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KONSTANTINOPEL, FRÜHLING 1946

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Auch diese Arbeit musste erledigt werden. Transportlisten, Anforderungsformulare, Fernschreibermeldungen, mit einem Wort: Papierkrieg. Hermann von Meyendorff hatte bislang den Verwaltungsaufwand, der mit dem modernen Krieg einherging, wie die Pest gemieden. Den Aufzeichnungen und Formularen, die man als Fliegeroffizier zu bearbeiten hatte, konnte er nicht entgehen, aber das waren nur ein paar Zettel, ein paar Notizen, ein paar Unterschriften, nichts Besonderes also, schließlich hatte man als Frontsoldat andere Sorgen. Nun aber, in seiner neuen Stellung, waren die Formulare und Listen sein Alltag. Etappendienst.

Er saß an seinem kleinen Schreibtisch und blätterte die Anforderungslisten des Luftflottenstützpunktes Smyrna durch. Ersatzteile, Ersatzteile, unendliche Listen mit angeforderten Ersatzteilen. Von kleinen Schrauben bis zu gesamten Motoren, von Taschenlampen bis zu Flugzeugbomben. Der Krieg war gefräßig. Meyendorffs Aufgabe bestand nun seit knapp einem Monat darin, den Materialfraß des hungrigen Riesen zu verwalten. Er hasste diese Arbeit, er hasste diesen Schreibtisch, er hasste diese Formulare, aber er musste durchhalten. Es war seine Pflicht, auch an dieser Front zu bestehen. Immerhin war er der Graf von Meyendorff, ein Adeliger und Besitzer großer Ländereien, immerhin war er Träger der Goldenen Tapferkeitsmedaille erster Klasse, also ein Kriegsheld. In seinem Quartier lag eine unscheinbare Mappe, in der er die über ihn erschienenen Zeitungsartikel gesammelt hatte. Für ein paar Tage war seine Geschichte Thema Nummer eins in der Presse und sein Foto war auf allen Titelblättern zu sehen gewesen. Sogar die Hamburger und Berliner Zeitungsfritzen hatten an der Geschichte des k. u. k.-Oberleutnant von Meyendorff nicht vorbeischauen können, obwohl sie Heldentaten österreichischer Offiziere in der Regel ignorierten.

Meyendorff stempelte die Listen und legte sie in das Fach für Weiterbearbeitung. Man konnte Damaskus jetzt nicht im Stich lassen. Fast täglich hämmerten die alliierten Angriffe gegen Damaskus, fast täglich boxten sich die schweren amerikanischen P-47 Angriffsjäger durch die Abwehrreihen und versuchten Breschen für die Bomber zu schlagen und fast täglich rumorten die Motoren britischer Spitfire über der Küste Kleinasiens und fast täglich klopften amerikanische Fernbomber ihre Bombenteppiche über Damaskus aus. Ohne die zu Hilfe geeilten Geschwader deutscher Messerschmitt Me 262 hätten die Türken und Österreicher Damaskus längst räumen müssen.

Meyendorff strich, ohne sich dessen bewusst zu sein, über seine Rippen und überlegte, was dem Luftflottenstützpunkt Mosul an Nachschub gestrichen werden konnte. Sie waren gut verheilt, die beiden gebrochenen Rippen, er fühlte sich schon fast wieder völlig erholt. Auch die Verbrennungen am Bein schmerzten dank der regelmäßigen Salbungen nicht mehr so stark, und die Wunde am Oberarm war schon völlig verheilt. Ja, er befand sich auf dem Weg der Besserung, dennoch würde er wohl diesen Schreibtischposten nicht so bald verlassen können. Er hatte drei Jahre Frontdienst hinter sich, unzählige Einsätze geflogen, Siege errungen, Schläge einstecken müssen, er war vier Mal abgeschossen worden, aber er lebte noch, er kannte den Krieg zur Luft in- und auswendig. Erfahrene Frontoffiziere, die Verwundungen erlitten hatten, wurden immer im Etappendienst weiterverwendet, vor allem, wenn sie von Adel und prominent waren. Dieses Schicksal blühte nun auch Meyendorff. Nun, zum einen war er froh darüber, denn wer hing nicht an seinem Leben, zum anderen vermisste er die Kameraden und langweilte sich bei der Begutachtung von Formularen. Aber er hatte den Befehl und er gehorchte, er tat seine Pflicht. Die Meinungen der Soldaten zählten nicht, nur der Befehl und die Pflicht.

Es war eine dieser fetten P-47 Thunderbolt Maschinen gewesen, von denen die Amerikaner Hunderte in Nordafrika stationiert hatten. Wenn man diese Kolosse sah, konnte man gar nicht glauben, dass sie so agil waren. Das machte das Triebwerk, der mächtigste Kolbenmotor, der je in ein Jagdflugzeug eingebaut worden war. Die Türken nannten die Thunderbolts fliegende Nashörner, eine Bezeichnung, der Meyendorff etwas abgewinnen konnte. Ein derart schnelles, robustes und stark bewaffnetes Jagdflugzeug war den Amerikanern eine Bauserie wert, von der die Österreicher nur träumen konnten. Baute Österreich-Ungarn einhundert Flugzeuge, so bauten die USA in derselben Zeit mindestens fünfhundert.

Meyendorffs MF-45 Bomber war beim Rückflug von einem nur schwach gedeckten Nachtangriff gegen Tripolis von einer Thunderbolt in der Luft zerfetzt worden. Acht schwere MGs voll auf den Rumpf, da war nicht viel übrig geblieben. Dennoch hatte seine Maschine noch den Weg zum Sinai geschafft. Vier Mann der Besatzung hatten die Bruchlandung überlebt. Meyendorff hatte ein halbverbranntes Bein und Rippenbrüche davongetragen. Fast zwei Wochen hatten sich die vier Überlebenden durch die feindlichen Linien geschlichen und gekämpft, waren den amerikanischen und kanadischen Infanteristen entgangen, ehe sie von türkischen Truppen aufgelesen und in Sicherheit gebracht worden waren.

Natürlich hatte ihre Geschichte Schlagzeilen gemacht. Vier Mann waren, nachdem man sie für verschollen erklärt hatte, zurückgekehrt und hatten nützliche Informationen über die Stärke und Stellung der gegnerischen Bodentruppen mitgebracht. Selbstverständlich hatten die vier Heimkehrer die Goldene Tapferkeitsmedaille erhalten. Meyendorff konnte sich allzu lebhaft an den halb grotesken, halb feierlichen Auftritt von General Kirnbauer erinnern. Mit großem Gefolge und Pomp war der General im Lazarett aufmarschiert und hatte Meyendorff eigenhändig die Medaille an die Brust geheftet. Kirnbauer war betrunken gewesen und hatte patriotische Sprüche angestimmt. Nur ungern erinnerte sich Meyendorff, wie der General mit kameradschaftlichen Schlägen auf den Rücken des heldenhaften Oberleutnants die langsam verheilenden Rippen fast wieder durcheinandergewirbelt hatte.

Aus dem Lazarett entlassen, hatte sich Meyendorff beim General persönlich zum Dienstantritt gemeldet und den Befehl erhalten, den Steuerknüppel eines schweren Angriffsbombers mit dem Bleistift einer Armeekanzlei zu tauschen. Also war er in Konstantinopel geblieben und tat nun Dienst im Fliegerquartier Süd.

Er hatte Mühe, sich zu konzentrieren, er hatte Mühe, den verwirrend vielen Zahlen auf den Papieren vor seiner Nase einen Sinn abzugewinnen. Diese Zahlen schienen irgendeinen bösen Schabernack mit ihm treiben zu wollen, seine Augen mit kleinen Nadelstichen zu quälen, sein Denken immerfort mit Schlangengift zu lähmen. Meyendorffs wahrscheinlich wichtigste Erkenntnis war, dass man als Soldat im Kampf zwar sein Leben, nie aber die Nerven verlieren durfte. Und er hatte es zu einer hohen Auszeichnung und rauschendem Presseruhm gebracht, weil er sich draußen im Kampf an diese Erkenntnis gehalten hatte. Nun aber schienen Stempelkissen gefährlicher als Brandbomben und Bleistifte tödlicher als MGs zu sein. Und dann noch dieser gelbliche Farbstich des Papiers! Er erinnerte Meyendorff an die Gesichtsfarbe Schwerverwundeter, die dem Tod entgegenfieberten. Und dieses Stempelkissen, es ließ ihm einfach keine Ruhe, es machte ihn verrückt. Ständig klappte er den Deckel auf und zu, auf und zu. Rote Stempeltinte, welcher hirnverbrannte Idiot von Etappenhengst hatte bloß rote Tinte in dieses Stempelkissen getan? Hirnverbrannt. Oder besser beinverbrannt. Jedes Mal, wenn Meyendorff den Deckel öffnete, loderte wieder seine Fliegermontur, flammte wieder seine Hose, brannte sein Knie, bald sein Oberschenkel. Er hatte tausendmal am Tag wieder die Mühe, mit den Händen die Flammen zu ersticken, damit nicht sein Geschlecht auch noch Feuer fing. Das war das Eigentümliche an seiner Lebenserkenntnis, die Nerven konnten nicht immer beherrscht werden. Im Moment der Gefahr handelte er fast kühl, jedenfalls sachlich und effizient, darum liebten ihn seine Untergebenen auch, aber im Ruhequartier spielten seine Nerven oft verrückt. So auch hier im Angesicht eines Stempelkissens.

Und dann noch diese Unklarheiten. Wie wird der Krieg ausgehen? Wie wird sein Leben weiter laufen? Wie wird die Zukunft aussehen? Meyendorff hatte tausendmal mehr Angst vor der ungewissen Zukunft als vor einer eingeleuchteten und eingeschossenen Flakbatterie. Die grauen Schleier wollten sich nicht lichten, wenn er überlegte, was morgen, was übermorgen sein könnte oder würde. Wie bequem ließ sich in der Vergangenheit leben. In der Vergangenheit gab es kein Wenn und Aber, sondern nur Tatsachen. Der Held vom Piave, das war nun einmal sein Onkel, daran gab es nichts zu rütteln. Die Durchbruchschlacht bei Gorlice-Tarnów, die zwölfte Isonzoschlacht, die große Seeschlacht bei Otranto, die Durchbruchschlacht am Piave, das waren die Schlüsselereignisse, die Österreich-Ungarn den Sieg im Ersten Weltkrieg gebracht hatten. Das stand fest und gab Sicherheit. Was aber würde den noch viel größeren Zweiten Weltkrieg entscheiden? Würde der nunmehr sechs Jahre dauernde Krieg morgen entschieden sein? Oder noch einmal sechs Jahre dauern? Hermann von Meyendorff öffnete zum hunderttausendsten Mal, seit er Dienst in dieser Kanzlei tat, den Deckel des roten Stempelkissens, starrte kurz in die rote Farbe und schloss ihn wieder. Er fühlte sich einsam, verlassen und hilflos seinen zitternden Nerven ausgesetzt.

Das Telefon klingelte. Dankbar über jede Abwechslung stürzte er sich auf den Hörer.

„Von Meyendorff. Jawohl, Herr Oberst. Danke für die Nachfrage, es geht mir prächtig, bin auf dem besten Weg der Genesung. Jawohl, Herr Oberst, wird gemacht, ich suche Ihnen die Listen heraus. Natürlich streng vertraulich. Am besten bringe ich Ihnen die Listen persönlich in die Kanzlei. Jawohl, Herr Oberst, wird erledigt. In einer Viertelstunde bin ich bei Ihnen. Jawohl, Herr Oberst, auf Wiederhören.“

Meyendorff knallte den Bleistift auf den Tisch und schnellte hoch. Mit Schaudern dachte er an den nächsten Verbandswechsel. Aber nur kurz, denn schon waren seine Gedanken beim Auftrag von Oberst Smekal.

Er zog beim Gehen sein Bein zwar noch ein wenig nach, trotzdem eilte er durch das Labyrinth des Bunkers. Wobei Bunker sehr schmeichelhaft formuliert war, denn ein richtiger Luftschutzbunker war das hier nicht. Überhaupt gab es in ganz Konstantinopel vielleicht zwei, drei Bunker, die diesen Namen auch verdienten. Ein paar schwere Fliegerbomben gezielt auf die Decke dieses Kellergewölbes und das k. u. k. Fliegerquartier Süd wäre ein stilles Massengrab. Das wusste hier jeder. Zum Glück wussten die Amerikaner das nicht, sonst hätten sie gewiss ein paar Boeings riskiert.

Hektische Betriebsamkeit entfaltete sich vor Meyendorffs Augen, Funker, Schreibkräfte, Kanzleigehilfen, Ordonnanzoffiziere, alle rannten mit angespannten Gesichtern durch die Gänge, Aktenbündel mit aktuellen Berichten, taktischen Konzepten, Verlustlisten und weiß der Teufel noch alles unter die Arme geklemmt. Meyendorff fügte sich in dieses Szenario, zumindest dachte er dies, doch er stach hervor, er schob eine goldene Aura in Form eines kleinen, aber bedeutungsvollen Abzeichens auf seiner Brust vor sich her. Die Leute entboten diesem Abzeichen respektvoll die Ehre und musterten den Helden neugierig. General Kirnbauer hatte darauf bestanden, dass Meyendorff seine Auszeichnung im Dienst trug, denn ein hoch dekorierter Soldat aus bestem Hause war natürlich trefflich für das Renommee des Fliegerquartiers.

Meyendorff kannte nur einen kleinen Teil der Bunkeranlage und Oberst Smekals Kanzlei lag in einem ihm bislang unbekannten Sektor. Es dauerte einige Zeit, bis er die richtige Tür gefunden hatte. Dieser Sektor war stiller, es eilten nicht so viele Leute durch die Gänge, dafür hörte man das stete Klappern von Schreibmaschinen. Er klopfte an die Tür und trat ein. Vier Augenpaare richteten sich auf ihn, vier Frauen, die von ihren Schreibmaschinen hochblickten und vom goldenen Schein Meyendorffs für einen Augenblick gefesselt waren. Von links nach rechts schweifte sein Blick durch den Raum, glitt von Gesicht zu Gesicht.

Zwei Augen stachen hervor. Meyendorff blickte unwillkürlich noch einmal in die Richtung. Oh ja, zwei bemerkenswerte Augen. Ein Bild spiegelte sich auf seiner Netzhaut, und es dauerte einen Augenblick, bis er begriff. Was für ein schönes Gesicht, was für sehnsuchtsvolle, tiefe Augen, was für ein zauberhafter Mund, was für eine wunderschöne junge Frau, was für ein berauschender Blickkontakt! Sein Puls pochte wie verrückt. Niemals hatte er ein anmutigeres Geschöpf gesehen.

„Sie wünschen bitte?“, durchschnitt eine unbarmherzige Stimme scharf diesen Moment des Zaubers. Meyendorff blickte verwirrt in die kämpferisch zusammengekniffenen Augen einer etwa vierzigjährigen, dunkelblonden Frau.

„Ich bringe die von Oberst Smekal angeforderten Listen“, sagte Meyendorff, seine Verwirrung eloquenter als erwartet überspielend. Er fühlte sich wie ein Schlauchboot auf hoher See, hin und her geworfen von mächtigen Wogen.

„Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen“, setzte die Frau im Tonfall unerbittlich fort.

„Oberleutnant von Meyendorff.“

Die Frau telefonierte mit dem Oberst. Die drei anderen Frauen hackten wieder in ihre Schreibmaschinen. Alle drei waren jung, um die zwanzig, Schreibkräfte eben, Mädchen aus besseren Familien und von entsprechender Bildung. Von ihnen gab es Tausende im Dienst der Armee, aber keine war so wunderschön wie dieses eine. Ihr braunes Haar war zu einem langen Zopf geflochten, wie es für Fräuleins im Armeedienst üblich war, dennoch erahnte Meyendorff dessen sinnliche Fülle. Sie saß da in ihrer grauen Montur und bediente mit spielerischer Leichtigkeit die Tasten der Schreibmaschine, grazil und feenhaft, als spiele sie eine romantische Sonate auf dem Klavier. Da hob sie noch einmal kurz ihren Blick, scheu, sittsam und dennoch unendlich kokett.

„Sie können jetzt eintreten, Herr Oberleutnant“, schrillte wieder die schneidende Stimme durch den Raum.

Meyendorff musste sie wiedersehen, koste es, was es wolle, er musste dieses wunderschöne Fräulein wiedersehen.

Der blinde Spiegel

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