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III.

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Nur einmal in der Gesamtheit der Pensieri, in Pensiero LXXIX (127), benennt und thematisiert Leopardi die «arte del vivere» explizit. Deren Essenz gilt ihm als das Geschick «a trattare gli uomini e se stesso» [«die Menschen und sich selbst handzuhaben»], und dieses Geschick muss erworben werden. Ungeeignet hierfür sei der «giovane», der junge Mensch, denn die «veemenza dei desideri», seine heftigen Begierden verwehrten ihm dies. Erst mit seiner progressiven ‹Abkühlung› erweise er sich als geeignet für die Annehmlichkeiten der Lebenskunst. Darin aber tritt für Leopardi zugleich ein grundlegendes Dilemma menschlicher Existenz zutage: Die stets ‹gütige› Natur – wie er ironisch festhält – habe es so eingerichtet, dass der Mensch nur in dem Maße fähig sei, zu leben zu lernen, wie der Anreiz zu leben – «le cause di vivere» – ihm bereits davoneile und sich für ihn nur noch eine bescheidene «allegrezza» [«Freude»] abzeichne. Allein solchen «giovani», die von nur schwachen «Begierden» geprägt seien, da so das Erwachsenenalter, «l’età virile», im Zuge des notwendigen «concorso di esperienza e d’ingegno» [«Zusammenwirkens von Erfahrung und Veranlagung»] früher einsetzen könne, sei großer Erfolg beschieden, eine Lebenskunst zu entwickeln. Andere junge Menschen wiederum, mit außergewöhnlicher «forza dei sentimenti» [«Kraft der Gefühle»] ausgestattet, hätten das Vermögen, in diesem Status der Jugendlichkeit sehr lange zu verharren; im Grunde könnten sie mithin das Leben weitaus mehr genießen als alle übrigen. Das gelte jedoch nur unter der fälschlichen Annahme, die ‹Natur› habe das Leben für den ‹Genuss› bestimmt. Deshalb seien die Personen dieser Kategorie am Ende – ganz im Gegenteil – «infelicissimi» [«höchst unglücklich»] und verblieben ihr Leben lang in der Verfassung von «Kindern», denen der «uso del mondo», die Fähigkeit, sich die Welt dienlich zu machen, versagt bleibe.

Es zeigt sich mithin, dass das Konzept der Lebenskunst der Rahmenvorstellung einer, phänomenologisch gesehen, desolaten menschlichen Existenz entspringt1. Es ist ein Ergebnis kühler Rationalität und repräsentiert zugleich den minimalen Spielraum an Freiheit, den ein umfassender Determinismus noch zu konzedieren scheint. Der «arte del vivere» eignet folglich zumindest auch ein Gran Melancholie.

Wenn Leopardis entscheidendes Anliegen erst im letzten Viertel seiner Pensieri grundsätzlich expliziert wird, so ist der Gesamttext aber durchaus von dem zentralen Ansinnen durchwoben. In dieser Hinsicht lassen sich drei Textebenen unterscheiden.

Auf der ersten Ebene wird das Bild einer ausnahmslos selbstzerstörerischen Gesellschaft entworfen, als deren wichtigste Facetten «la bassezza dell’animo, la freddezza, l’egoismo, l’avarizia, la falsità e la perfidia mercantile» [«die charakterliche Niedertracht, die Kälte, der Egoismus, der Geiz, die Falschheit und die Heimtücke in geschäftlichen Dingen»] zu gelten haben, somit «tutte le qualità e le passioni più depravatrici e più indegne dell’uomo incivilito» (XLIV, 87 [«die für den zivilisierten Menschen verruchtesten und schändlichsten Eigenschaften und Leidenschaften»]). Diese des Öfteren in variierenden Abwandlungen aufscheinende Situation lässt neben ihrem desillusionistischen Zuschnitt aber auch vage Anzeichen ohnmächtigen Widerspruchs erkennen. Das Bemühen um ein Einwirken auf die Leserschaft ist spürbar.

Die zweite Textebene markiert demgegenüber schon deutlicher eine edukative Intention Leopardis. Diese manifestiert sich implizit, indem soziale Interaktionen vorgestellt werden, die sich auf nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten eines jeweils involvierten Subjekts verengen. Dies entspricht dann einer indirekten Verhaltensanweisung. So etwa in dem sentenziösen Pensiero LXXXVI (134), wenn es heißt: «Il più certo modo di celare agli altri i confini del proprio sapere, è di non trapassarli»2 [«Die sicherste Art, den anderen die Grenzen des eigenen Wissens zu verbergen, besteht darin, sie nicht zu überschreiten»]. Ein ähnlich unausgesprochener Imperativ des Verhaltens liegt vor in Pensiero XCIV (143), wo ausgeführt ist, der «uomo savio e prudente» [«weise und besonnene Mensch»] dürfe einen guten Freund um sehr vieles, doch niemals um materielle Unterstützung, um das Gewähren von «roba» bitten. Eine jede Person setze im Allgemeinen eher ihr Leben für einen Fremden aufs Spiel, als dass sie einem Freund auch nur einen «scudo» zubillige. Der erfahrungsgeprägte Anspruch des dargelegten Wissens scheint auf Seiten des Lesers nur Zustimmung und damit auch ein entsprechendes Handeln als möglicherweise Betroffener zu erlauben. Leopardis moralistische Lenkung des Publikums erfolgt unter der Annahme mentaler Gleichförmigkeit aller sozialen Akteure.

Die dritte Textebene schließlich offenbart ein deutlicheres, ein eher direktes Werben für das Sich-Einlassen auf einen Lernprozess zum Zwecke einer besseren und dem jeweiligen Selbst nützlicheren Lebensgestaltung. Zwar wird hierbei keine personalisierte Aufforderung ausgesprochen, etwa unter Rekurs auf die Pronomina tu oder voi, doch die textlich zum Vorschein kommenden Instanzen legen ihre Substitution durch jedweden Leser nahe. Leopardi bedient sich hier letzten Endes einer kaum verdeckten Deixis des argumentativen Herantretens an jeden vernunftbegabten Menschen. Dies wird exemplarisch fassbar in Pensiero LXXXII (130), dessen initiale Aussage die unhintergehbare Notwendigkeit der Selbsterkenntnis dekretiert, sofern man der Kategorie «uomo» [«Mensch»] angehören möchte:

Nessuno diventa uomo innanzi di aver fatto una grande esperienza di sé, la quale rivelando lui a lui medesimo, e determinando l’opinione sua intorno a sé stesso, determina in qualche modo la fortuna e lo stato suo nella vita.

[Niemand wird zum Menschen, bevor er nicht eine bedeutende Selbsterfahrung gemacht hat, die – indem sie ihn ihm selbst offenbart und die Anschauung seiner selbst bestimmt – in gewisser Hinsicht seinen Erfolg und seine Stellung im Leben bestimmt.]

Nur auf diese Weise sei es möglich, «la natura e il temperamento proprio» [«die eigene Natur und Wesensart»] zu erkennen sowie das «Maß der eigenen Fähigkeiten und Kräfte» einzuschätzen. Dies mündet denn auch in das abschließend genannte Ziel, «mächtiger», «più potente» zu sein als «vorher», nämlich «più atto a far uso di se e degli altri» [«geeigneter, sich seiner selbst und der anderen zu bedienen»].

Indem Leopardi für ein instrumentelles Agieren im sozialen Kontext plädiert, verlässt er im Grunde nicht die Ebene des allgegenwärtigen Antagonismus der Menschen, den er ja kontinuierlich beklagt. Der individuelle Vorteil des Lebenskünstlers resultiert nicht unerheblich aus der analytischen Überlegenheit gegenüber den ‹anderen›. Doch die Distanz zum eigenen Ich ist ebenfalls gegeben, insofern dessen erkennendes Verfügbarmachen seiner selbst nicht ohne Selbstobjektivierung auskommt. Um dem eigenen Leben eine optimistische Basis zu vermitteln, kann sich der Einzelne der gesellschaftlich und human vorherrschenden Normen nur besser bedienen, nicht aber diese außer Kraft setzen. Spricht dies für Leopardis psychologischen Realismus, so liegt es nahe, dass sich dieser textlich nicht in Formen planer Aufforderung zu existentieller Neuorientierung niederschlagen kann, sondern strukturell vermittelter Persuasionstechniken bedarf.

Hinter diesen verbirgt sich indes ein geradezu «wissenschaftlicher» Anspruch, wie aus Pensiero LI erhellt, der nicht zuletzt dem Lob Guicciardinis gewidmet ist, dem einzigen modernen «Historiker», der die «cognizione della natura umana» (95), die «Erkenntnis der menschlichen Natur», zum Maßstab seines Denkens genommen habe und damit die «scienza dell’uomo» [«Wissenschaft vom Menschen»] im Unterschied zu einer meist ‹chimärischen› «scienza politica» (953 [«politischen Wissenschaft»]). Für Leopardi existieren demzufolge anthropologische Faktoren, deren anschauliche Demonstration die unausgesprochene Überzeugung umschreibt, dass kluge Menschen sich dem nicht verschließen und ihr Leben entsprechend ausrichten.

Die Lebenskunst bzw. die potentielle Realisierung eines anti-pessimistischen Lebensmusters ist folglich der «scienza dell’uomo» bereits eingeschrieben. Leopardis Menschenbild beruht deshalb auch auf seiner Ansicht nach natürlich angelegten Elementen menschlicher Selbstentfaltung zum je persönlichen Nutzen hin. Freilich gilt dies, so ist erneut zu betonen, innerhalb der nur begrenzten Handlungsmarge, die eine wenig menschenfreundliche Natur vorsieht.4

Lebenskunst nach Leopardi

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