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BUDWEIS, NOVEMBER 1945

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Das verstehe, wer wolle, ich bin gewiss zu blöd dafür. Ich war immer schon zu blöd für sogenannte Weltpolitik. Ein armer Tropf, gefangen in egoistischem Pazifismus, das bin ich, das war ich, das werde ich immer sein, wie es scheint. Knappe Horizonte, keine Weltsicht, kleinkrämerische Überlebenssucht, so bin ich. Aber was in Dreiteufelsnamen hat Deutschland davon gehabt, den großen Krieg von 14 bis 19 zu gewinnen? Einen Platz an der Sonne wollte man in Berlin. Den hat man auch bekommen, aber der Sonnenbrand hat sich hurtig eingestellt. Zehn Jahre lang wurden Frankreich, Russland und Belgien ausgepresst wie Obst in der Mostpresse, bis auf den letzten Tropfen, so lange bis nichts mehr vorhanden war, bis das geteilte Frankreich von den deutschen Industrieheuschrecken kahl gefressen war. Der große Südwesten musste Nahrungsmittel abführen, die moderate Reparation. Das kleine, industriell starke Nordfrankreich war der Vorhof der deutschen Stahlindustrie und arbeitete Tag und Nacht für die Akkumulation des Kapitals in den Ruhrmetropolen. So lange, bis die Franzosen hungernd zusammengebrochen sind. Ebenso die Belgier. Und die Weiten Russlands wurden geplündert, bis dort der Massenirrsinn Bahn brach und sich jeder gegen jeden mit Messer und Knüppel bewaffnete. Wir alle trauern noch um die Millionen Opfer, die der unendliche Hungerkrieg in Russland gekostet hat. Und die deutsche Industrie ist aus den Krisen der Zwanzigerjahre stark und stärker hervorgegangen. Die paar kleinen Hungersnöte in den germanischen Gauen waren schnell vergessen. Deutschland hat den Krieg gewonnen und war nun alleiniger Herrscher über Europa. Die liebe Donaumonarchie wandelte sich immer mehr zu einem Schauspielhaus für weltpolitische Banalitäten und Peinlichkeiten, aber die Preußen lieben die Österreicher und halten ihnen die Stange. Welcher preußische Landstreicher mit Zahnlücken gilt in der Welt nicht als ein großer Herr im Vergleich zu einem österreichischen Grafen? So etwas gewährleistet Sympathien auch in Krisenzeiten.

Aber Deutschland kriegt nicht genug, kriegt nie genug, will weiter Muskeln und Speck ansetzen, will die erste Macht auf der ganzen Welt sein. Nieder mit Amerika! Das war das neue Schlagwort der Hohenzollerschen Diplomatie. Schön, dass England vor 1914 reich an Kolonien war, sehr schön, fabelhaft sogar, denn ab 1919 fielen fast alle an Deutschland. Der brave Kaiser Wilhelm hat emsig Geschichte studiert und weiß, wie man ein Weltreich sichert. Mit Dreadnoughts! Nur Dreadnoughts gewährleisten heutzutage imperiale Macht. Schließlich waren es auch Dreadnoughts, die bei Scapa Flow die entscheidende Wende im großen Krieg gebracht haben. Also kochen die Hochöfen Deutschlands feinsten Stahl und die Werften an der Nord- und Ostsee schmieden große, immer größere Linienschiffe. Bald sagt man Super-Dreadnought. Die Kaliber werden immer größer, die Panzergürtel immer stärker, die Zewed-Geräte immer präziser. Bloß kostet ein Super-Dreadnought so viel, dass man eine Stadt wie Magdeburg tausend Jahre durchfüttern kann, obwohl, wie man weiß, der Bürgermeister von Magdeburg ein großer Esser ist. Deutschland laugt in den Zwanzigerjahren Europa aus, um die Industrie stark zu machen, in den Dreißigerjahren sind die Kolonien dran. Die besten Rohstoffe der Erde werden in hanseatischen Werften zu Großkampfschiffen geformt. Die deutsche Hochseeflotte auf allen Weltmeeren. Ahoi Mariechen, in zwei Jahren bin ich wieder zu Hause, ich schippere gerade mal eben zum heiteren Kanonenschießen nach Tsingtau.

Arme Welt, arme Menschheit, oder besser: dumme Menschheit. Die besten Leistungen menschlichen Fleißes werden für Kriegsschiffe vergeudet. Das ist meine miesmacherische Ansicht, aber ich bin ja politisch vielleicht ein Trottel.

Was weiß man in einem böhmischen Elendsquartier über das gelobte Land jenseits des Atlantiks? Bis auf eines nichts. Und dieses eine ist auch nicht schmeichelhaft. Leider. Denn für jedes deutsche Linienschiff haben die Nordamerikaner ebenfalls eines gebaut, für jeden deutschen Zerstörer sogar zwei. Brave Amerikaner, fleißige Amerikaner, reiche Amerikaner, ihr habt bewiesen, dass euer Kontinent wohlhabend ist, denn ihr habt ihn für Linienschiffe geplündert. US Navy sagt man, nicht mehr Royal Navy. Letztere ist in den Fluten der Nordsee versunken, Erstere wählt sich für dieses Schicksal den größeren Teich, den Atlantik.

Zehn Jahre lang haben die Großmächte jede Penunze in die Rüstung gesteckt, und wir einzelgängerischen und pazifistischen Defätisten wissen, wie das endet. Hellau, es brennt auf den Meeren, auf den Kontinenten und in den Lüften über den Wolken. Das verstehe, wer will, ich bin schlicht und einfach zu dumm dafür, denn mir gehen im Kopf hirnverbrannte Ideen um. Hirnverbrannt. Ich stelle mir vor, wie die europäischen Staaten all ihr mühsam erarbeitetes Kapital in den Bau von Wohnhäusern, Schulen und Universitäten stecken, in Hospitäler, die nicht der Heilung von zerschossenen jungen Männern dienen, sondern der Pflege von Alten und Kranken. Ich stelle mir vor, wie die Schwerindustrie nicht Panzer baut, sondern komfortable Reisewaggons, die auch mit gediegenen Polstermöbeln reüssieren. Und die Flugzeugfabriken bauen keine Bomber zur Zerstampfung menschlicher Siedlungen, sondern Verkehrsflugzeuge, mit denen europäische Studenten zu Forschungszwecken nach Amerika und amerikanische Studenten zu Bildungsreisen nach Europa fliegen. Und Dampfer schunkeln über die Ozeane, um europäische Webstühle, Lastkraftwagen und Radioapparate nach Fernost zu bringen, wofür sie im Gegenzug chinesische Seide und indische Gewürze wieder zurücktragen. Russlands Generäle spielen Balalaika in Budapest und ungarische Husaren fiedeln in Moskau, italienische Industriearbeiter essen böhmische Knödel und galizische Juden verkosten sonnengereiftes Obst aus der Poebene, afrikanische Mädchen küssen preußische Junker und steirische Holzknechte liegen bei den Töchtern arabischer Kamelzüchter.

Mit einem Wort, ich bin nicht zurechnungsfähig. Aber zum Glück kann ich meine Schnauze halten, denn anderenfalls hätte man mich schon irgendwo an die Wand gestellt. An letzterem Verfahren bin ich allerdings nicht nur einmal knapp vorbeigeschrammt, denn nicht immer konnte ich mein Mundwerk im Zaum halten. Bloß, die Zeiten können den Stimmbändern jede Kraft rauben, denn die medizinische Wissenschaft weiß seit Langem, dass zum Betätigen der Stimmbänder es der Luft der Lunge bedarf, und gerade Letztere kann zur Mangelware werden. Dies aus verschiedensten Gründen, derer einer sein kann: der Lungenschuss, oder sein kann: das Gasfeld ohne Gasmaske, weiters sein kann: die sechzehn Jahre Arbeitslager, darüber hinaus immer wieder sein kann: der jahrelange Kriegszustand der Weltvölker.

Manchmal will man auch schweigen, will man keinen Laut von sich geben. Zum Exempel nehme ich mich selbst. Ich will nicht viel reden und somit auffällig sein, denn ich habe Dreck am Stecken. Ich habe gar keine blütenweiße Weste. Ich muss sogar die Schnauze halten, denn ich bin ja seit Kurzem ein Agent des Feindes, ein schamloser Vaterlandsverräter. Wenn es denn jemals dazu kommen sollte, dass Schachner, oder vielmehr Grillparzer, mir eine streng geheime Nachricht unter das Kopfkissen legt. Nun, vielleicht gelingt es Schattennacht, eine Information für die Russen zu beschaffen, die den Krieg entscheiden könnte. Etwa, dass der alte österreichische Kaiser unter der Uniform buntscheckige Unterhosen trägt. Etwas wirklich Wichtiges also. Ich bin so verbittert, hungrig und einsam. Ich lebe in einem Drecksloch und genau so fühle ich mich.

Novemberdepression.

Der blinde Spiegel

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