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3. Das Unbestimmte – L’indefinito

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Ein Dilemma, das sich nur in der poetischen Praxis auflösen lässt, wie Leopardi in seinem berühmtesten Gedicht L’infinito auf geniale Art und Weise demonstriert. Obwohl L’infinito in seiner nunmehr 200-jährigen Geschichte unzählige Interpretationen erfahren hat, möchte ich es zur Veranschaulichung der affirmativen Kraft, die im Lebensbegriff Leopardis steckt, ein weiteres Mal bemühen.

Sempre caro mi fu quest’ermo colle,

e questa siepe, che da tanta parte

dell’ultimo orizzonte il guardo esclude.

Ma sedendo e mirando, interminati

spazi di là da quella, e sovrumani

silenzi, e profondissima quiete

io nel pensier mi fingo; ove per poco

il cor non si spaura. E come il vento

odo stormir tra queste piante, io quello

infinito silenzio a questa voce

vo comparando: e mi sovvien l’eterno,

e le morte stagioni, e la presente

e viva, e il suon di lei. Così tra questa

immensità s’annega il pensier mio:

e il naufragar m’è dolce in questo mare. (L’infinito, vv. 1–15)

[Immer war dieser verlassene Hügel mir lieb | und diese Hecke, die den Blick | auf weite Teile des Horizonts verwehrt. | Doch wenn ich hier sitze und schaue, denke ich |

mir unbegrenzte Räume jenseits von diesem aus | und übermenschliche Stille und tiefste Ruhe, | wo das Herz sich nicht | so leicht ängstigt. Und wenn ich den Wind | durch diese Büsche rascheln höre, vergleiche ich | das grenzenlose Schweigen mit diesem Laut: | ich gedenke der Ewigkeit und der verstorbenen | Jahrhunderte sowie des jetzigen, lebendigen, | und dessen Lärm. In dieser Unendlichkeit | versinkt mein Denken, und süß ist mir | das Untergehen in diesem Meer.]1

Wie alten Freunden begegnet das lyrische Ich dem einsamen Hügel und der Hecke in der Vorfreude auf eine vergnügliche Zeit. Während die Hecke den Blick begrenzt und sich damit eine grenzenlose Vorstellungswelt auftut,2 findet das ewig begehrende Herz in der fingierten Empfindungslosigkeit kurzzeitig Frieden. Dann allerdings hebt der Wind an und bringt die Materialität der Welt zurück.3 Es wird deutlich, dass der Körper der Ort der Erinnerung («vo comparando») und der Wahrnehmung des Hier und Jetzt ist und sich der pensiero eben doch nicht von ihm lösen kann. Die körperliche Wahrnehmung ist unbestimmt4, das Rauschen des Windes erzeugt selbst kein Bild, sondern öffnet einen Erinnerungsraum, in dem die zeitlichen Ebenen verschwimmen und die subjektive Ebene sich auflöst.5 Als der pensiero untergeht, erklingt die Poesie der Gegenwart6. In annegare steckt die Negation, der Gedanke negiert sich selbst und mit ihm die ganze Sphäre der Subjektivität7.

Wenn also desiderio und pensiero Voraussetzungen für das Leben sind (cf. Zib. 165), folgt aus ihrer Aufhebung auch die Auflösung des Lebens und sein Aufgehen im nulla. Anders als der philosophische pensiero evoziert das Gedicht aber nicht das Nichts, sondern ein süßes Meer als letztes Lebens-Zeichen des untergehenden Ichs. Darin liegt gerade das äußerste Vergnügen: im Loslassen, im Kontrolle-Verlieren, im Sich-selbst-Vergessen (cf. Zib. 4074). Die tödliche Kraft des desiderio wird ausgehebelt, es öffnet sich eine Dimension des Nicht-Wissens. Die Unermesslichkeit, in der der pensiero schließlich untergeht, ist nicht die Unendlichkeit, zu der weder der Intellekt noch die Vorstellungskraft tatsächlich Zugang haben, sondern l’indefinito: «O un infinito impuro, mescolato al ‹qui›, al presente»8 [«Oder eine unreine Unendlichkeit, vermischt mit dem ‹Hier›, mit der Gegenwart»].

Das Unbestimmte reicht in seiner sinnlichen Funktion über den pensiero hinaus. Es löst eine Bewegung aus, die die Unterscheidung zwischen Leben und Tod, pensiero und desiderio, bloßer Existenz und empfundenem Leben verunmöglicht. Anders als das nulla löscht es jedoch nicht aus, sondern bewahrt in der Empfindung eine lebendige Potenz.9

Die ‹Poetik des Unbestimmten› mit ihrer biologisch-poetischen Potenz bildet den Pol, an dem sich das Leben gegen das Nichts behaupten kann.

Lebenskunst nach Leopardi

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