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OSTFRONT, MAI 1915

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Aufmarschraum 3. Bataillon. Und trockenes Wetter. Die Frühlingsregen haben sich längst verzogen, der Boden ist trocken und fest. Das ist ein schlechtes Zeichen.

Pepi lutscht fast seine Zigarette. Heiß glüht der Glimmstängel an seinen Lippen. Ich habe jetzt zum fünften Mal in einer halben Stunde in den Graben uriniert. Jedes Mal ein paar Tropfen, dann wieder stocken, noch ein paar Tropfen und wieder stocken. Aber der Druck auf der Blase lässt nicht nach. Finsternis umhüllt unsere Köpfe, Finsternis in den Augen, aber wir wissen, es wird bald Tag, die Sonne will den zweiten Tag des Monats Mai hell erleuchten. Gutes Wetter, gutes Wetter, immer wieder hört man die Leute sagen: gutes Wetter. Miserables Wetter, Wetter zum Sterben. Oberleutnant Zillner taumelt durch den Schützengraben, drängt sich an stinkenden Leibern vorbei. Ich stinke auch wie ein Schwein. Und ich muss schon wieder meine Blase entleeren. Alfreds Schulter stemmt sich schon seit einer Stunde gegen die meine. Oder umgekehrt? Alfred, Alfred, was soll ich ohne dich machen? Du darfst nicht fallen, du nicht, ohne dich bin ich verloren und hilflos.

Oberleutnant Zillner taumelt in die andere Richtung zurück. 3. Bataillon bereit. Noch fünf Minuten. Er hastet hinüber zum 1. Bataillon, das rechts neben uns steht. Meldung machen. 3. Bataillon bereit. Noch vier Minuten bis zur Offensive. Wissen die Russen Bescheid? Was gäbe ich, wenn ich jetzt in Neusandez Kartoffel schälen könnte? Alles, was ich besitze. Mein Leben? Nein, mein Leben nicht, das brauche ich heute noch. Flüsternd fliegt ein Wort durch die Reihe der kauernden Soldaten, die schlafen sollten, um bei Tagesanbruch bei vollen Kräften zu sein, aber niemand konnte in dieser Nacht schlafen. Der dumme Otto drängt sich immer in Pepis Nähe. Pepi strahlt Sicherheit aus, er hat Nerven, er bewahrt einen kühlen Kopf, auch wenn er Zigaretten übermäßig heiß raucht. Wieder und wieder geistert ein Wort durch die Schützengräben. Trommelfeuer. Eine deutsche Erfindung, so sagt man, von der Westfront mitgebracht. Melde gehorsamst, Herr Kaiser, die k. u. k. 4. Armee wartete noch zwei Minuten auf das Trommelfeuer. Etwas südlich von uns stehen die deutsche 11. Armee und hinter uns ein paar österreichische und sehr viele deutsche Kanonen. Und Minenwerfer. Und Reserveregimenter. Und Trains. Und Sanitätsbataillons. Und vorgeschaufelte Leichengruben. Volles Marschgepäck, volle Patronentaschen und volle Hosen, so stehen sie da, die Helden des großen Krieges. Wo bleibt die Zeit? Ich will noch eine Zigarette. Alfred steckt sie mir zwischen die Lippen, bloß weil ich ihn anschaue. Er kann Gedanken lesen, so viel ist gewiss.

Trommelfeuer.

Hunderte schwarze Schlünde speien dunkelrotes Feuer und beißend-schwarzen Qualm. Das Feuer wirft Eisen vor sich her, kilometerweit. Die schwarzen Schlünde brüllen. Die Bestie tobt. Die einzelnen Schreie der Bestie verschwimmen ineinander und es wird ein unablässiges, gewaltiges Tosen. Über unsere Köpfe hinweg schneiden spitze Eisenklumpen blutende Löcher in die Luft. Ich höre und sehe nichts davon, aber das Vibrieren der Luft spüre ich. Dann fällt das Eisen, es fällt und fällt und fällt hundertfach auf einen Streich. Und nun das Brüllen der Erde. Ja, die Erde brüllt gequält, als das Eisen sich in sie bohrt. Das Schießpulver reißt der Erde elefantengroße Fetzen aus der Haut. Die Erde heult. Flammen, grelle Blitze, unablässig hämmert glühendes Eisen auf die Erde. Von hinten dröhnt das Donnern der Geschütze, von vorne das Krepieren der Granaten. Schweres Feuer, schweres Feuer. Ich bohre meine Stirn in die Erde, ich quetsche meine Wange an die Grabenwand. Ich muss mich entleeren, schnell, sonst geht es in die Hose. Dabei kriegen die Russen das Feuer, nicht wir. Ich dränge schnell den Gedanken weg, selbst unter solchem Feuer zu liegen. Nein, nicht so etwas denken. Ich uriniere, dabei bin ich schon völlig entwässert. Alfred hält sich die Ohren zu, aber es nützt nichts, das Tosen ist zu gewaltig. Oberleutnant Zillner drängt sich wieder durch den Graben. Wir atmen etwas durch. Dieser Mann lässt uns nicht im Stich, er wird uns führen, wir vertrauen ihm. Den Major und den Oberst sollen von mir aus die Geier fressen, aber für Oberleutnant Zillner gehen wir ins Gefecht.

Die Parole wird ausgegeben. Vier Stunden Trommelfeuer.

Noch vier Stunden dieses Wüten der gigantischen Bestie. Blutgeifernd und tödlich. Moderne deutsche Artillerie schießt nicht ziellos in die Gegend, sondern nach genauen Plänen. Die deutsche Artillerie schießt nach Vorschrift. Die Granaten pflügen drüben auf der anderen Seite der Front den Boden um. Der eiserne Pflug des großen Krieges, vor Hunderte Kanonenrohre gespannt und von Tausenden Marionetten in grauen Uniformen vorangepeitscht, furcht die Erde auf der Suche nach Menschenfleisch. Da wird der Pflug fündig, das ist schön, dort kann er Knochen zermörsern, Arterien zerfetzen und das dampfende Fleisch in den Boden wühlen. Vielleicht gedeiht ja dereinst daraus eine neue Saat. Blutsturz auf Erden.

Ich glaube, ich habe Fieber gekriegt. Von einer Sekunde auf die andere. Ich zittere schon. Ich will nach Hause. Pepi rempelt mich an. Ich blicke in die Richtung, in denen ich seine Augen vermute. Pepi ist ein guter Soldat, vielleicht der beste unseres Regiments. Pepi soll General werden und Oberleutnant Zillner Armeeoberkommandant.

Das Brüllen nimmt kein Ende, immer weiter, immer weiter, aus Hunderten Granaten werden Tausende, aus Tausenden werden Zehntausende. Die Flammen der Welt gebündelt auf ein paar zerfurchte Wiesen in Galizien. Die Sonne geht auf und steigt hoch und höher. Sie rümpft erschrocken die Nase. Was soll das Gepolter in diesem Erdteil? Ja gibt’s denn so etwas, so ein Wirbel. Und dennoch schaut sie auf das irre Gewühl herab. Neugierig? Mit krankhaftem Vergnügen? Da, ein paar Einschläge direkt vor unserem Graben. Schießt die deutsche Artillerie so schlecht? Nein, das sind russische Granaten, vier, fünf, sechs Einschläge, mehr nicht. Sechs Granaten gegen zehntausend. Dort, russisches Schrapnell. Drei, vier weiße Wolken im Himmel und danach der Eisenregen. Ungefährlich, denn die Russen schießen ungenau und wir hocken mit eingezogenen Köpfen in den Schützengräben. Das ist keine Gegenwehr, das ist Verzweiflung. Die Granaten heulen und fauchen, pausenlos ziehen sie ihre Bahnen im Himmel und drängen zur Erde. Die Bestie schlägt ihre Reißzähne in die Flanke des Opfers. Wir sind blinde Tiere, Schlachtvieh, und die Kriegsmaschine treibt uns zum Hackstock. Aber das Feuer gilt nicht meinen Kameraden und mir, es gilt den anderen, also muss es uns gleichgültig sein, egal, einerlei. Wir haben zu warten. Quälend langsam verrinnt die Zeit, jede Minute wird zur Stunde. Zähe Zeit. Wie lange können einem vier Stunden vorkommen? Wie vier Ewigkeiten.

Ich erstarre. Meine Lider zucken unaufhörlich. Die Artillerie schweigt. Das Rumoren und Tosen verhallt. Einen Augenblick lang glaube ich mitten in der Wüste Gobi zu sein, so still kommt es mir vor. Totenstille. Aber nur kurz. Die Trillerpfeifen durchschneiden die Stille. Oberleutnant Zillner hält in der linken Hand seine Pistole, in der rechten die Trillerpfeife. Seine Wangen sind der Blasebalg und der schrille Ton kreischt in unseren Ohren.

Die Leiter ran an die Grabenwand und hinauf, hinauf, hinauf, über die Brustwehr hinauf. 3. Bataillon Marsch vorwärts. Ich will nicht den schützenden Graben verlassen, ich will nicht, ich will einfach nicht hinauf, raus aus der Deckung, ran an den Feind. Krachende Gewehre, immer mehr krachende Gewehre. Und da, das Tacken eines MGs. Ich steige die Leiter hoch und renne gebückt los. Geradeaus, dann ein Stück links, ein Stück rechts, wieder geradeaus. Ich habe keine Angst mehr, ich habe einfach keine Zeit, um Angst zu haben, ich bin ein Infanterist von Hunderttausenden und gehe im feindlichen Feuer vor. Russische Artillerie mischt sich mit Schrapnell ins Geschehen. Vor uns die erste feindliche Linie. Vierzig Meter vielleicht noch, aber kein Gewehrfeuer. Wo sind die Russen? Mir pfeift plötzlich etwas um die Ohren. Und wieder. Ich denke, jetzt musst du zu Boden, aber mein Körper reagiert schneller als mein Geist, denn ich liege schon längst. Flankenfeuer. Also sind die Russen dort. Bis mein Gewehr angelegt ist, vergeht eine Ewigkeit. Vor mir liegt eine hechtgraue Uniform, aus der literweise Blut hervorsprudelt. Ich schieße, nur sehe ich nicht, wohin meine Kugeln fliegen. Irgendwo auf den Gegner zu. Pepi springt hoch und rennt los. Ich denke, immer Pepi nach, aber wieder bin ich viel zu langsam mit dem Denken, denn ich renne schon. Knapp vor mir Bittermann, ein Weinbauernsohn aus Klosterneuburg. Er fängt die Kugel, die mir gegolten hat. Armschuss, wenn ich richtig gesehen habe. Drei Schritte noch, drei Schritte, dann gehe ich wieder zu Boden. Wieder lege ich an und schieße irgendwohin. Nur keinen Kameraden treffen, denke ich, und schnell nachladen. Jetzt kommt frontales MG-Feuer. Wir graben uns mit den Fingernägeln in den Boden. Frontales MG- und Gewehrfeuer, über uns Schrapnell. Sie stampfen uns in den Boden, sie mähen uns mit dem MG schlicht und einfach nieder. Ich höre ein helles, schwirrendes Pfeifen. Ich habe die Tonleiter des Artilleriekrieges noch nicht heraus und lerne jetzt. So klingen Minenwerfer. Ploppende Einschläge in der russischen Linie, immer wieder ploppende Einschläge in der ersten russischen Linie. Das MG verstummt, also springe ich hoch und hechte los. Ich sehe aus dem Augenwinkel, dass ich der Erste bin, der losrennt, noch vor Pepi. Die Minen ziehen über unsere Köpfe und suchen tiefer im Feindesland nach Zielen. Ich hüpfe über Granattrichter voran und kriege kein Gewehrfeuer. Immer dichter werden die Trichter. Kugeln. Also doch Gewehrfeuer. Decken. Ich lande in einem Trichter eines großen Kalibers und sehe direkt neben mir Alfred, Otto und einen vierten Mann unseres Bataillons. Er blutet stark aus einer Wunde an der Schulter. Otto beugt sich zu ihm hinüber und drückt seine klobigen Finger in die Wunde. Es nützt nichts, das Blut strömt weiter.

„Sanitäter! Sanitäter!“, brüllt Otto.

Nutzlos, kein Sanitäter ist hier zu finden. Nur Gewehrfeuer. Wo Otto seine Waffe fallen lassen hat, frage ich mich. Aber ihm geht sein Gewehr gar nicht ab. Otto nimmt den Verwundeten wie ein Vater sein Neugeborenes, springt auf und rennt los. Hoch aufragend inmitten des Gefechtes, inmitten tödlich schwirrender Insekten läuft er los wie ein zappelnder Pappkamerad und bringt den Verwundeten nach hinten. Alfred und ich starren ihm bleich hinterher, über unseren Köpfen zischen die Kugeln. Otto rennt hakenschlagend nach hinten, quer durch das in Deckung liegende Regiment. Alle sehen ihn und denken, jetzt fällt er, jetzt fällt er, gleich ist er tot. Aber Otto rennt und rennt, keine Spur einer Kugel, die sich in seinen Rücken bohren will. Er verschwindet aus meinem Blickfeld.

Ich spähe vor, noch zehn Meter. Alfred und ich springen hoch, rennen und stürzen in den russischen Schützengraben. Alfred richtet sein Gewehr links und feuert, ich richte meines rechts und feuere. Ins Leere. Meine Schuhe sinken in den offenen Brustkorb eines toten Russen. Ich strample und hüpfe weg, steige dabei bloß einem anderen Russen auf die Beine. Oder genauer, ich steige nur auf die Beine, wo der Russe liegt, weiß ich nicht. Ein Blutbecken im Schlachthof. Wie viele liegen da? Zwölf, fünfzehn, zwanzig? Alle zerschmettert, grotesk übereinandergeworfen. Menschenteilesalat, denke ich. Blöde Russen, seid ihr vollkommen übergeschnappt, so ein Schützengraben taugt nicht einmal für Gewehrduelle, und ihr bleibt da hocken, wenn die deutsche Artillerie trommelt. Ihr dummen Kerle, zieht euch an, wascht euch die Hände und das Gesicht und geht nach Hause. So etwas Blödes, der Graben ist nicht tief genug, der kann euch ja nicht schützen. Aber jetzt begreife ich erst, warum die Minenwerfer so wüten konnten. Steilfeuer. Sie zerhauen nicht mit großem Kaliber den gesamten Graben, um an die Soldaten zu kommen, sondern schmeißen die Granaten schlicht und einfach in die Schützengräben. Teuflische Waffen. Alfred übergibt sich. Er speit dabei auf ein am Boden liegendes Maschinengewehr. Vor mir steht aufrecht ein Stiefel, aus dem noch ein Bein ragt. Ich sehe den weißen Knochen und das schillernde Mark. Und es riecht nach einem Ozean frischen Blutes. Erst jetzt entdecke ich zwei völlig verstörte Russen, die mich in irrer Todesangst anstarren. Sie erheben die Hände, sie ergeben sich. Fast hätte ich in Panik auf sie geschossen. Mein Gewehr ist auf sie gerichtet. Sie sind völlig dreck- und blutverschmiert, aber sie leben. Pepi und einige andere springen in den Graben. Auch sie müssen den Anblick der zerhackten Körper erdulden. Die zwei Russen werden abgeführt. Kriegsgefangene. Die werden kein MG mehr bedienen.

Oberleutnant Zillner dirigiert uns. Die Grasnarbe ist zerrissen, braune Trichter überall. Vom Drahtverhau ist nichts geblieben. Niedergetrommelt. Das Feld ist dicht bevölkert von Russen, aber keiner ist mehr imstande, eine Waffe zu tragen. Tote und Verwundete. Ein Offizier liegt vor mir, ich höre das Winseln der Todesagonie, ich erhasche einen Blick in sein wachsgelbes Gesicht. Der Hautanstrich des Todes ist wachsgelb. Seine blutigen Armstümpfe zucken noch, sein aufgerissener Bauch dampft in der Morgensonne. Pepi gibt ihm den Gnadenschuss. Schnell weiter. Vor uns liegt die zweite Linie. Schon wieder ein MG. Sofort zu Boden. Ich lande in einem flachen Granattrichter. Kleines Kaliber also. Wieder schwirren eiserne Stechmücken über uns hinweg. Wo finden sie ihr Ziel? Flach muss ich sein, flach wie Papier. Oder ein Maulwurf. Vor mir liegt etwas. Ich blicke auf. Am Rande des kleinen Trichters liegt ein Russe. Arme und Beine sind noch dran, auch der Kopf, aber sein Gesicht ist eine starre Fratze. Ich sehe keine Wunde, dennoch ist seine Uniform vom Hals bis zum Hosenboden blutgetränkt. Ich versuche, nicht in die gläsernen Augen zu schauen, es gelingt mir nicht. Slawische Züge hat der Mann, starke Backenknochen und eine dicke Zunge, die zwischen seinen zusammengekniffenen Lippen halb hervorsteht. Plötzlich bewegt er sich, er kommt auf mich zu, er will mit mir tanzen. Ich schreie in Panik. Er ist doch tot, mausetot, er kann nicht tanzen wollen. Ich schüttle den Kopf, um diesen Albtraum loszuwerden. Tatsächlich liegt der Mann regungslos, meine Fantasie ist mit mir durchgegangen. Von mir aus müsste er nicht tot sein, von mir aus kann er nach Hause gehen. Ich drehe ihn um und sehe den offenen Rücken, ein scharfer Granatsplitter, groß wie eine offene Handfläche, steckt in seinem Inneren. Er hat nicht lange gelitten.

Die russischen MGs mähen durch das Regiment, das 1. Bataillon hat es schwer erwischt. Ich bin völlig ratlos, ich weiß nicht, was ich machen soll, ich weine ohne Tränen. Und jetzt noch Sperrfeuer der russischen Artillerie. Die Einschläge wummern, ich höre genau die Granaten heranheulen und zucke zusammen. Ein Einschlag. Mir drückt es die Luft aus der Lunge. Der Knall hat mich fast taub gemacht. Erdbrocken stürzen auf mich, zumindest hoffe ich, dass es Erdbrocken sind und nicht Splitter. Ich schaue an mir herab, ob irgendwo Blut hervorschießt. Nein, alles heil, ich bin noch ganz. Wie lange noch? Ich denke nicht, ich folge meinem Instinkt, denn ich werfe mich in den frischen Granattrichter des Naheinschlages. Beim Sprung sehe ich die Mündungsblitze der beiden MGs. Sie halten weiter auf das 1. Bataillon, von dem bald nichts mehr übrig sein wird.

„Herr Oberleutnant, Herr Oberleutnant! Hier entlang!“

Pepi ruft. Der nächste Naheinschlag. Hoch und hinein in den frischen Granattrichter. Drei andere denken offenbar das Gleiche und landen mit mir im Trichter. Aber der Trichter ist zu klein, die Russen schießen nur mit kleinem Kaliber. Ich sehe Oberleutnant Zillner, einen Mann vom 4. Bataillon und Otto. Ich traue meinen Augen nicht. Otto! Der ist doch wie der Teufel nach hinten gerannt und jetzt liegt er keuchend hier neben mir.

„Wo ist dein Gewehr?“, faucht Oberleutnant Zillner Otto an.

Otto heult fast vor Angst und zuckt verzweifelt mit den Schultern. Der Oberleutnant zieht aus seinem Gürtel zwei deutsche Stielhandgranaten.

„Wenn ich, Werfen‘ schreie, ziehst du ab und schmeißt sie in Richtung der MGs. Verstanden?“

Der Oberleutnant reicht Otto die Handgranaten.

„Hast du verstanden?“, brüllt er Otto an.

Endlich nickt dieser.

„Ihr zwei voran, geradeaus und dann rechts. Feuert im Lauf, aber gezielt.“

Während Oberleutnant Zillner seine Pistole nachlädt, schieben sich Pepi und zwei Weitere unseres Bataillons an den Trichter heran.

„Ihr geht rechts vor. Flankendeckung für den Handgranatenwerfer!“

Er deutet Pepi die Richtung mit Handzeichen an. „Und los!“

Wir springen auf und rennen. Schon schwirrt es um uns herum. Gewehrfeuer. Ich schieße im Laufen. Oberleutnant Zillner betätigt seine Pistole. Krachende Schüsse. Ich sehe den Schützengraben vor mir und will hineinspringen, aber mein Befehl lautet Rechtsschwenk, also gehorche ich. Vierzig Meter bis zum MG-Nest. Zwar sehe ich nicht, wie das MG umschwenkt, aber ich rieche es förmlich. In wenigen Augenblicken werden wir alle tot sein. Ich will mich schon zu Boden werfen, da taumelt ein punktförmiger Schatten genau über dem MG nieder. Ich liege schon, als die erste Handgranate krepiert. Volltreffer. Die zweite Granate fällt knapp neben die erste und explodiert. Hoch die lahmen Knochen, hoch, dem Oberleutnant nach, rechts vor, dann in den Graben und Bajonett voran zum zweiten MG. Ich bin von der Spitze des kleinen Trupps zurückgefallen, Pepi ist jetzt voran. Ich kann erspähen, wie in seinem Gewehrfeuer der MG-Schütze fällt. Plötzlich sind wir umzingelt von blanken Händen. Russische Worte dringen an mein Ohr. Ich sehe um mich. Dreißig zum Teil Verwundete strecken ihre Hände hoch und ergeben sich. Unzählige Tote liegen herum, die wenigsten von unserem Gewehrfeuer, die meisten von der Artillerie zerschmettert. Das 3. Bataillon sammelt sich und führt die Gefangenen ab. Alle starren Otto an. Der Vollidiot Otto steht da und zittert am ganzen Körper. Wir können es nicht glauben, erst trägt er im schwersten Feuer einen verwundeten Kameraden zurück, dann wirft er Handgranaten punktgenau ins Ziel. Wir sind sprachlos. Er selbst hat scheinbar nicht begriffen, was er in der letzten Stunde für uns getan hat, er schlottert nur vor Angst.

Oberleutnant Zillner formiert das Regiment neu, er gliedert den kümmerlichen Rest des 1. Bataillons bei uns ein. Das 4. Bataillon marschiert voran, das 2. und schließlich das 3. Bataillon folgen. Wir müssen, nachdem der Durchbruch gelungen ist, die feindlichen Artilleriestellungen erreichen und ausschalten, so lautet der neue Befehl. Kurz frage ich mich, wo das russische Langrohr geblieben ist. Aber ich kann keine Antwort finden, denn wir eilen los. In Schwarmlinie vorrücken, Marschrichtung Ost. Der Walzertakt des Krieges. Ich laufe mit, ahnungslos, was mit mir geschieht. Ich bin ein kleiner Teil der deutsch-österreichisch-ungarischen Offensive. Wir haben den russischen Wall durchbrochen, die Phalanx der Mittelmächte, und unser Sieg bedeutet den Tod von Tausenden. Ich bin ein Rädchen der Maschine, dabei bin ich erst zwanzig Jahre alt und kenne die Liebe nur aus der Literatur. Aber den Tod habe ich gesehen, tausendfach. Meine Stirn glüht, ich bin erschöpft und falle beinahe um, dennoch stemme ich mich in den Tornister und trage fest umklammert mein Gewehr. Nein, ich kann jetzt nicht denken, und ich will auch nicht sehen, was die weittragenden Feldkanonen mit dem russischen Train und vor allem mit den Pferden des Trains gemacht haben. Überall tote Menschen und tote Pferde. Das Inferno des Trommelfeuers begleitet mich weiter und weiter an diesem Tag, ich entkomme ihm nicht. Egal wie verzweifelt ich auch renne, überall liegen die Opfer der Eisenfaust. Immer mehr Russen kommen uns entgegen, verängstigt, verstört, entnervt. Für sie ist der Krieg zu Ende, sie gehen in Gefangenschaft.

Wir stoßen auf ein preußisches Infanterieregiment. Als sie uns entdecken, schwenken sie ostwärts und hetzen atemlos den im ungeordneten Rückzug weichenden Russen hinterher. Bald krachen wieder Gewehre. Nördlich von Gorlice marschieren wir voran, quer durch Galizien, dem großen Schlachtfeld der Habsburgermonarchie. An meinen Schuhen klebt Dreck und Blut. Das ist das Zwillingspaar des Krieges. Ich bestehe selbst nur mehr aus Blut und Dreck, ich kann nichts anderes denken, nichts anderes fühlen, nichts anderes sehen. Und weitermarschieren, dem nächsten Gefecht entgegen, denn dies ist erst der Beginn der Maioffensive.

Ich lebe noch. Nur wie lange?

Der blinde Spiegel

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