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II.

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Nun erfüllt Leopardis Konzept einer «arte del vivere» zunächst einmal den Zweck eines Selbstschutzes. Die intendierte Lebenskunst reiht sich keineswegs in das verbreitete aufklärerische Paradigma der Suche nach Glück ein. In seinem argumentativen Duktus verweilt Leopardi vielmehr innerhalb der Grenzen des «infelicità»-Begriffs: Lebenskunst bedeutet demnach, sich in einem unabänderlichen Unglücklichsein einzurichten, dessen Zwänge bestmöglich ertragen zu können1. Somit handelt es sich, präziser gesagt, um eine «arte di essere infelice» [«Kunst, unglücklich zu sein»], eine Formel, die von Leopardi schon wenige Jahre vor dem Abfassen seines späten Textes geprägt wurde, nämlich 1829 im Projekt eines Manuale di filosofia pratica2, und die neben ihrer Schlüssigkeit im Rahmen des Denk- und Erfahrungsgebäudes ihres Autors einen weiteren Aspekt freilegt: das Bemühen um Originalität.

Letzteres meint nicht die Inszenierung gedanklicher Exzentrik, sondern vordringlich den Glauben, abseits oft beschrittener Wege sowohl zu neuen Einsichten als auch zu einer veränderten Lebensform zu gelangen. Leopardi schreibt sich mithin nicht ein in die longue durée eines moralistischen Schreibens, das den Fundus menschenbezogenen Wissens in organischem Sinne zu erweitern trachtete. Seine Haltung ist eher die des cavalier seul, der sich im Prinzip nicht als Teil eines kollektiv getragenen Erkenntnisprozesses versteht3. Darin ist am Ende der Anspruch der Pensieri zu sehen, aber auch ihre eigentümliche Signatur eines Lebensentwurfs, dessen antipessimistische Qualität weder in den herkömmlichen Bahnen optimistisch angelegter Moralistik verläuft noch antinomisch auf den Merkmalen eines tradierten Pessimismus aufbaut. In geistesgeschichtlicher Betrachtung und bewusst plakativ gesagt, ist Leopardi in diesem Punkt ebenso wenig dem illuminismo zuzurechnen wie dem romanticismo, wenn man die wirkungsmächtigen zeitgeschichtlichen Kategorien bemühen will.4 Indem die als anti-pessimistisch aufzufassende Lebenskunst im Bereich einer kompromisslos dekretierten gesellschaftlichen Negativität angesiedelt ist, sind ihre Grenzen unverkennbar und scheinen letztlich auch nicht erweiterbar.

«Arte del vivere» lautet folglich das Angebot eines bescheidenen Refugiums. Für sich genommen, unter momentanem Ausblenden seiner bedrückenden Umrahmung, mag dieses als Kernbereich aufkeimender Hoffnung erfahren und aufgefasst werden. Doch solche Diskontinuitäten im deterministischen Grundgefüge von Gesellschaft und menschlicher Natur müssten sich schließlich und endlich als trügerisch erweisen. Das benimmt den anti-pessimistischen Fingerzeigen Leopardis allerdings nicht ihre genuine Qualität einer Suche nach Auswegen, einer Suche, die nicht allein zwangsläufig vergeblich zu sein scheint, sondern auch als probater Selbstzweck zu verstehen ist, aus dem eine größere Leichtigkeit des Seins hervorgehen könnte.

Die Pensieri sind bekanntlich Erweiterungen und Ausarbeitungen bestimmter Passagen aus dem Zibaldone5. Verschiedentlich wurde in der Forschungsliteratur hervorgehoben, dass der markante Unterschied beider Werke texttypologisch in einer Reduktion der autobiographischen und narrativen Ausrichtung im Spätwerk bestehe und somit auch die Anteile eines textimmanenten ‹Ich› entschieden geringer seien. Dies kommt denn auch einer dialogisch intendierten Mitteilungsform entgegen, denn das durchaus noch in Restbeständen vorhandene «io» [«Ich»] sieht sich flankiert von den weiteren Personalpronomina «tu» [«du»] und «noi» [«wir»] sowie dem indefiniten Pronomen «uno» [«jemand»] in einem generalisierenden, überindividuellen Verständnis von Menschsein. War der Zibaldone in seinem monologischen und der Selbstvergewisserung dienenden Charakter ursprünglich nicht zur Publikation vorgesehen, so verhält es sich ganz anders mit den Pensieri. Verstehen sie sich, Leopardis bekanntem Brief vom 2. März 1837 an Louis De Sinner zufolge, als «un volume inédit de Pensées sur les caractères des hommes et sur leur conduite dans la société»6, so verweist das dialogische Substrat des Textes unschwer auf eine kommunikative Absicht. Schließlich stehen ja nicht nur die Beobachtung und Beurteilung der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Verhalten im Fokus, sondern zugleich auch die Folgen, die daraus für die je eigene Lebensführung abzuleiten sind. Mündet diese idealerweise in eine «arte del vivere», so impliziert dies eo ipso ein mitteilsames Werben für die so verstandene Lebensweise.

Die Pensieri sind mithin evidenterweise ein moralistischer Text, und es fehlt nicht an Schnittmengen mit anderen Texten des gleichen Genres. Montaignes Ausgangspunkt vom eigenen Ich7 und La Rochefoucaulds Thema des amour-propre finden hier ebenso einen Nachhall wie die Aufwertung der Argumente des Herzens gegenüber der Vernunft in Pascals Pensées8. Sind die Pensieri mit diesen – so wie mit Rousseaus, freilich von anderen kompilierten Pensées – vom Titel her identisch, so fehlt ihnen indessen die Leitfunktion der christlichen Religion. Dem methodischen Zweifel Montaignes korrespondiert hingegen kontrapunktisch Leopardis analytische Gewissheit. Und La Rochefoucaulds negativ konnotierte Eigenliebe nimmt in den Pensieri die Gestalt einer unverzichtbaren Selbstliebe, des amor sui an9.

Leopardis Text kommt also durchaus eine Sonderstellung zu. Darüber kann auch nicht ein ausgeprägtes Stilmittel moralistischer Literatur hinwegtäuschen: die durchgängig aphoristische Zurichtung der Gedankenführung. Nicht zuletzt diese erlaubt es im Grunde, die eigene deterministische Weltsicht durch anti-pessimistische Akzente kurzfristig, doch immer wieder zu überspielen. Es gibt indes eine weitere Besonderheit der Pensieri: ihre grundlegende Kürze bzw. Kompaktheit, die – wieder einmal – Walter Benjamin bewogen hat, die Sammlung der suggestiven Reflexionen mit dem Begriff des «Handorakels» zu versehen10. Dabei steht wohl trotz der erwähnten Nähe zu Gracián weniger dessen konzeptistische Dunkelheit im Oráculo manual vergleichsweise zur Debatte – in der lichten Semantik der Pensieri findet sie keine Entsprechung – als vielmehr die Handlichkeit und leichte Verfügbarkeit eines überschaubaren Buches11. Vorstellbar sind die Pensieri demzufolge durchaus als eine Art Vademecum orientierenden Wissens im Hinblick auf ein erleichtertes Leben. Kulturgeschichtlich scheint dies begreiflich zu sein. Ob der Verfasser es allerdings intendiert hatte, bleibt ungewiss, zumal angesichts des – allerdings alleinstehenden – Zeugnisses von Pietro Giordani, dem Vertrauten aus alten Zeiten, ursprünglich hätten 600 Pensieri vorgelegen12. Die sozialerzieherische Seite des Textes rückt damit jedenfalls unverkennbar ins Licht.

Leopardis Ziel, den Charakter der Menschen und ihr Verhalten in der Gesellschaft zu erfassen, ist zweifellos seiner schon länger gehegten Absicht verschwistert, den «uomo in sé» [«Menschen in sich selbst»] zu begreifen, menschliche Charakteristika an sich aus der Betrachtung des eigenen Ich zu gewinnen, wie es in dem bekannten Brief vom 4. März 1826 an Giampietro Vieusseux heißt13. Mit zunehmender Lebenserfahrung aber offenbart dieses Pars-pro-toto-Modell sein Ungenügen und weicht einer Dialektik von Selbst- und Fremdbeobachtung, aus der dann allerdings keine plane Anthropologie mehr hervorgeht. Die Entität Mensch spaltet sich für Leopardi nunmehr auf in eine Mehrzahl der negativen Personen und eine kleine Gruppe der «buoni» [«Guten»] und «magnanimi» (I, 32 [«Großmütigen»]). Diese manichäische Bipolarität14 lässt schlüssigerweise nur zu, dass die «arte del vivere» den eher wenigen Ausnahmegestalten vorbehalten ist bzw. dem Typus des «uomo coraggioso e da bene» (I, 31 [«mutigen und ehrbaren Menschen»]). Die Hinwendung zu den solcherart markierten happy few ist jedoch im Einklang mit der philantropischen Grundhaltung Leopardis zu sehen: «la mia inclinazione non è mai stata d’odiare gli uomini, ma di amarli» (I, 31 [«ich habe nie dazu geneigt, die Menschen zu hassen, wohl aber, sie zu lieben»]).

Lebenskunst nach Leopardi

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