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BAHNFAHRT NACH KRAKAU, MÄRZ 1915

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Der Abend will nun hereinbrechen, will das matte Licht dieses Märztages immer weiter in den Westen treiben. Vom Osten kommt die Nacht und unser Zug rollt nach Osten. Reise in die Nacht. Leidgeprüftes Österreich-Ungarn, der Feind steht tief in deinen Ländereien. Aber das Marschbataillon ist unterwegs, rollt unablässig nach Norden und Osten. Den ganzen Tag schon zieht die Lokomotive den schweren Tross durch Mähren in Richtung Krakau. Ich bin ein Teil des Marschbataillons. Plänkler Valentin Kellermeier meldet sich nach sechswöchiger Grundausbildung marschbereit. Vor zwei Tagen wurden wir in Wien einwaggoniert, dann ging es los. Eine langsame, zähe Bahnfahrt durch Niederösterreich mit häufigen Aufenthalten folgte. In kleinen Provinzbahnhöfen Essen fassen, Latrinenrapport, kurzes Exerzieren, dann weiter. Ich weiß noch genau, welche schneidigen Sprüche im letzten August mit Kreide auf die Türen der Waggons geschrieben wurden. Jeder Schuss ein Russ. Jeder Stoß ein Franzos. Jeder Tritt ein Brit. Serbien muss sterbien. Davon ist nicht viel geblieben. Die Soldaten schreiben ihre Siegeszuversicht nicht an die Wand, nicht nach dem Herbst 1914, der uns so viel Leid gebracht hat, nicht nach dem Winter mit den Kämpfen in den Waldkarpaten.

In Göding haben wir haltgemacht und mussten zum Exerzieren antreten. Eine sinnlose Schikane, darin waren wir uns alle einig, aber Befehl ist Befehl. Da rollte ein Lazarettzug ein und vor unseren Augen wurden drei Tote herausgehoben. Die Männer haben die Strapazen nicht überlebt. Wir sahen totgefrorene Hände, Ohren und Nasen. Nicht vom Feuer des Feindes verstümmelte Soldaten, sondern vom Frost in den Karpaten. Der Schock saß tief. Als der Zug weiterfuhr, debattierten wir über eine Stunde hitzig über die Winterschlacht. Alfred hat das Richtige gesagt: „Jetzt ist Ende März, da kommt sogar in den Karpaten der Frühling, erfrieren werden wir nicht.“ Das war für uns alle ein Trost. Viel wussten wir ja nicht von der Winterschlacht, nur von hohen Verlusten auf beiden Seiten wurde gemunkelt. Aber der Infanterist hat nichts zu munkeln, er hat sich für Gott, Kaiser und Vaterland mutig in den Kampf zu werfen.

Ich sitze neben Alfred an der schmalen Seite des Güterwaggons, wir drücken unsere Schultern aneinander, denn durch die Ritzen der Holzplanken pfeift der eiskalte Wind. Uns friert, dabei ist die Nacht noch gar nicht angebrochen. Bei Fahrtantritt, knapp nachdem der Zug über die Donaubrücke und hinaus aus Wien gerollt war, habe ich mit der Spitze meines Bajonetts in den Stutzen meines Gewehrs meine Initialen geritzt. VK, Valentin Kellermeier. Die Kameraden haben mich dabei beobachtet und wenig später ritzten sie ebenfalls ihre Initialen in ihre Waffen.

Mein Blick ruht auf dem Gewehr. Ich halte es steil aufgerichtet vor mir. Kaltes Eisen, dunkles Holz. Ein Steyr M95-Gewehr. Meine Braut, so sagt man. Ich habe gelernt, wie man damit umgeht. Ruhig und gezielt schießen, hat der Ausbildner gesagt, schnell nachladen und weiter ruhig und gezielt schießen. Beim Nahkampf mit aufgepflanztem Bajonett immer in den Bauch stechen, nicht in die Brust, denn da kriegt man das Bajonett vielleicht nicht schnell genug wieder heraus. Bajonette in der Brust klemmen gerne in den Rippen. Kräftig und gezielt in den Bauch stechen, so geht es. Jawohl, Herr Oberleutnant, zu Befehl, ruhig und gezielt und kräftig in den Bauch. Jawohl.

Ich denke an meinen ältesten Bruder Rudolf. Er ist seit Dezember in Serbien an der Front. Jetzt sind alle drei Söhne meiner Eltern Soldaten. Oder genauer, alle zwei Söhne, denn Fritzl ist ja schon zu Beginn des Krieges an der Ostfront gefallen. Fritzl, der Hitzkopf, der mutige Fritzl, der zweite Sohn meiner Eltern, der mich früher oft hart hergenommen hat, den ich immer ein wenig bewundert und beneidet habe für seine Schneid. Ich werde ihn nie mehr wiedersehen.

Mein Vater Rudolf Kellermeier ist Verwalter des Schlosses Marchegg, meine Mutter Köchin, ganz klar, dass der Baron die Ausbildung der Söhne und der Tochter seiner pflichtbewussten, treuen und fleißigen Untergebenen im Auge behielt. Der Baron und mein Vater sind seit Langem so etwas wie Freunde, natürlich unter respektvoller Wahrung des Standesunterschiedes. Der Baron weiß zu schätzen, dass er mit der Verwaltung seiner Ländereien kaum Arbeit hat und dass das Hauspersonal unter der Führung meiner Mutter seit Jahren keinen Anlass zur Klage liefert. Mein Bruder Rudolf hat alle Eigenschaften und Fähigkeiten, in Zukunft ganz wie unser Vater ein würdiger Verwalter zu werden. Vor dem Krieg nahm er Vater einen guten Teil der Arbeit ab. Friedrich, mein zweiter Bruder, war in der Schule immer aufmüpfig, hat miserable Zensuren gebracht und schien unseren Eltern mehr Ärger als Freude bringen zu wollen. Doch nach seiner Lehre als Schmied ist er ein ebenso geschickter wie verlässlicher Handwerker am Wirtschaftshof Marchegg gewesen. Annemarie, meine Schwester, war das Liebkind unserer Mutter. Im Sommer wird sie heiraten.

Ich selbst bin das jüngste Kind meiner Eltern und vorerst hatte niemand mit mir bestimmte Pläne. Ich wuchs im Windschatten meiner Geschwister auf, und da ich eher ein stilles Kind war, gab es kaum Anlass zum Tadel. Nur meine Neigung, in der Bibliothek des Barons die großen Folianten durchzublättern, fiel bald auf. Und als ich mich in Fragen der Geografie und Geschichte als gelehrig erwies, fasste der Baron den Entschluss, dem jüngsten Sohn seines treuen Verwalters und seiner geschätzten Köchin die Weihen höherer Bildung zukommen zu lassen. So kam ich in ein Internat und paukte Cäsars „De Bello Gallico“, Arithmetik und die Schriften Homers. Zuerst habe ich das Internat gehasst, doch irgendwann war ich den Auwäldern, den Wiesen und Feldern des Marchfeldes so entfremdet, dass ich zum Vorzugsschüler wurde. Mir blieb als Sohn eines Domestiken im Kreise der adeligen und großbürgerlichen Schulkameraden auch nichts anderes übrig.

Die Kameraden grölen und werfen die Karten auf den Haufen. Wieder einmal Streit wegen einer Kartenpartie. Den ganzen Tag über rauchen die hitzigen Köpfe und entzünden sich beim Kartenspiel. Seit dem Halt in Göding ist kein Offizier in unserem Waggon, also hallt das Geschrei, Schimpfen, Gespött und Gelächter noch lauter als zuvor. Pepi ist einer der Lautesten. Plänkler Josef Pokorny ist Sohn eines sozialdemokratischen Arbeiterfunktionärs. Kein hohes Tier, einer vom Fußvolk. Söhne von kleinen Sozialdemokraten werden nicht Unteroffiziere, also ist Pepi ein hundsgemeiner Infanterist wie ich. Während der Grundausbildung haben wir einander kennen und schätzen gelernt. Alfred, Pepi, Toni und ich, wir haben nicht nur im selben Zimmer gelegen, sondern sind auch Kameraden und Freunde geworden. Und alle vier sind wir im Marschbataillon abgerückt und werden gemeinsam an die Front gehen.

Pepi beginnt gerade, um von der Niederlage beim Kartenspiel abzulenken, mit der Otto-Hänselei. Eine mittlerweile stehende Redewendung im Bataillon. Otto Drabek ist unser Idiot vom Dienst, er ist sichtlich beschränkt, aber wegen seiner kräftigen Beine zum Infanteristen geeignet. Den Kalbfelltornister, das Gewehr und die Munition trägt er mit Leichtigkeit, also taugt er für die Front. Bloß mit dem Kapieren hat er so seine Schwierigkeiten. Am Anfang war es ein Heidenspaß für uns, wenn Otto bei Kommando Links-Schwenk Rechts-Schwenk vollführte. Oder wenn er über eine Stunde für das Lesen einer Seite in der Dienstvorschrift benötigte. Aber als die Ausbildner dazu übergingen, das ganze Bataillon für die Dummheit eines Mannes zu schleifen, musste Otto einiges von uns ertragen. Hänseleien waren da noch das Mildeste. Mir tat er manchmal leid, jedem tat er manchmal leid, was uns nicht hinderte, unseren Zorn an ihm abzuladen.

Die anderen stimmen sofort in Pepis Vorstoß mit ein und verlachen zum hundertsten Mal den Mann mit dem breiten Rücken und dem schwachen Geist. Otto arbeitete in den Wienerberger Ziegelwerken als Hilfsarbeiter, das hat er einmal erzählt, eingesetzt seiner Intelligenz entsprechend als Ziegelträger oder Hoffeger. Ich weiß nicht warum, aber ich beobachte Otto immer genau, denn er ist nicht nur beschränkt, sondern zeigt auch immer wieder überraschende und merkwürdige Verhaltensweisen. Die Spötteleien machen ihn traurig oder verstören ihn – das war mal so, mal so, aber sein Gewehr ließ ihn richtig erschaudern. Er ist dumm, aber nicht ungeschickt, er kann mit Werkzeug umgehen, nur das Gewehr greift er an, als wäre es eine giftige Schlange, als wüsste er nicht wohin mit seinen Händen. Das Gewehr macht ihm Angst. Ein komischer Kauz.

Alfred steckt sich eine Zigarette an. Ich folge seinem Beispiel, denn seit ich Soldat bin, rauche ich. Die Stimmen der jungen Männer im Waggon kippen und werden kreischend. Fast wie ein Haufen kleiner Buben im Turnsaal. Wir wollen alle Männer sein, aber irgendwie sind wir noch kleine Buben. Kleine Buben in Uniform und Armeeschuhen. Kleine Buben mit Gewehren und scharfer Munition.

Es wird dunkel und die Kälte im Waggon ist fast unerträglich.

Der blinde Spiegel

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