Читать книгу Der blinde Spiegel - Günter Neuwirth - Страница 12

BUDWEIS, NOVEMBER 1945

Оглавление

Die grauen Portale, schmucklos und ohne jede Würde, gähnen trostlos in den Novembergassen meines Stadtteils. „Mein Stadtteil“ ist fast fürstlich gesprochen. Seine Hochwohlgeboren lassen sich herab, die Elendsquartiere innerhalb Seines Fürstentums zu beäugen. Oder so ähnlich. Nein, niemals kommt tatsächlich ein Adeliger oder sonst eine Person von Rang und Namen in die Vorstädte von Budweis. Die Inder kennen eine Kaste von Unberührbaren, Parias werden sie genannt, wenn mich meine lückenhaften völkerkundlichen Kenntnisse nicht wieder im Stich lassen. Sammelt alle Parias der Monarchie und pfercht sie in ein paar Städte zusammen, nennt diese Städte Brünn, Prag oder Budweis und schon seid ihr Besitzer der Gegenwart. Mein Stadtteil! Verkommene Bruchbuden, Barackenstädte und Kellerwohnungen, das ist mein Reich. Menschen, die sich längst mit Mäusen, Wanzen und Asseln im Wohnzimmer verbrüdert haben, Menschen, die gelegentlich das stark gebratene Fleisch von Ratten zu würdigen wissen, die aus Buchenmehl trefflich Sonntagsbrot zu backen wissen, weil das Weizen- und Roggenmehl nach Steyr, Pilsen oder Wiener Neustadt geht, sicher nicht nach Budweis. Hungernde Menschen kennen keine Würde, sie kennen nur ihr Leben, das sie aus ungeklärten Gründen von einem Tag auf den nächsten hieven wollen.

Die Nächte im November fallen überraschend schnell.

Heute ist Sonntag, der Tag des Herrn in einem katholischen Land, also ruhen die nicht kriegswichtigen Industrien. Ich bin aber arbeitslos, also habe ich oft die schöne Gelegenheit zu einem Spaziergang. Langsam gehe ich, denn meine Glieder spüren das nasskalte Wetter. Andenken an den vielen Morast in meinem Leben. Ich habe gehört, dass deutsche Industrielle nach Karlsbad fahren, um ihren Rheumatismus mit Schlammbädern kurieren zu lassen. Ob ich das glauben soll? Mein Rheumatismus ist im Schlamm der galizischen Sümpfe erst entstanden. Vielleicht liegt es daran, dass ich kein Industrieller bin, denn für Industrielle tickt die Uhr des Lebens ja anders als für niederösterreichische Landkinder, die das Schicksal in ein tschechisches Elendsquartier geworfen hat.

Schöne Sommer im Marchfeld. Ich habe so viele Erinnerungen in meinem Kopf, Millionen einzelne Lebensfragmente. Warum aber nur so schmerzlich wenige an die Sommer meiner Kindheit? Einmal, zweimal im Jahr schwimmt eine Erinnerung an das Marchfeld hoch, von einem unverständlichen Gefühlsstrom erfasst, überflutet mich, löst Jubel und Festtagsstimmung in mir aus und strahlt helles Licht unbeschwerter Kindheitstage auf mich nieder. Ich bin eine sentimentale Eule. Wogende Getreidefelder, fruchtig rote Punkte in den Kirschbäumen, das rhythmische Scharren, wenn die Schnitter ihre Sensen schärfen für die Mahd. Ja, die Kirschbäume! Ich sitze auf einem Ast, die Mooswinkler Kathi ein Stückchen tiefer. Wir mampfen. Frech spucke ich Kerne hinunter, und sie schimpft, weil ihr Kleid Flecken bekommen könnte. Liebe Katharina, Freundin meiner frühen Sommer, Spielgefährtin und zukünftige Braut, ich wollte dich ja heiraten, später, wenn wir beide erwachsen sein würden, du fandest es zwar gemein, wenn ich dich boxte, konntest aber meinen Heiratsabsichten durchaus etwas abgewinnen. Ist nie etwas geworden, wirst wohl einen anderen geheiratet haben. Sommertage in der weiten Ebene des Marchfeldes. Kostbare und rare Erinnerungen an eine versunkene Welt.

Ich werde wohl den Spaziergang etwas verkürzen, denn die Hüften und die Knie schmerzen immer stärker. Also kriegen wir doch früher als erwartet Regen und Nebel. Vielleicht sollte ich zum Armeewetterdienst gehen. Herr General, meine Gelenke sind heute ganz tadellos, schicken Sie Ihre Bombenflugzeuge los. Nein, damit scherzt man nicht, ich bin so blöd. Erst Ende Oktober hat ein Bomber irrtümlich seine tödliche Last über Budweis ausgeklinkt. Zwanzig Tote hat es gegeben. Na ja, Pilsen oder Steyr erreichen sie nicht, dort stehen Flakbatterien und die Abfangjäger, also schmeißen sie die Bomben irgendwohin, und wenn es sein muss, sogar auf eine industriell so unbedeutende Stadt wie Budweis. Immerhin haben wir hier die Bahnlinie zwischen den k. u. k. Schwerindustriezentren, da lohnen sich vielleicht ein paar vom Himmel fallende Bomben und Knochen amerikanischer Flieger.

Aber was weiß ich von Strategie, ich lebe in einem Kellerloch, zähle meine Brotmarken und hoffe, die Marken tatsächlich in Brot tauschen zu können. Ich bin ein winziges Rädchen einer Staatsmaschinerie, welche den Krieg als Selbstzweck ansieht und danach wirtschaftet. Bald bricht wieder ein neuer Kriegswinter an, und niemand weiß, wie viele noch folgen werden. „Kräftepatt“ sagen die Zeitungen, die Mittelmächte beherrschen Europa und den Mittleren Osten, die Alliierten den Rest der Welt. Ich glaube nicht, dass ich in meinem Leben noch den Frieden sehen werde, und ich zweifle, ob es den folgenden Generationen vergönnt sein wird. Alter, klappriger Staat, schon vor fünfzig Jahren hat niemand mehr an eine Weiterexistenz der Donaumonarchie geglaubt, aber dieser Staat ist zäh, dieser Staat lebt durch und für den Krieg, nur der Krieg hält ihn noch zusammen. Die Schwerindustrie in Wien, Pilsen und Linz, die Munitionsfabrik in Wöllersdorf, die Waffenschmiede in Steyr, die Flugzeugwerke in Wiener Neustadt, die Panzerfabrik in Budapest, das sind die tragenden Kräfte dieses Staates. Und der Hochadel und der Generalstab sind die Verwalter. Nibelungentreue auch im zweiten großen Krieg. Deutschland, Österreich-Ungarn und die Türkei, die Bündnispartner des Jahrhunderts. Diese drei Staaten werden noch viele Jahre Krieg führen können. Gewinnen werden sie nicht, daran glaubt niemand, verlieren werden sie aber auch nicht, also wird der Krieg noch manche Tage schmierigen Novemberlichtes erleben.

Ende des Spaziergangs, ich werde mich ins Bett legen und den weiteren Sonntag unter der Decke verbringen. Da ist es nicht so kalt. Der Winter beginnt schlecht, alle werden hungern, viele werden krank werden, manche werden sterben. Und ich soll ein Spion sein? Ich spinne, aber Schachner ist wirklich verrückt. Mit Kryptogrammen gegen die Generäle. Das ist kann doch nur ein bizarrer Witz des Lebens sein. Wenn ich wenigstens Arbeit hätte, da bekäme ich mittags immer Suppe oder Eintopf.

Der blinde Spiegel

Подняться наверх