem Auflauf bei drei Lastwagen.

Österreicherinnen. Auf dem Weg zu ihren Arbeitsplätzen. In strenger Ordnung, kontrolliert von uniformierten Frauen des Wachdienstes und einigen Landsturmmännern kletterten die Frauen auf die Ladeflächen der Laster. Meyendorff suchte nach einem Gesicht in der Menge. Ein türkischer Korporal entdeckte Meyendorff und salutierte stramm. Das gesuchte Gesicht war nicht zu finden. Die Fahrer starteten die Motoren und nacheinander fuhren die Laster ab. Die Sonne senkte sich langsam dem Abend zu, es war heiß und windstill. Der Geruch von Dieselabgasen erfüllte die Luft und verflüchtigte sich nur langsam. Nachdem die drei Laster fort waren, legte sich beschauliche Stille über den Platz. Die Landsturmmänner salutierten vor Meyendorff, er erwiderte den Gruß, dann gingen sie in Richtung Barackenlager.

Eine halbe Stunde streifte Meyendorff ziellos durch die Gegend. Der Platz war hübsch, aber die Gassen dahinter offenbarten das Elend der Vorstadt. Schäbige Behausungen, anders konnte man es nicht nennen. Die Menschen hier waren bettelarm, wovon sie lebten, war ein Rätsel. Ganz so wie in allen europäischen Städten. Meyendorff hatte nirgendwo andere Vorstädte gesehen.

Er kam wieder auf den Platz und steuerte auf das Kaffeehaus zu. Im Schatten einiger Bäume standen kleine Holztische vor dem ein wenig schiefen Haus. Drei alte, verhutzelte Männer saßen mit dem Rücken zur Hausmauer nebeneinander. Sie schienen alle Zeit der Welt zu haben und durch nichts in ihrer Ruhe gestört werden zu können. Meyendorff grüßte mit einem Kopfnicken, die Männer erwiderten den Gruß. Er nahm den vordersten Tisch, nicht nur, um den Männern nicht zu nahe zu rücken, sondern auch, um den Platz gut überblicken zu können. Mühsam erhob sich einer der drei, warf sich ein nicht ganz frisches weißes Tuch über den Arm und schlurfte heran. Meyendorff war in seinem Leben häufig in Konstantinopel gewesen, auch in Smyrna und anderen türkischen Luftflottenstützpunkten, aber bis auf ein paar Brocken hatte er die türkische Sprache nicht erlernt. Nicht erlernen können. Nie hatte sich die Möglichkeit eines intensiven Sprachstudiums ergeben. Dabei hielt er sich selbst für talentiert. Schon im Volksschulalter hatte er Ungarisch gelernt und später auf der Kadettenschule perfektioniert. Weiters hatte er in Grundzügen auch Französisch und Kroatisch erlernt. Immerhin reichte sein Türkisch aus, um in Kaffeehäusern Bestellungen abzugeben. Meyendorff wusste, dass viele Türken nicht sehr glücklich darüber waren, dass sich österreichische, ungarische und deutsche Soldaten in ihrem Land aufhielten, denn mit ihnen ging der Krieg weiter, andererseits konnte man als Offizier die Herzen der Leute im Sturm erobern, wenn man sich bemühte, ihre Sprache zu sprechen, ihre Angewohnheiten zu respektieren und ihre Umgangsformen zu pflegen.

Meyendorff bestellte Apfeltee. Der alte Wirt verneigte sich und verschwand im Haus. Meyendorff versuchte nicht in das Innere des Hauses zu schauen, besser war, er vergegenwärtigte sich den hygienischen Zustand der Küche des Kaffeehauses nicht. Langsam entnahm er seiner Rocktasche das Zigarettenetui, fischte nach einer Zigarette und entflammte sie. Die Luft stand, dennoch war die Hitze erträglich. Es war erst Frühling, der Hochsommer würde schon noch die Gluthitze bringen.

Die Zeit lief. Meyendorff trank den süßen Apfeltee ohne jede Hast. Er passte seinen Atemrhythmus an den der drei alten Männer an. Die Zeit war nichts, der Tag unendlich, das Leben viel zu kurz und doch ewig in allen seinen Augenblicken. Er hatte die stoische Ruhe der Türken stets bewundert.

Später trank er eine zweite Tasse Apfeltee und rauchte noch eine Zigarette.

Eine Horde Kinder jagte mit Geschrei über den Platz und verschwand wieder.

Dann vernahm Meyendorff Motorenlärm. Er drehte den Kopf. Die Lastwagen kehrten zurück. Vor dem Barackenlager marschierten die Landsturmmänner und Frauen des Wachdienstes herüber. Meyendorff nickte dem Wirt zu und legte einige Münzen auf den Tisch. Er gab immer großzügig Trinkgeld.

Lärmend rollten die Laster über den Platz. Die Ladebordwände fielen krachend auf und Dutzende Frauen stiegen ab. Wieder war der Platz von durcheinanderwirbelnden Stimmen erfüllt. Meyendorff saß da und suchte in der Menge. Er war zwar recht weit entfernt, aber seine Augen waren ausgezeichnet. Für Piloten war es außerordentlich hilfreich, gute Augen zu haben. Er war nervös. War sie wieder nicht dabei? Sollte er jeden Tag hierherkommen? Machte er sich bei den Wachen nicht lächerlich, wenn er vor dem Mädchenpensionat wie ein streunender Kater herumschlich?

Da war sie!

Kurz hatte er ihr Gesicht gesehen. Sein Puls raste. Er erhob sich und ging entlang der Häuserzeile rund um den Platz. Die Frauen trotteten langsam in Richtung Barackenlager. Meyendorff suchte nach ihr, fand sie aber vorerst nicht. Hatte er sich getäuscht? Einige der Frauen bemerkten ihn und schauten neugierig herüber. Clarissas Augen waren dabei. Innerlich jauchzte Meyendorff vor Freude. Ihre Blicke trafen sich. Er blieb stehen und sah ihr nach, wie sie in der Menge vorwärtsschritt. Ihre Blicke trennten sich erst, als sich ein Haus zwischen sie schob. Wie schön sie war. Unbeschreiblich schön. Eine Prinzessin. Die Menschenmenge verflüchtigte sich, die Laster fuhren ab. Einige ältere Frauen standen noch tratschend bei den spärlich bestückten Warenkörben des Gemüsehändlers. Zwei Frauen des Wachdienstes waren unter ihnen.

Was sollte er tun? Wie würde er Clarissa jemals ansprechen können? Immer waren da neugierige Augen und Ohren. Wie würde er je mit ihr ins Gespräch kommen können?

Er wollte sich eben eine Zigarette anstecken, da huschte eine zierliche Gestalt um die Ecke und flog mit leichten Schritten an ihm vorbei. Clarissas vorwitziger Blick warf ihn beinahe um. Sie war gekommen!

Vor dem kleinen Fenster der Bäckerei blieb sie stehen und schien über das Angebot nachzudenken. Sollte sie ein großes oder zwei kleine Brote kaufen? Aber Meyendorff wusste genau, dass sie nicht wegen der Brote zurückgekommen war. Er trat an sie heran.

„Guten Tag, mein Fräulein. Ich habe die Ehre, Sie zu kennen. Erlauben Sie, dass ich Ihnen meine Aufwartung mache.“

Sie drehte den Kopf und lächelte ihn an.

„Guten Tag, Herr Oberleutnant.“

Sie reichte ihm ihre Hand. Meyendorff ergriff und küsste sie galant.

„Wenn Sie gestatten, es wäre mir ein Vergnügen, Sie beim Brotkauf zu begleiten. Oder darf ich es wagen, Ihnen einen kleinen Spaziergang vorzuschlagen?“

„Der Bäcker hat bis spät nachts offen. Ich muss das Brot nicht sofort kaufen. Aber in spätestens zwanzig Minuten muss ich durch die Sperre gegangen sein.“

Kurz schaute sie zu den älteren Frauen hinüber. Diese hatten sich offensichtlich zu einem Kauf entschlossen und waren im Begriff, ins Barackenlager zurückzugehen. Sie alle hatten den Oberleutnant und das Fräulein vor der Bäckerei gesehen.

„Die Hyänen werden uns bestimmt nicht aus den Augen lassen“, flüsterte sie.

Meyendorff konnte sehen, wie sich eine der zwei Wachfrauen von der Gruppe löste und sich in den Schatten eines Baumes stellte.

„Wir dürfen uns nicht vom Platz entfernen. Sonst rennt sie uns nach. Das machen sie immer so.“

Meyendorff räusperte sich.

„Ich will Ihnen keinerlei Schwierigkeiten bereiten, also schlage ich vor, wir spazieren hier ein wenig über den Platz. So ist allem Anstand doch hoffentlich Genüge getan.“

Er konnte nicht anders, er lächelte, wie er gewiss noch nie gelächelt hatte. War er jemals so voller Freude gewesen? Mit langsamen Schritten gingen sie über den Platz.

„Haben Sie gewusst, wann ich komme?“, fragte Clarissa.

„Nein, ich habe einfach gewartet.“

„Und mussten Sie lange warten?“

„Eigentlich nicht. Hier, in diesem Kaffeehaus, habe ich etwas Apfeltee getrunken. Eine Stunde. Ich hatte Glück.“

Er nickte unmerklich. Oh ja, er hatte wirklich Glück gehabt, unglaubliches Glück.

„Ist das Wetter hier nicht fabelhaft? Ich bin seit zwei Monaten hier und das Wetter gefällt mir mit jedem Tag besser. Die Sonne, das helle Licht, die Wärme.“

„Der Frühling am Bosporus ist tatsächlich für uns aus dem Norden ein kleines Wunder.“

„Bei uns zu Hause in Lemberg regnet es den ganzen Frühling über. Oder zumindest fast. Verglichen mit dem Winter in Galizien ist der Frühling hier wie ein Traum.“

Meyendorff verliebte sich in die feenhafte Leichtigkeit, mit der sie sprach, melodiös und anmutig. Und ihre Hände gestikulierten lebendig, tanzten zierliche Pirouetten in die Luft. Jetzt wusste er auch, woher sie kam. Aus Lemberg, aus dem Osten des Reiches. Ob sie Jüdin war?

„Ich liebe dieses Land, obwohl ich bislang kaum noch etwas davon gesehen habe.“

Ein Hauch von Traurigkeit huschte über ihr Gesicht.

„Immerzu wird man hier kontrolliert, nie darf man etwas unternehmen, immer nur Dienst und Disziplin. Dieser Platz ist ganz nett, aber gehen Sie einmal ein paar Schritte durch das Viertel hier. Deprimierend graue Häuser, fahle Wände, schmutzige Gassen. Und in der Dienstzeit immer das künstliche Licht im Bunker anstatt der fröhlichen Sonne.“

Clarissa lächelte wieder.

„Aber einmal durften wir einen Ausflug an den Strand unternehmen. Es war wunderbar. Früher habe ich immer von einem Sommerurlaub an der Adria geträumt. Ich wollte schwimmen, segeln, nach bunten Fischen tauchen. Jeden Sommer war ich wieder enttäuscht, nicht hinfahren zu können. Mein Vater hat mir jeden Sommer wieder erklärt, die Adria ist vermint, von Kriegsschiffen durchkreuzt und in der Reichweite italienischer Flugzeuge. Ich habe damals nicht begreifen können, was das mit meinem Badeurlaub zu tun hatte. Und jetzt war ich endlich zum Baden am Meer. Meine Kameradinnen und ich sind herumgetollt wie kleine Kinder.“

Clarissa hüpfte vergnügt neben Meyendorff und klatschte in die Hände.

„Die Hyänen haben uns fast nicht mehr aus dem Wasser gebracht. Es war wunderschön.“

Clarissa fasste sich wieder und ging ruhig weiter.

„Entschuldigen Sie bitte, dass ich Hyänen sage, aber das ist so der Sprachgebrauch in den Baracken.“

Meyendorff war entzückt. Was für eine kindlich reine Seele in ihr wohnte.

„Sie können sich wahrscheinlich denken, dass man als Pilot meistens nicht auf die Landschaft achten kann. Zumindest nicht in einem ästhetischen Sinn“, führte Meyendorff aus. „Man sieht die Küste und das Meer, also hat man noch eine Stunde nördlich, südlich, östlich oder westlich zu fliegen. Man achtet auf die Landschaft nur als Navigationshilfe. Doch manchmal, in seltenen Momenten, gelingt es einem, aus siebentausend Metern Höhe in Ruhe und kurzer Freude die Erde zu beobachten. Ich wünschte, Sie könnten das einmal erleben, hoch im Himmel zu schweben, schwerelos über das Meer zu gleiten. Und unten liegen die ägäischen Inseln, kleine Landkonturen, braune oder grüne Küstenlinien und Berge im ewigen Wasser. Bedächtig neigt sich die Sonne gegen den Horizont im Westen und man sieht die Schatten der Wolken auf dem Wasser.“

Meyendorff war erstaunt, mit welcher Leichtigkeit ihn die Rührung ergriffen hatte. Ansonsten behielt er Gedanken und Gefühle wie diese für sich. In einer Welt der männlichen Disziplin und militärischen Hierarchie hatten schwärmerische Naturbetrachtungen keinen Platz. Aber hier hatte er den richtigen Ton getroffen, Clarissas Augen leuchteten neugierig, ja, vielleicht sogar fasziniert.

„Aber diese Momente sind so rar. Ich verstehe Sie gut, dass Ihnen der Ausflug großes Vergnügen bereitet hat.“

Er blieb mitten im Schritt stehen. Das war eine großartige Idee. Clarissa stoppte ebenfalls und konnte sich gar nicht von seinen Augen lösen.

„Mein Fräulein, darf ich Clarissa zu Ihnen sagen?“

Er nahm ihre Hand. Sie hauchte mehr, als dass sie sprach.

„Ja.“

Er küsste ihre Hand.

„Dann bitte ich Sie, mich Hermann zu nennen.“

Clarissa nickte. Er ließ ihre Hand nicht los.

„Darf ich darüber hinaus anbieten, Sie bei nächster Gelegenheit zu einem Ausflug in das Hinterland zu fahren? Es ist für mich keine Schwierigkeit, jederzeit ein Fahrzeug zu besorgen. Wir könnten eine Tagestour unternehmen und nach einem schönen Ort zur Rast suchen.“

Clarissas Stimme zitterte beinahe.

„Das wäre wunderbar. Ich würde mich außerordentlich freuen, aber ob das die Lagerleitung zulassen wird? Hier herrschen sehr strenge Regeln.“

Er küsste wieder ihre Hand und geleitete sie in Richtung Barackenlager.

„Liebe Clarissa, ich bin zwar nur Oberleutnant, aber unterschätzen Sie nicht meinen Einfluss. Wann ist Ihr nächster freier Tag?“

„Sonntag nächste Woche.“

„Also in zehn Tagen. Gut, dann Sonntag nächste Woche. Ich hole Sie ab. Sie werden sehen, man wird Ihnen diesen Urlaubstag nicht verwehren können.“

Er fixierte die Uhr. Mit geradezu impertinenter Langsamkeit kreiste der Minutenzeiger. Er durfte den richtigen Zeitpunkt nicht verpassen, der General hatte feste Gewohnheiten, und wer etwas von ihm wollte, hatte sich diesen Gewohnheiten anzupassen.

Noch zehn Minuten.

Meyendorff war beileibe kein Freund des Generals, im Gegenteil, er fand den operettenhaften Hofstaat, in den er das Fliegerquartier verwandelt hatte, lächerlich. Meyendorff war von Adel, aber dieses Getue wie am Hofe König Ludwigs XIV. ärgerte ihn. Damit untergrub man die Moral der einfachen Leute, der Soldaten, der Arbeiter in den Werkstätten. Aber in diesem speziellen Fall gedachte Meyendorff sich Kirnbauers Faible für Empfänge zunutze zu machen.

Noch acht Minuten bis der General zum Mittagstisch ging. Pünktlich um zwölf Uhr fünfzehn.

Es war ihm in fast einer Woche Untergrundarbeit nicht gelungen, an besagtem Sonntag eine Ausgangserlaubnis für Clarissa zu erwirken. Keiner seiner Vorstöße hatte Erfolg gehabt, schlicht und einfach, weil eine böse alte Hexe die oberste administrative Leitung der Quartiere für weibliche Militärangehörige und Luftflotten-Dienstkräfte innehatte. Diese Ausgeburt des Satans, oder vielleicht war sie doch eine direkte Delegierte des Papstes, mit fahlen Lippen, hochgeschlossenem Kragen und einem ständig unter den Arm geklemmten Gebetsbuch, verfügte rigoros über ledige Frauen, die ihr einundzwanzigstes Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. Auf diesem Weg hatte Meyendorff Clarissas Alter erfahren, sie war genau zwanzig Jahre und sieben Monate alt, also fehlten ärgerliche fünf Monate zur Volljährigkeit. Es war völlig ausgeschlossen, dass ein minderjähriges Fräulein im Dienst der k. u. k. Luftflotte alleine mit einem Offizier ausging. Das hatte Meyendorff schließlich zur Kenntnis nehmen müssen. Er hatte nicht eine Schlacht, sondern bisher alle Schlachten verloren, aber die letzte Schlacht war noch nicht geschlagen. Er hatte noch eine Waffe in der Hand, eine gefährliche Waffe.

Es war Zeit. Meyendorff erhob sich, schaute an sich herab, befand sich perfekt adjustiert und verließ sein winziges Büro. Durch das Gedärm des Bunkers schlängelten sich unzählige Verzweigungen. Er lief einige Gänge entlang. Überall wurde gearbeitet, obwohl der oberste Befehlshaber des FlQ-Süd ein Traumtänzer war. Die Notwendigkeit, den gigantischen Verwaltungsaufwand des Krieges zu erledigen, bestimmte hier den Arbeitsrhythmus.

Meyendorff blickte in den Gang, in dem er dem General auflauern wollte. Kirnbauer verspätete sich, normalerweise müsste er genau jetzt mit seinem Adjutantenstab hier entlangmarschieren. Nach Kirnbauer konnte man, wenn er ins Offizierskasino zum Mittagstisch ging, die Uhr stellen. Meyendorff wartete hinter einer Ecke. Ein schmalbrüstiger älterer Beamter trug ein Bündel Akten an ihm vorbei und lächelte. Er kannte diese Szene offenbar schon, ein jüngerer Offizier, der dem General auflauerte.

Da kam er. General Kirnbauer. In Begleitung von zwei Ordonnanzoffizieren.

Meyendorff trat schwungvoll hinter der Ecke hervor, direkt in das Blickfeld des Generals, überrascht hielt dieser inne, Meyendorff knallte vorschriftsmäßig mit den Hacken und salutierte stramm. Natürlich hatte er für diesen Auftritt seine goldene Medaille nicht vergessen. Prunkvoll glänzte sie auf seiner Brust. Der General salutierte lässig.

„Sieh an, sieh an, Herr Oberleutnant. Bekommt man Sie endlich wieder zu Gesicht?“

Der goldene Schein der Tapferkeitsmedaille bewirkte, dass der General stehen blieb und Meyendorff wohlwollend musterte.

„Na, wie geht’s Ihnen so? Die Verletzungen kuriert?“

Meyendorff roch die Fahne des Generals. Schon vor dem Mittagessen hatte er getrunken.

„Danke der Nachfrage, Herr General. Ich bin wieder heil.“

„Na, das wird aber auch Zeit. Sagen Sie mal, Herr Oberleutnant, wo haben Sie sich versteckt?“, fragte er und wandte sich seinem Adjutanten zu. „Da hat man nun einen echten Helden im Haus und kann sich gar nicht an seinem Glanz erfreuen, weil er sich im Mausloch versteckt.“

Der General und seine Begleiter lachten.

„Herr General, ich bitte Sie aufrichtig um Nachsicht. Tatsächlich hat mich meine Verwundung viel Substanz gekostet, und für mich als Frontoffizier war die Umstellung auf den Etappendienst nicht leicht.“

Meyendorff ging forsch ins Gefecht, die alte Rivalität zwischen Front- und Etappenoffizieren war stets Anlass zu feurigem Disput. Der General spitzte seine Lippen und fixierte den vorlauten Oberleutnant.

„Umso mehr freut es mich, Herr General, wenn ich Ihnen mitteilen darf, dass ich mich an meinem neuen Dienstposten Seiner Majestät Luftflotte eingewöhnt habe und mit großem Engagement meine Arbeit leiste.“

Touché. Der General lächelte und klopfte Meyendorff auf die Schulter.

„Bestens, Herr Oberleutnant, bestens. Wollten Sie ins Kasino? Begleiten Sie mich doch. Man sitzt gern mit einen feschen Helden an einem Tisch.“

„Herr General, ich danke vorzüglich für die Ehre und schließe mich Ihnen gerne an.“

Sie marschierten los.

„Aber dass Sie sich überhaupt nicht haben blicken lassen, Herr von Meyendorff, hätte Ihrem Onkel, Gott hab ihn selig, gewiss Verdruss bereitet“, tadelte der General.

„Tatsächlich ist mir mein Versäumnis peinlich bewusst, darum möchte ich in aller Bescheidenheit fragen, ob die Einladung zu Ihrer Sonntagsmatinee noch Gültigkeit hat?“

Der General lachte jovial.

„Na, was glauben Sie, mein Guter! Meine Frau macht mir seit Wochen die Hölle heiß, weil ich ihr unseren Helden noch nicht vorgestellt habe. Also, ich erwarte Sie um zehn Uhr. Und diesmal keine Ausreden. So, jetzt erzählen Sie mir einmal ganz genau, wie Sie durch die feindlichen Linien gekommen sind.“

„Herr General, mit dem allergrößten Vergnügen, darf ich aber noch ein kleines Anliegen vorbringen?“

Der General schaute ein wenig scheel. Ein geübter Blick, den er im Laufe seiner Karriere wohl Tausenden Bittstellern zugeworfen hatte.

„Es wäre mir eine Ehre, nicht alleine zur Matinee erscheinen zu dürfen. Ich habe ein Fräulein kennengelernt, welches mir Ihnen vorzustellen eine Ehre wäre.“

Der scheele Blick des Generals verflog, er lächelte süßlich. Das waren genau die Geschichten nach seinem Geschmack.

„Darum will ich bitten, Herr Oberleutnant.“

Jetzt hatte Meyendorff Kirnbauer so weit, jetzt hieß es, die Schlacht im Sturmlauf zu entscheiden.

„Das junge Fräulein wohnt im Barackenlager Nord, und vielleicht ist Ihnen schon zu Ohren gekommen, dass dort sehr strenge Sitten herrschen. Ich fürchte, ich kann Ihnen das Fräulein nicht vorstellen, wenn Sie nicht Ihr gewichtiges Wort erheben.“

General Kirnbauer nickte heftig.

„Oh ja, Herr Oberleutnant, solche Klagen höre ich immer wieder, aber solange die Gräfin Almassy dort das Sagen hat, wird sich nichts ändern. Also, wie heißt das Fräulein?“

„Clarissa Roth, Herr General.“

Sie blieben stehen. Kirnbauer wandte sich an seinen Adjutanten.

„Gruber, notieren Sie. Fräulein Clarissa Roth kriegt eine schriftliche Einladung für die Matinee am nächsten Sonntag. Und wenn die bocken, werde ich denen die Leviten lesen.“

Er wandte sich an Meyendorff.

„Sagten Sie Clarissa Roth? Ist das nicht die Tochter von Wenzel Roth, dem Industriellen? Herrgott, jetzt fällt’s mir wieder ein, der Herr Papa hat mir doch vor Wochen einen Brief geschrieben und das Kommen seiner Tochter angekündigt. So ein Schlamassel, die kleine Roth ist mir völlig entfallen.“

Ernsthaft besorgt blickte er Hauptmann Gruber an.

„Jud oder nicht Jud, der Roth ist ein treuer Diener des Kaisers. Gruber, da müssen wir uns eine brauchbare Ausrede einfallen lassen.“

Streng fasste der General Meyendorff ins Auge und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Herr Oberleutnant, Sie sind mir persönlich dafür verantwortlich, dass Fräulein Roth pünktlich um zehn Uhr zur Matinee erscheint.“

Sie gingen weiter.

„So, aber jetzt erzählen Sie schon, wie Sie durch die feindlichen Linien gekommen sind.“

„Im Prinzip ganz einfach, Herr General. Meine Männer und ich haben uns tagsüber versteckt und nachts sind wir marschiert. Und wenn uns ein feindlicher Soldat entdeckt hat, haben wir ihn getötet.“

Der General lachte lauthals.

„Famos, Herr Oberleutnant, ganz famos! Das müssen Sie mir detailliert schildern.“

Der blinde Spiegel

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