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Vorwort

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LICHT IN DEN UNTERGRUND BRINGEN

Wouter J. Hanegraaff

Westliche Esoterik wissenschaftlich zu untersuchen, ist etwa, als würde man Psychotherapie auf die Geistesgeschichte anwenden. Die erste Voraussetzung dafür ist, sich nicht mit oberflächlichen Erscheinungen zufrieden zu geben und nicht alles für bare Münze zu nehmen, was offizielle Berichte uns erzählen, sondern neugierig gerade auf das zu sein, was sie uns nicht erzählen wollen: das Vorhandensein unterirdischer Archive oder Gewölbe der Erinnerungen, in die wir all das verbannen, was wir nicht annehmen wollen, weil es zu sehr von unserem eigenen, idealisierten Selbstbild und von den Werten abweicht, die wir hochhalten. Die deutsche Sprache kennt einen schönen Ausdruck dafür: wir sprechen vom Okkulten auch als dem Untergrund des Abendlandes.1

Diese Archive unterdrückter Erinnerungen existieren nicht nur im metaphorischen, sondern auch im wörtlichen Sinn. Gelehrte der westlichen Esoterik verbringen viel Zeit damit – so hofft man jedenfalls! –, die Primärquellen des verschmähten Wissens zu studieren und zu analysieren: Bände, die in den Regalen der Bibliotheken verstauben, weil sie niemand mehr liest, Bücher und Handschriften von Autoren, die es nie geschafft haben, in den Kanon der anerkannten akademischen Literatur aufgenommen zu werden, oder die irgendwann wieder aus diesem heraus gefallen sind, usw. Eine solche Forschung mag wie eine Jagd nach vergessenen Schätzen anmuten, und tatsächlich warten, vergraben unter dem zahlreichen Material, das die Zeit nicht überdauert hat, wahre Juwelen darauf, entdeckt zu werden; mit etwas Glück stößt man auf tief schürfende Denker und auf Texte von hoher Qualität, die niemals dem Vergessen hätten anheim fallen sollen, und die allein aufgrund des ihnen innewohnenden Wertes verdienen, wiederentdeckt zu werden. Dieses Hoffen auf spannende Entdeckungen ist wohl jedem schaffenden Historiker vertraut, doch im Fall der westlichen Esoterik geht es um mehr. Der Untergrund des Abendlandes verfügt über eine strukturelle Logik: es handelt sich keineswegs um eine zufällige Ansammlung von auf der Strecke gebliebenem Wissen, sondern um einen Speicher, dessen Inhalt die Schattenseite unserer eigenen, offiziellen Identität repräsentiert, mit der wir uns näher beschäftigen müssen, wenn wir uns selbst besser verstehen wollen.

Die kulturelle Identität des modernen Westens ruht auf zwei Säulen: einer religiösen Tradition, die sich selbst durch Bezugnahme auf die heiligen Schriften des Judentums und des Christentums definiert, und einer Tradition der Vernunft und der Wissenschaft, die auf die alten Griechen zurückgeht und in der Aufklärung sowie der modernen Wissenschaft ihre Höhepunkte erreicht hat. Verkürzt zusammengefasst, steht die erstere Tradition in ihrer Definition gegen das „Heidentum“, die letztere gegen Unvernunft und Aberglauben. Versucht man jedoch, hinter diese offizielle Darstellung zu blicken, entdeckt man, dass die historische Wirklichkeit viel komplexer und verworrener ist. Das Christentum hat in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung nicht einfach über das Heidentum triumphiert –ganz im Gegenteil: von der Zeit an, da eine Reihe früher Kirchenväter den Platonismus anerkannten, hatten Theologen und Philosophen mit einer kontinuierlichen Präsenz von Heidentum innerhalb des Christentums zu tun, nicht als eine Art fremder Wesenheit von außen, sondern als integrierter Bestandteil seines geistigen Gefüges. Nur die radikaleren Vertreter der Reformation waren mehr oder weniger erfolgreich darin, dem Christentum heidnische Spekulationen auszutreiben. Der Preis dafür war jedoch, dass dadurch ein Rationalisierungsprozess in Gang gesetzt wurde, der dazu führte, dass die Denker der Aufklärung das christliche Kind schließlich mit dem heidnischen Bade ausschütteten. Das so genannte Zeitalter der Vernunft war auch ein Zeitalter des Illuminismus, der Theosophie und anderer Formen der Esoterik, und die neuen Wissenschaftler und rationalistischen Philosophen waren sich dieser Tatsache voll bewusst. Die Aufklärung definierte ihre ureigene Identität aus ihrer Opposition gegen diese zeitgenössischen esoterischen Strömungen heraus; sie wies alles von sich, was unter Bezeichnungen wie magisch oder das Okkulte bekannt wurde: Schubladenkategorien, die alles einschlossen, was mit heidnischem Aberglauben assoziiert wurde und so erfolgreich entweder dämonisiert oder als „irrationaler Unfug“ lächerlich gemacht werden konnte. In diesem Identitätsbildungsprozess mittels polemischer Ausgrenzung wurden „heidnische“ Traditionen stillschweigend ihres traditionellen Status als Mitspieler auf dem Feld der Geschichte entkleidet und zu geschichtslosen Allgemeinbegriffen menschlichen Denkens und Verhaltens umgewandelt: statt sich mit geistigen oder religiösen Traditionen wie „Platonismus“ oder „Hermetik“ auseinanderzusetzen, sprach man nun einfach von „Unvernunft“, „Vorurteil“ oder „Dummheit“.2

Als Folge dieser Entwicklung hat die westliche Esoterik in der akademischen Vorstellung noch immer die Funktion des strukturell „anderen“ Anteils unserer kollektiven modernen Identität mit ihren christlichen Wurzeln und ihrer Hingabe an Vernunft und Wissenschaft. Sie ist wie eine schwarze Leinwand, auf die wir in leuchtenden Farben von Licht und Wahrheit die Konturen unserer Identität zeichnen können. Aus diesem Grund haben wir ein persönliches, eigennütziges Interesse daran, sie dunkel zu belassen: wenn esoterische oder okkulte Strömungen und Ideen als integrale Bestandteile der christlichen Kultur betrachtet werden, wenn deren Vertreter in der Lage sind, rational zu denken, wenn sie zu wahrhafter Wissenschaft beigetragen haben oder moderne und fortschrittliche Tendenzen sich in ihren Weltanschauungen spiegeln – und all dies ist durch moderne Forschungen zur Genüge belegt – dann beginnt sich die Leinwand zu erhellen, und es wird komplizierter, das, was „wir“ zu sein vermuten, zu entschlüsseln. Um unsere Identität davor zu bewahren, ziehen wir es vor, „das Okkulte“ an seinem Platz zu lassen: das Dunkel hat dunkel zu sein, und Licht hat Licht zu sein, und beide werden sich nie begegnen.

Es gibt wohl kaum eine Persönlichkeit, die die dunkle Seite des Okkulten auf so extreme Weise repräsentiert wie der englische Magier und Bürgerschreck Aleister Crowley. Es gibt keinen Zweifel darüber, dass er zu Lebzeiten alles daran setzte, sich als perfektes Gegenbild zur westlichen Gesellschaft und all ihrer traditionellen Werte zu positionieren. Crowley war das selbsternannte Tier aus dem Abyssus und predigte eine antichristliche Religion, die von einer heidnischen Gottheit oder einem Dämon offenbart wurde; er war der Inbegriff sexueller Perversion, der mit allen erdenklichen Formen der Unmoral experimentierte; und er war, in einer Zeit der Vernunft und des wissenschaftlichen Fortschrittes, der Verkünder seiner „Magick“, die offensichtlich darauf ausgerichtet war, sämtlichen „Aberglauben“ der Vergangenheit wiederzubeleben. Es fällt schwer, klarere Belege für das angeblich antichristliche, antirationale und antimoderne Wesen des Okkulten zu finden: wenn es im Eigeninteresse der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Repräsentanten liegt, das Okkulte so weit wie möglich im Dunkeln zu halten, dann kann man sagen, dass Crowley dem mehr als entgegenkam.

Indem er seine Rolle des dämonischen „Anderen“ mit Perfektion spielte, bestärkte und bestätigte Crowley die etablierte Auffassung und lieferte Christen wie Rationalisten jedes Argument dafür, sich selbst weiterhin als gut und den Okkultismus als böse zu betrachten. Ironischerweise könnte die vorliegende Sammlung wissenschaftlicher Essays tiefgründigere subversive Auswirkungen zeigen als Crowleys eigene Provokationsstrategien, weil sie die schwarz-weißen Stereotype als Nennwert nicht akzeptiert, sondern Farbe und Tiefe auf die dunkle Leinwand bringt, indem vertrackte Details behandelt, eine ganze Reihe historischer Kontexte untersucht und unbequeme Fragen gestellt werden. Bei seiner ganzen Kritik an der Moderne und seiner beabsichtigten Rückkehr zu archaischen Traditionen stellt sich doch heraus, dass Crowley ein Modernist gewesen ist. Trotz all seiner Erkundung von „Magick“ und veränderten Bewusstseinszuständen entpuppt er sich als Rationalist. Und bedenkt man zum Beispiel die zutiefst biblische Sprache seiner Erfahrungsberichte in The Vision and the Voice, lässt sich sogar behaupten, dass er – bei all seiner Zurückweisung des etablierten Christentums – ein häretischer Christ gewesen ist. Kurzum: das Phänomen Crowley – womit nicht nur „das Tier“ selbst, sondern auch die lebendige Subkultur seiner Anhänger mit ihren zahlreichen Verzweigungen in Literatur, Kunst, Musik und Film gemeint ist – öffnet uns eher ein Fenster mit Sicht auf die komplexe Dialektik des Christentums, des Rationalismus und der Moderne, als dass es deren radikalen Gegensatz repräsentiert. Als solches ist es eine der extremsten Darstellungen einer Aussage, die über den Bereich der westlichen Esoterik in ihrer Gänze getroffen werden kann. Es ist ein himmelweiter Unterschied zwischen dem, wie dieses Feld, seine Vertreter und deren Anschauungen in der akademischen wie auch der populären Vorstellung gesehen werden, und wie diese im viel komplexeren Gefüge der geschichtlichen und gesellschaftlichen Realität existieren. Wenn wir dies nicht zu unterscheiden wissen, werden wir nicht nur das Okkulte auf einer grundsätzlichen Ebene falsch verstehen, sondern uns werden auch wesentliche Dimensionen moderner Kultur und Gesellschaft verborgen bleiben.

Der Leser sei gewarnt: diese Sammlung kritischer Studien kann ihn vieles lehren, doch ist sie nichts für die Kleinmütigen oder die Leichtfertigen. Er wird eingeführt in eine seltsame, oft groteske und zutiefst aufstörende Welt, in der Reisende angehalten sind, so manche ihnen wohl vertraute Vermutung in Frage zu stellen. Eine Welt, in der nichts so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint, und wo etablierte Grenzen scheinbar nur existieren, um überschritten zu werden. Diese Exkursion in den Untergrund soll den Reisenden berühren und seine Perspektive verändern: Ist seine vertraute Welt nach seiner Rückkehr noch dieselbe, dann war er nicht mehr als ein Tourist, der von der klimatisierten Sicherheit seines Ausflugsbusses aus „die Wilden“ beobachtet. Der intelligente Leser weiß es besser: Er wird feststellen, dass wir, wenn wir auf die Schattenseite der westlichen Kultur schauen, letztendlich uns selbst anblicken.

Wouter J. Hanegraaff

Universität Amsterdam

Aleister Crowley & die westliche Esoterik

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