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BUDWEIS, SEPTEMBER 1945

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Als die ersten Häuser der Budweiser Vorstadt auftauchen, trennen sich Karels und meine Wege, wir nicken einander wortlos zum Abschied zu. Ich schleppe mich die Gassen entlang. Ich bin kein Jüngling mehr, der Tag auf den Beinen fordert mich, insbesondere, wenn die fetten Brocken verloren sind. Diese Verbrecher. Die schlimmsten Banditen tragen immer Uniform, das weiß doch jedes Kind. Jetzt nur nach Hause und ins Bett. Liegen, schlafen, ausruhen bis zum Morgengrauen. Mein Lohn für dreißig Kilometer Rucksackschleppen ist diesmal sehr dürftig. Aber was soll’s, besser als nichts. Ein bisschen Brot, eingemachtes Gemüse. Was will man mehr?

In den Gassen ist es ruhig, ein paar Kinder lungern herum. Sie haben keine Lust zum Herumtollen, sind einfach zu ausgedörrt vom Hunger. Beiläufig streift mein Blick einen Bretterzaun. Stand da nicht eben jemand im Hauseingang? Ich sehe genauer hin, kann aber nichts entdecken. Muss mich wohl geirrt haben, das kommt bestimmt von der Erschöpfung. Die Kinder mustern mich prüfend und grüßen. Plötzlich bin ich von ihnen umringt.

„Haben Sie etwas zu essen?“, fragt mich ein Bursche mit großen Augen.

„Nein, nichts. Was soll ich haben?“

Die nächsten Straßenräuber, wenn ich denen auch noch etwas abgebe, bleibt für mich nichts mehr.

„Aber der Rucksack. Sie waren doch hamstern“, sagt die Schwester des Burschen.

Ich kenne die Kinder alle, sie wohnen in der Nachbarschaft.

„Kinder, geht, ich habe nichts. Die Gendarmerie hat mir alles genommen.“

Die Kinder wollen es nicht glauben, aber ich habe jetzt keine Nerven für lange Erklärungen und jage sie fort. Ich schleppe mich um die Ecke, zwei Gassen noch bis zu meiner Bretterbude.

„Überleben.“

Ich lausche. Überleben. Der alte Gruß der Lagerinsassen von Sokal. Überleben. Das eine mir zugeflüsterte Wort bricht für Augenblicke den Damm des Vergessens und all die grauen Jahre meiner Lagerzeit rollen wie eine Lawine über mich hinweg. Ich blicke mich um. Hinter einem Holunderstrauch steht ein Mann und beobachtet mich. Also habe ich zuvor doch recht gehabt, es hat mich doch jemand angestarrt.

„Wer sind Sie?“, frage ich.

Wut schwingt in meiner Stimme. Der Mann tritt hinter dem Strauch hervor und bleibt in gemessener Entfernung stehen.

„Sie kennen mich. Ein Mann wie Sie vergisst keine Gesichter. Oder täusche ich mich?“

Ja, ich kenne dieses kantige Gesicht. Josef Schachner ist einer der vielen Intellektuellen, die in den Dreißigerjahren ein k. u. k.-Arbeitslager mit ihrer Anwesenheit beehrt haben. Ich kenne ihn flüchtig, nur sein Gesicht und sein Name sind mir vertraut. Ich weiß, dass er längere Zeit in Baracke 7 einquartiert war. Da ich in jener Zeit in Baracke 19 war und auf anderen Baustellen malochen musste, weiß ich nicht viel von ihm. Bloß, dass er ein paar pazifistische Aufsätze in Untergrundzeitungen veröffentlicht hat. Das hat gereicht, um ihn in einem Arbeitslager anzutreffen. Man weiß, wie schnell das nach den Schaukal-Dekreten gegangen ist. Ein Künstler meldet sich mit revolutionären, kommunistischen oder pazifistischen Sprüchen zu Wort, wunderbar, die Arbeitskolonnen in den galizischen Einöden warten schon auf ihn.

„Nein, Sie täuschen sich nicht. Ich kenne Ihr Gesicht.“

„Gehen wir ein Stück, sonst fallen wir auf. Ich begleite Sie.“

Meine Sinne sind hellwach, ich trotte langsam dahin und spähe um mich.

„Ich denke nicht, dass wir beobachtet werden“, sagt Schachner. „Ich war sehr vorsichtig.“

„Was wollen Sie? Warum schleichen Sie mir nach?“

„Ich will nur ein wenig mit Ihnen reden, mich nach Ihnen erkundigen.“

„Mir geht’s beschissen, ich habe Hunger und bin müde. Das ist alles, und nun verschwinden Sie wieder!“

„Herr Kellermeier, Sie sind unser Mann. Sie sind genau der Richtige. Gut, dass ich mich an Sie erinnert habe.“

„Sind Sie ein Kettenhund des Kriegsüberwachungsamtes?“

Schachner räuspert sich.

„Ich ein Kettenhund? Ich bin weder vom Kriegsüberwachungsamt noch vom Hofgeheimdienst. Ich bin nur ein gebildeter Lumpensack, der sein Elendsquartier in der Wiener Vorstadt kaum sauber halten kann. Nein, ich bin aus privaten Gründen in Budweis.“

„Wohl wegen des angenehmen Klimas und des reizvollen Hinterlandes?“

Schachner lächelt, er blickt nur kurz zu mir hinüber, dann lässt er den Blick wieder schweifen.

„Sie haben sich den Spott in der Stimme erhalten. Das ist schön, das ist sehr schön. Nein, ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass der Widerstand gegen den Krieg weitergeht. Herr Kellermeier, ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Sie gebraucht werden.“

Ich schaue empor in den Himmel, ein paar Regenwolken ziehen auf, der Abend senkt sich über die Stadt. Danach blicke ich Josef Schachner in die Augen.

„Ich möchte Sie anwerben, Herr Kellermeier. Und zwar als Spion.“

Ich schmecke einen bitteren Geschmack auf der Zunge.

„Soso, als Spion. Haben Sie sich das auch gut überlegt? Vielleicht bin ich ja ein Kettenhund des Kriegsüberwachungsamtes.“

Schachner verzieht sein Gesicht.

„Nun, wenn das so ist, werde ich morgen um diese Zeit an einem Laternenpfahl hängen. Das ist mein Risiko als Widerstandskämpfer.“

Wir gehen schweigend ein paar Schritte.

„Wissen Sie“, hob Schachner an zu sprechen, „dass ich als junger Mann Ihre Gedichte bewundert habe? Nein, wissen Sie wahrscheinlich nicht. Wir waren damals zu dritt, zwei junge Burschen und ein Mädchen, wir waren Kinder, als Sie und Ihre Alterskollegen draußen in Galizien und am Isonzo gekämpft haben. Wir wurden erwachsen und sahen all die Krüppel, all die Männer, denen ein Bein, ein Auge, die halbe Lunge fehlten, und wir sahen die Lemuren und Larven der Oberschicht, die adeligen Generäle, die sich vollgefressen haben, während Millionen hungerten, die Industriellen, die sich Konkubinen in Seidenwäsche gehalten haben, während den Soldaten an der Front die Hoden weggeschossen wurden. Wissen Sie, dass mein Vater Lehrer und maßgeblich daran beteiligt war, dass sich seine ganze Klasse 1914 geschlossen für die Front gemeldet hat? Ja, die steirischen Burschen waren gute Soldaten, nur sahen die wenigsten ihre Heimat wieder. Ich habe ihn gehasst dafür, ich habe ihn gehasst, weil er dumme, kleine Verse geschrieben hat. Aber es gab auch andere Literatur. Meine Freunde und ich waren jung und zornig, aber wir waren sprachlos in unserer provinziellen Enge. Zumindest am Anfang. Und dann gelangten wir an die Gedichte eines Albert Ehrenstein, eines Fritz Karpfen, eines Georg Trakl und eines Valentin Kellermeier. Es war wie eine Offenbarung. Ein neuer Weg, eine neue Sprache. Anstatt leerer Floskeln und hohler Phrasen hörten wir nun echtes Leid, echten Zorn, echte Freude am Leben und echte Furcht vor dem Tod. Natürlich mussten wir von der Provinz in die Stadt flüchten. Wohin? Natürlich in die große Kaiserstadt, die mit geraubtem italienischem Geld hochpoliert wurde und im Walzertakt und mit Marschmusik die große Renaissance der Donaumonarchie feierte. Eitle Fassaden, morscher Prunk, vergoldete Bestien, das haben wir in Wien gesehen. Und auch das Elend in den Arbeiterbezirken, die Lumpenburgen, die Bretterbuden, die Kriegsinvalidenhäuser. Wir waren wütend und wir konnten nun sprechen. Gerfried, mein Freund, ist bei einem Verhör von einem Geheimpolizisten erschossen worden. Offiziell ist er natürlich an Lungenentzündung gestorben, wie alle, aber ich habe herausgekriegt, dass sie ihm schlicht und einfach aus Versehen in den Kopf geschossen haben. Wer es getan hat, habe ich nie erfahren, aber es ist egal, wie der Name seines Mörders gelautet hat, denn im Grunde waren alle Geheimpolizisten seine Mörder. Kathrin ist in Moldawien an Fleckfieber gestorben. Haben Sie vom Frauenlager in Moldawien gehört? Bestimmt. Sie hat es nicht überlebt. Und ich landete im Lager, in dem ich Valentin Kellermeier zumindest aus der Ferne sehen konnte. Nun ja, das Leben ist über uns hinweggerollt wie eine Dampfwalze, diesmal keine russische, sondern eine österreichisch-ungarische.“

Josef Schachner hustet. Als er wieder zu Atem kommt, schaue ich ihn an.

„Sie sind nicht gekommen, um über Gedichte zu plaudern. Also wollen Sie mir etwas sagen oder nicht?“

„Ich will nur wissen, ob ich Ihnen trauen kann.“

„Kann ich Ihnen trauen?“

„Ich gehe ein hohes Risiko ein“, sagte Schachner. „Alleine mit Ihnen hier zu sprechen könnte mich für ein paar Jahre ins Gefängnis bringen. Und wenn ich konkreter werde, könnte es mich den Kopf kosten. Haben Sie das überlegt?“

„Wenn Sie um Ihren Kopf fürchten, dann gehen Sie nach Hause und lassen Sie mich in Ruhe.“

„Sind Sie zahnlos geworden im Laufe der Zeit? Haben Sie Ihren Idealen abgeschworen? Sind Sie nicht mehr der wütende Pazifist, dessen Gedichte Tausende mit Ergriffenheit auf den Lippen getragen haben?“

„Schachner, Sie sind ein Idiot. Ja, ich bin zahnlos. Sehen Sie die klaffenden Lücken in meinem Gebiss? Ich bin fünfzig Jahre alt und hungrig. Ich kenne kein anderes Ideal als einen vollen Magen, und ich habe vergessen, wie man das Wort Pazifismus buchstabiert. Ich bin sechzehn Jahre im Arbeitslager gewesen, meine Gelenke sind ruiniert, mein Rücken hält mich nur noch aus Verzweiflung aufrecht. Und da draußen tobt ein neuer Krieg. Haben Sie das vergessen? Ein neuer, noch mörderischerer Krieg, als ich ihn erlebt habe. Was reden Sie da von Pazifismus, Sie blöder Kerl? Der Pazifismus ist tot, gestorben an Fleckfieber in galizischen und moldawischen Arbeitslagern. Die Generäle haben gesiegt, weil die Generäle immer siegen. Ein General kann nur von einem anderen General besiegt werden, nicht von einem Dichter mit blumigen Sprüchen. Wissen Sie das nicht?“

Wir gehen stumm einige Schritte nebeneinander. Wir müssen vorsichtig sein, damit unsere Stimmen nicht zu laut werden und auffallen. Die Ohren des Kriegsüberwachungsamtes sind überall, das weiß jeder im Böhmen.

„Sie haben recht. Ja, Sie haben völlig recht“, sagt Schachner fast unhörbar leise. „Und genau deshalb kann sich der Pazifismus nicht bloß auf Gedichtbände und Feuilletonspalten in Zeitungen beschränken, genau aus diesem Grund muss der Pazifismus handeln.“

„Ich möchte lieber nicht hören, was Sie jetzt vorhaben zu sagen. Schweigen Sie, ich weiß von nichts und werde in einer Minute vergessen, dass Sie existieren.“

„Ich weiß, dass Sie dichthalten werden, ich weiß, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Vergessen Sie Ihrerseits nicht, auch ich war im Lager. Ich weiß, was es heißt, nicht einmal im Jahr einen vollen Magen zu haben, aber wie ein Tier schuften zu müssen. Wer das überlebt hat, wird einen Gleichgesinnten niemals verraten. Darum sage ich Ihnen, was ich Ihnen sagen will und muss. Sie denken darüber nach und geben mir Ihre Antwort. Ja oder Nein, mehr brauchen Sie nicht zu sagen. Ich will Ihnen nicht ins Gewissen reden, ich will Sie nicht unter Druck setzen, ich sage, was ich zu sagen habe, Sie teilen mir in vierzehn Tagen Ihre Antwort mit und danach geht alles seinen Gang.“

Ich bleibe stehen und starre zu Boden. Eine Sekunde, noch eine, eine Schar von Sekunden. Es fallen nun einige wenige Regentropfen auf die zusammengeflickten Dächer der Brettervorstadt. Niemand beachtet uns zwei zerlumpte ältere Männer auf der Gasse, dennoch ist es besser, vorsichtig zu sein. Ich deute in die Richtung eines Weges, der in ein kleines Wäldchen am Rande der Bretterbuden führt.

„Gehen wir dort entlang. Ein kleiner Spaziergang zweier Herren, das fällt nicht auf.“

Der blinde Spiegel

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