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1. Die Entdeckung des Nichts und die teoria del piacere

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In historischer Perspektive fällt das Zutagetreten eines modernen Lebensbegriffs Leopardis in das sogenannte Schicksalsjahr 1819, als die bereits in der Auseinandersetzung mit den Romantikern kritisch diskutierte Referenz des Lebens eine existentielle Dimension bekommt (cf. 968–996).1 Anders als jene, die hoffen, durch die Verschmelzung von Naturwissenschaft und Poetik ein höheres Wissen über das Leben zu erlangen,2 wird Leopardis existentielle Grenzerfahrung mit dem «solido nulla» (Zib. 85, 90)3 zu einer produktiven Schreibpraxis, was wir zum einem an seinen poetischen Werken, zum anderen aber auch an seinem Zibaldone dei pensieri ablesen können. In diesem philosophischen Tage- und Notizbuch skizziert er im Juli 1820 seine teoria del piacere, so überschreibt er diese ‹meditazioni sulla felicità›, in denen sein Lebensbegriff wurzelt. Antonio Prete schlägt vor, statt von einer Theorie vielmehr von einer ‹Schreibbewegung› («movimento di scrittura») zu sprechen, um den Gegensatz zu einem statischen Theoriegebäude zu unterstreichen.4 Es ist diese Schreibbewegung, in der der Lebensbegriff seine eigene Dynamik erkundet und seine Produktivität erfahren kann.5 Als zentral erweist sich dabei folgende Stelle aus dem Zibaldone, in der Leopardi seine Grenzerfahrung reflektiert:

Il sentimento della nullità di tutte le cose, la insufficienza di tutti i piaceri a riempierci l’animo, e la tendenza nostra verso un infinito che non comprendiamo, forse proviene da una cagione semplicissima, e piú materiale che spirituale. L’anima umana (e cosí tutti gli esseri viventi) desidera sempre essenzialmente, e mira unicamente, benché sotto mille aspetti, al piacere, ossia alla felicità, che considerandola bene, è tutt’uno col piacere. Questo desiderio e questa tendenza non ha limiti, perch’è ingenita o congenita coll’esistenza, e perciò non può aver fine in questo o quel piacere che non può essere infinito, ma solamente termina colla vita. (Zib. 165)

[Die Empfindung der Nichtigkeit aller Dinge, das Unvermögen aller Freuden, unsere Seele zu erfüllen, und unser Hang zu einer uns unverständlichen Unendlichkeit haben vielleicht einen überaus simplen Grund und einen, der vielmehr materiell als spirituell ist. Die menschliche Seele (und mit ihr alle anderen Lebewesen) begehrt immer und zielt einzig, wenn auch auf tausend Arten, wesentlich auf das Wohlgefallen, das heißt auf das Glück, das bei näherer Betrachtung eins mit dem Vergnügen ist. Dieses Begehren bzw. diese Tendenz hat keine Grenzen, da es von oder mit der Existenz hervorgerufen wird, und daher nicht in diesem oder jenem Vergnügen, das nicht unendlich sein kann, aufgeht, sondern nur mit dem Leben selbst endet.]6

Die anima umana wird vom Begehren in Gang gehalten, wobei sich dieses Begehren nicht auf einen bestimmten Genuss, sondern auf den Genuss an sich bzw. das Glück an sich richtet. Dieses grenzenlose Begehren ist Teil der Bedingung der Existenz, bios und desiderio bilden eine untrennbare Einheit, die einzig und allein mit dem Leben selbst endet bzw. mit diesem zusammenfällt. Vom desiderio geht also eine Bewegung aus, die einen bestimmten, materiellen Genuss begehrt, eigentlich jedoch nach etwas Unermesslichem strebt. Da der Genuss sowohl materiell als auch endlich ist und das Begehren somit letztlich unerfüllt bleiben muss, schließt sich der Kreis nie vollständig. Was das Leben angeht, sind dabei zwei Punkte entscheidend: Es wird durch das nie befriedigte Streben in Bewegung gehalten, und die Bewegung stellt gleichsam seinen inneren Zweck dar.

Zuvor spricht Leopardi allerdings vom sentimento, von der Empfindung der nullità. Luporini erinnert uns daran, dass das Spezifische des Nihilismus Leopardis darin liegt, dass er weniger auf eine dominante Denkströmung antwortet, als vielmehr auf persönlicher Erfahrung gründet.7 An diesem Punkt wird genau das deutlich: Das Nichts ist eine sinnliche Erfahrung, ein Körperwissen, das sich in dem Moment einstellt, als ihn der temporäre Abfall seines Sehvermögens in Folge einer schweren Augenerkrankung von einem bedeutenden Teil der Außenwelt abschneidet. Die Oberfläche der Welt mit ihren Illusionen verschwindet, und darunter kommt nichts anderes zum Vorschein als die grausame Wahrheit der (menschlichen) Existenz: die Tatsache, dass der Tod, der in der absoluten Empfindungslosigkeit liegt, dem Leben in jedem Moment auflauert. Die Empfindung des Nichts generiert den negativen Pol des Lebensbegriffs. In dieser Empfindung liegt jedoch auch der Schlüssel für die folgende vitalistische Kehre.

Lebenskunst nach Leopardi

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