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BUDWEIS, SEPTEMBER 1945

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Meine Sohlen brennen. Ich kann kaum noch gehen, aber bis nach Hause sind es rund sechs Kilometer. Fast zwei Stunden Fußmarsch, voll bepackt wie wir sind. Aber Karel hat noch eine Erledigung zu machen. Karel hat gute Beine. Obwohl er zwei Jahre älter ist als ich, marschiert er wie ein Jugendlicher. Wenn es seine Geschäfte betrifft, kennt er keine Müdigkeit.

Das Bauernhaus sieht von außen nicht schäbiger aus als alle anderen. Seit Jahren gibt es in ganz Böhmen für das einfache Volk kein Verputzmaterial, keine Dachziegel und kaum einmal Fensterglas. Dabei hätte gerade das Dach dieses Hauses eine Reparatur dringend nötig. Bei starkem Regen können die Bauernkinder ihre Füße in Tropfeimern baden.

„So, jetzt noch der Geizkragen“, schnauft Karel.

Wenn der kommende Winter wird wie der letzte, wird Böhmen ausgestorben sein. Man schätzt, dass alleine in Budweis zweihundert Menschen verhungert sind. Wer weiß, wie viele es in der ganzen Monarchie waren? Zum Glück bin ich noch nicht zu alt und gebrechlich für Hamstermärsche, und zum Glück habe ich Karel. Wir kennen uns aus dem Lager. Zwei Jahre lang war er Sträflingskoch, später durfte er sogar das Magazin verwalten. Ohne ihn wäre es noch schlimmer gewesen, denn Karel versteht sich auf die Organisation. Er kann immer und überall etwas Essbares besorgen. In den fünf Jahren seiner Haft haben wir meist brauchbare Verpflegung gehabt. Und heute ist er der „Hamster-König“ Südböhmens. Und wenn er mich alle paar Wochen auf seine Wanderungen mitnimmt, stehen mir einige Festtage mit vollem Magen ins Haus. Dafür marschiere ich gern dreißig Kilometer an einem Tag.

„Ist er geiziger als die anderen?“, frage ich.

Karel ringt sich ein Lächeln ab.

„Alle böhmischen Bauern sind geizig. Schwer, mit ihnen Geschäfte zu machen.“

„Wem sagst du das? Der Winter kommt bestimmt und die Ernte war schlecht.“

„Ach, Valentin, hör mir auf mit dem Winter. Wir besorgen uns allerlei Delikatessen und du jammerst mir die Ohren voll. Was glaubst du, wie wir schlemmen werden!“

Karel ist Optimist. Das war er immer schon. Vielleicht ist er deswegen ein so guter Geschäftsmann. Ein paar Worte von ihm und seine Geschäftsfreunde glauben an das Gute im Menschen und die Gunst des Schicksals. So fällt es leicht, einen lohnenden Handel abzuschließen.

Meine Schultern schmerzen, der Rücken ist krumm, aber für all die Speisen im Rucksack ignoriere ich meine kleinmütigen Beschwerden liebend gern. Eine Speckseite, Eselswurst, Schmalz, zwei Brotlaibe, eingemachte Gurken, alles, was das Herz begehrt. Und ich bekomme einen guten Anteil davon. Plötzlich fühle ich mich stark wie ein Pferd. Die sechs Kilometer werde ich spielend schaffen.

Bevor wir den Hof betreten, spähen wir umsichtig in die Gegend, aber weit und breit ist kein Gendarm zu sehen. Ein Fenster wird geöffnet und eine Frau lugt heraus.

„Guten Tag, Bäuerin. Schönes Wetter heute, nicht wahr? Trefflich für einen kleinen Spaziergang.“

Karel winkt ihr zu, aber sie mustert uns mit regloser Miene. Zwei Kinder laufen uns entgegen, umkreisen uns und bestürmen Karel mit tausend Fragen. Dann kommt der Bauer aus der Scheune. Er klopft sich Staub aus der Kleidung und stapft auf uns zu. Zur Begrüßung reicht er erst Karel, dann mir die Hand. Obwohl er ebenso unnahbar wie seine Frau blickt, weiß ich genau, wie sehr er Karel erwartet hat. Aber zum Geschäft gehört es, die Ungeduld nicht zu zeigen. Zwei verhutzelte alte Frauen humpeln aus dem Haus und versuchen die Kinder zu bändigen. Der Bauer, er ist um die fünfzig und wahrscheinlich der Großvater oder Großonkel der Kinder, blickt vorsichtig zur Straße hinüber.

„Gehen wir in die Stube“, weist er uns an.

Artig folgen ihm alle, eine kleine Prozession. Karel legt los, er bringt vorab den neuesten Tratsch, zum Teil Neuigkeiten aus der Stadt, zum Teil Geschichten, die wir auf unserer heutigen Tour aufgeschnappt haben. Die Bauersleute sind wortkarg und scheinbar abweisend, aber ich kann ihre gespannte Neugier beinahe fühlen. Eine der alten Frauen, offenbar eine Magd im Ausgedinge, kredenzt Most. Wir trinken hurtig, ein Tag auf den Beinen macht durstig. Karel spielt sein Spielchen. Unsere Rucksäcke stehen neben dem Tisch und Karel macht keinerlei Anstalten, seine Waren auszupacken. Er redet und redet. Bis schließlich die Bäuerin den Bann bricht, sie kann es nicht länger aushalten.

„Hast du die Seife dabei?“

Karel macht eine bedeutungsvolle Pause, trinkt einen Schluck Most und langt nach seinem Rucksack. Wortlos greift er hinein und holt ein kleines, in Zeitungspapier geschlagenes Päckchen hervor.

„Ob es wirklich französischer Lavendel ist, kann ich nicht sagen, aber sie duftet köstlich.“

Ein Funkeln liegt in ihren Augen. Lavendelseife! Was für eine Rarität. Wo der Teufelskerl die Seife aufgetrieben hat, ist mir ein Rätsel. Aber als Geschäftsmann tauge ich einfach nichts, ich bin nur der Packesel. Die Bäuerin packt die Seife aus und atmet den Duft mit sichtlichem Wohlbehagen ein. Die Kinder und die alten Frauen starren sie mit großen Augen an.

„Und für dich“, wendet sich Karel an den Bauern, „habe ich auch etwas dabei.“

Der Bauer blickt unbeteiligt auf den Most im Glas. Karel holt einen Tabaksbeutel hervor, von dem wir mittags ein klein wenig abgezweigt haben, um nach den Mittagsbroten eine Pfeife zu schmauchen. Guter Tabak, vielleicht der beste, den ich in den letzten Jahren geraucht habe.

Der Bauer wiegt den Beutel in der Hand, öffnet ihn, schnuppert und reibt ein bisschen Tabak zwischen den Fingern. Einige Augenblicke starren der Bauer und Karel einander wortlos an. Ich kann keinerlei Regung im verwitterten Gesicht des Mannes sehen. Er nickt seiner Frau zu.

„Bring den Schnaps.“

Wenig später kann ich meine Kehle mit einem guten Tropfen Obstbrand wärmen. Ein Labsal. Aber der Bauer hält seinen Besitz in der Hand, nichts geht verloren oder wird verschleudert, denn nachdem wir getrunken haben, stöpselt er die Flasche demonstrativ zu und stellt sie auf die Fensterbank.

Geduldig sitze ich in der Stube und verfolge die schwierigen Verhandlungen. Da wird um jeden Meter Nähgarn, jeden Löffel Schmalz, jeden Tropfen Milch, jede Bohne gefeilscht, dass mir das Hirn sausen möchte. Schließlich einigen sie sich, wir packen unsere Rucksäcke, verabschieden uns und ziehen los.

Langsam wird es dunkel, aber wir haben es nicht mehr weit, die Vororte von Budweis sind schon zu sehen. Karel schwatzt munter drauflos. Die Wanderung hat sich rentiert, unsere Rucksäcke sind prall und schwer. Wer hätte das gedacht? Ich kneife meine Augen zusammen. Plötzlich rast mein Puls.

„Ein Gendarm.“

Karel ist ein guter Wanderer, aber meine Augen sind schärfer als die seinen. Und ich wittere Gefahr von Weitem. Das ist mein alter Soldateninstinkt.

Wir springen in den Graben.

„Hat er uns gesehen?“

„Weiß nicht. Er kommt aber auf uns zu.“

Karel hebt vorsichtig spähend den Kopf.

„Er rennt nicht, also hat er uns nicht gesehen.“

Ich bin nicht überzeugt. Mit Schwarzhändlern wird derzeit kurzer Prozess gemacht. Wir müssen schnellstens von hier verschwinden.

„Da entlang“, flüstere ich. „Zum Gebüsch, dann über das Feld zum Wäldchen. Wenn er uns nicht gesehen hat, hängen wir ihn ab.“

Gebückt rennen wir los. Beim Gebüsch stoppen wir und halten Ausschau. Der Gendarm geht ohne Eile den Weg entlang. Ich beginne zu hoffen. Vor uns liegt ein offenes Feld, aber die Strecke ist nicht sehr weit. Wir haben gute Chancen, zu entschlüpfen. Da bleibt der Gendarm stehen und starrt in die Ferne, dann in unsere Richtung.

„Verdammt, er ist nicht allein.“

Ich brauche den zweiten Gendarm gar nicht zu sehen, ich weiß genau, dass er irgendwo im Gebüsch gelauert, uns genau beobachtet und jetzt seinem Kollegen Handzeichen gegeben hat. Karels Gesicht ist kalkweiß.

„Renn!“, rufe ich.

Wie scheu gewordene Ackergäule galoppieren wir los, zwei ältere, mit schweren Rucksäcken beladene Männer. Im Augenwinkel sehe ich den Gendarm auf uns zu laufen. Der zweite wird auch schon unterwegs sein. Jetzt brauchen wir Glück, sehr viel Glück. Ein paar Schritte vor uns ist das Wäldchen. Vielleicht gelingt es uns, sie hier abzuschütteln. Aus dem Gehölz taucht eine Uniformkappe auf. Und die Mündung einer Pistole. Direkt vor uns.

„Stehen bleiben! Hände hoch!“, brüllt der dritte Gendarm.

„Scheiße!“, knurrt Karel atemlos.

Ein gut geplanter Hinterhalt. Und wir sind hineingelaufen. Die beiden anderen Gendarmen stoßen zu uns.

„Na, was haben wir denn da?“, fragt der erste, der Kommandant.

Er lächelt breit und perlustriert uns. Er zieht Karels Taschenmesser aus der Scheide.

„Zeigt eure Rucksäcke her!“

Was sollen wir tun? Auf frischer Tat ertappt. Wir haben keine Chance. Der Mann mit der Pistole deutet in den Wald.

„Da lang!“

Karel und ich wechseln einen fragenden Blick. Wollen sie uns hinter den Bäumen erschießen? Der Pistolenheld ist ziemlich missmutig, er stößt uns voran. Wir verschwinden im Wald.

„Da setzt euch nieder! Da, an den Baum.“

Wir gehorchen. Der Gendarm mit der Pistole lässt uns nicht aus den Augen, während die beiden anderen sich auf einen liegenden Baumstamm setzen und unsere Rucksäcke auspacken.

„Da schau her! Das ist ja ein Volltreffer. Respekt, lieber Karel, heute warst du wieder fleißig.“

Ich spitze die Ohren, der Kommandant kennt Karel.

„Steck endlich die Spritze weg!“, ruft der Kommandant seinem Kollegen zu. „Karel und sein Freund werden uns schon nicht beißen.“

Erleichtert atme ich auf. Das sieht nicht nach Gefängnis aus.

„Na gut, Ctibor, kommen wir ins Geschäft“, sagt Karel. „Wie viel willst du?“

Der Kommandant winkt ab.

„Erst mal Inventur, dann reden wir weiter.“

Der Pistolengendarm packt die Speckseite, zieht ein Taschenmesser und schneidet sich eine dicke Schwarte ab. Er feixt uns hämisch an und schmatzt drauflos.

„Hoho! Ein Schöppchen!“, ruft der Kommandant.

Ich sehe, wie Karels Augen wässrig werden, seine Lippen beben. „Die Hälfte“, sagt er. „Die Hälfte vom Schnaps, drei Würste und der ganze Speck.“

Der Kommandant macht ein böses Gesicht.

„Schnauze zu, sonst marschiert ihr in den Arrest.“

Er öffnete die Flasche, kostet und reicht sie weiter. Der zweite Gendarm nimmt einen Laib Brot, schneidet drei dicke Scheiben ab und schmiert Schmalz darauf.

„Habt ihr Salz?“, fragt er.

Die drei lachen dröhnend. Gierig mampfen sie und spülen die Happen mit Schnaps hinunter.

„Ihr Straßenräuber“, knurrt Karel.

Wieder hallt ihr Gelächter durch das Gehölz. Schließlich packen sie die Speckseite, alle Stangen Eselswurst, die halb geleerte Schnapsflasche, das Schmalz und den angeschnittenen Brotlaib ein. Der Kommandant tritt nahe an uns heran.

„Habt ihr aber ein Glück, dass wir einander nie begegnet sind. Jaja, der Schwarzhandel ist ein Übel.“

Sie richten sich zum Abmarsch.

„Mein Messer. Gib mir mein Messer zurück!“

Der Kommandant mustert Karels Messer kritisch, dann zwinkert er uns zu.

„Ich bin ja kein Unmensch, nicht wahr?“, fragt er seine Kollegen, die ihre Zahnreihen präsentieren.

„Ich dachte, du wärst einer“, grunzt der Pistolenmann.

„Ach ja?“

„Aber ja doch.“

Der Kommandant schaut uns unschuldig an und zuckt mit den Schultern.

„Wenn er es sagt.“

Damit steckt er das Messer ein und sie verschwinden. „Diese Banditenbande. Diese elenden Verbrecher. Korrupte Schweine. Ersticken sollen sie am Schnaps. Oder an die Front geschickt werden!“

Kraftlos erheben wir uns und packen unsere leichter gewordenen Rucksäcke. Das abendliche Festmahl wird heute ausfallen.

Der blinde Spiegel

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