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Der Hexenmeister und sein Lehrling

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ALEISTER CROWLEY UND DIE MAGISCHE ERKUNDUNG DER EDWARDIANISCHEN SUBJEKTIVITÄT

Alex Owen

Gegen Ende 1909 unternahmen zwei Engländer, Sprösslinge des wohlhabenden Bürgertums, eine Reise nach Algerien. Aleister Crowley, den man später als „bösesten Mann der Welt“ bezeichnen sollte, war Anfang dreißig; sein Begleiter, Victor Neuburg, hatte gerade sein Studium in Cambridge abgeschlossen. Sie hatten gesagt, es solle eine Vergnügungsreise sein. Crowley, ein weit gereister und erfahrener Bergsteiger und Großwildjäger, liebte Nordafrika und hatte persönliche Gründe, nicht in England zu sein. Neuburg hatte in der Angelegenheit wahrscheinlich wenig zu sagen. Jung an Jahren, verträumt und von mystischer Wesensart, und voller Ehrfurcht für einen Mann, den er gleichermaßen liebte wie bewunderte, neigte Neuburg dazu, Crowleys Vorhaben ohne zu zögern zuzustimmen. Doch es gab noch einen weiteren wichtigen Grund für Neuburgs stillen Gehorsam. Er war Crowleys Chela, ein eingeweihter Novize des Ordens des Silbernen Sterns, den Crowley zwei Jahre zuvor gegründet hatte. Als solcher hatte Neuburg Crowley, seinem Meister, den er liebevoll auch „heiliger Guru“ nannte, einen Gehorsamsschwur geleistet, und er hatte gelernt, dass Crowleys Wort in vielem, was sein Leben betraf, nun Gesetz für ihn war. Auf Crowleys Betreiben hatten sich die beiden Männer auf den Weg in die nordafrikanische Wüste gemacht, erst mit der Bahn, später zu Fuß, in den Südwesten von Algerien. Crowley hatte beschlossen, dort eine Reihe magischer Zeremonien durchzuführen, die der Beginn seiner Ausgestaltung sexualmagischer Techniken sein würden. In diesem Fall verband er die Durchführung fortgeschrittener Ritualmagie mit homosexuellen Handlungen. Diese Episode – außergewöhnlich und erschreckend als Erfahrung, tief greifend in der Wirkung und für mich ein entscheidendes Argument, die magische Praxis als eine befangene Erkundung der Innerlichkeit zu betrachten – bildet den Schwerpunkt dieses Kapitels.

Magie, oder genauer ausgedrückt: Ritual- oder Zeremonialmagie, hat eine lange und erhabene Geschichte in Westeuropa. In engem Zusammenhang mit dem Mittelalter und der frühen Neuzeit wurde die Ritualmagie gewöhnlich in Verbindung mit gelehrten Eliten stehend gesehen. Als Theorie und Praxis vom Zugang zu und der Kommunikation mit machtvollen, zugleich jedoch unsichtbaren natürlichen oder universellen Kräften verstanden, war die Ritualmagie ausnahmslos eine okkulte oder geheime Angelegenheit. Magische Verfahren wurden Grimoires anvertraut, Lehrwerken der Ritualmagie, die wie kostbare Juwelen der magischen Tradition eifersüchtig bewacht wurden. Diese Tradition, von der oft angenommen wurde, dass es sich dabei nur noch um ein archaisches Relikt aus grauen Vorzeiten handelt, das für die moderne Zeit kaum von Relevanz sei, überlebte unbeschadet bis in das neunzehnte Jahrhundert hinein und wurde dann, durch die Veröffentlichung klassischer Grimoires in englischer Übersetzung, als Studienfach zugänglicher gemacht. Francis Barretts The Magus (London 1801) war ein bahnbrechender Text, und um die Mitte des Jahrhunderts hatten sich mehrere Gruppen formiert mit dem erklärten Ziel, die magischen Künste zu studieren. Statt in der Neuzeit zu verschwinden, wurde die Ritualmagie zu einem wesentlichen, wenn auch verborgenen Bestandteil des Wiederauflebens des Okkultismus im neunzehnten Jahrhundert.1

Die allgemeine Faszination für das Okkulte war ein markanter, wenn auch bis heute wenig verstandener Aspekt der viktorianischen Gesellschaft und Kultur.2 Mitte bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts kamen der Spiritualismus und die Theosophie auf, die zusammen mehrere Tausend Anhänger hatten, und es entstanden verschiedene kleine Gruppen, die ihr Wirken den verschiedenen Formen westlicher und östlicher Geheimlehren widmeten. Der Okkultismus entfaltete breite Wirkung, was sich vielleicht am besten am Erfolg „okkulter“ Romane, wie zum Beispiel Rider Haggards She (London 1887) und Bram Stokers Dracula (Westminster 1897), dokumentieren lässt, die gleichzeitig auch die viktorianische Begeisterung für alles Orientalische und „den mysteriösen Osten“ bedienten. Ernsthafte Studenten des Okkulten wurden jedoch weniger von exotischem Glanz angezogen als vielmehr von dem Versprechen, privilegierten Zugang zu geheimem Wissen und zu einem verborgenen Reich spiritueller Weisheit zu erlangen. Dadurch, dass der Okkultismus die Möglichkeit spiritueller Offenbarung suggerierte, sprach er einerseits das triumphalistische Streben der viktorianischen Gesellschaft nach Fortschritt an und zerstreute dabei andererseits die Befürchtungen, dass Wissens- und Verstandesfortschritte zur Entheiligung einer mystischen Welt und eines wundervollen Universums führen könnten. Der wesentliche Ansporn des Okkultismus, auf der Suche nach dem Schlüssel zu den Geheimnissen der Schöpfung das menschliche Schicksal zu gestalten, versprach Offenbarung als Auftakt zu spirituellem Wachstum und Erleuchtung.

Die Ritualmagie bezeichnet dieses Versprechen zweifellos. Am stärksten zeigte sie sich im neunzehnten Jahrhundert in Gestalt des Rosenkreuzertums – und damit als eine besondere Ausgestaltung okkulter Gelehrsamkeit des siebzehnten Jahrhunderts.3 Die Rosenkreuzertradition mit ihren Wurzeln in jüdischer Mystik, hebräischen und christlichen Quellen antiker Weisheit und den wirkmächtigen „ägyptischen“ Schriften des Hermes Trismegistos war gekennzeichnet durch das wohldurchdachte Zusammenspiel von Philosophie und Spiritualität mit magischen Praktiken.4 Diese Kombination aus Philosophie und Magie fand ihren Weg direkt in den führenden magischen Orden der viktorianischen Zeit, den Hermetic Order of the Golden Dawn, und wurde dort zu einer seiner Hauptattraktionen. Der in den späten 1880er Jahren gegründete Hermetic Order of the Golden Dawn stellte sich selbst – in mancherlei Hinsicht zu Recht – als direkte Verbindung zu den geheimen Überlieferungen der Vergangenheit dar. Auch wenn die Gründungsdokumente des Ordens ziemlich dubios sind und seine Hauptrituale zweifelsfrei aus der Feder viktorianischer Magier und Gelehrter stammen, gründeten seine Lehren auf einer originellen Aufarbeitung der hermetischen Schriften sowie auf dem ägyptologischen und anthropologischen Wissen der Gelehrten des neunzehnten Jahrhunderts. Der Name des Ordens sprach von der Erkenntnis einer rosenkreuzerischen Wiedergeburt, der Regeneration der alten, verdorbenen Welt und dem Heraufdämmern eines neuen Zeitalters spiritueller Erleuchtung – Vorstellungen, die um die Jahrhundertwende weit verbreitet waren.

Der Golden Dawn ist heute hauptsächlich als Quelle der Inspiration für den Dichter und Bühnenautor W. B. Yeats bekannt, doch seine vorwiegend gutbürgerlichen Anhänger zählten mehrere Hundert, darunter begnadete Künstler und Schriftsteller. Im Gegensatz zur Freimaurerei zu welcher der Golden Dawn gewisse Verbindungen hatte, waren auch Frauen als Mitglieder willkommen und stiegen in prominente Positionen auf. Der Orden war nach der Symbolik der Kabbala strukturiert und gliederte sich in Tempel, die nach einer strikt hierarchischen Ordnung geführt wurden.5 Einzelne Führungspersönlichkeiten verkörperten die Autorität, und die Initianden wurden rigoros und systematisch in den „verschmähten“ Wissenschaften der westlichen Esoterik unterwiesen. Sie studierten die Symbolik der Astrologie, der Alchemie und der Kabbala, wurden in die Geomantie und die Weissagung mit Tarot eingewiesen und lernten die Grundlagen magischer Techniken. Durch eine Reihe von Prüfungen erklomm ein Schüler die Grade des Ordens, doch die Aufnahme in den fortgeschrittenen Zweiten (oder Inneren) Orden war selektiv und galt eher als Privileg denn als Recht.6 Erst im Zweiten Orden erlangten die Anhänger Zugang zu den Geheimnissen der praktischen oder operativen Magie, d. h. der Magie als einzigartiger Unternehmung, durch welche unsichtbare Kräfte zum Zwecke der Herbeiführung einer spezifischen Veränderung beeinflusst und kontrolliert werden konnten. Die Ordensleiter nahmen diese praktische magische Arbeit sehr ernst, und die höheren Eingeweihten prüften jeden Schüler sehr genau darauf, ob er für ein solches Unterfangen geeignet war. Die britischen Rosenkreuzer waren – anders als ihre okkulten Kollegen in Frankreich – zumindest was die organisatorische Ebene betraf, stets auf Einhaltung der Standards und auf Seriosität bedacht.7

Als Crowley 1898 als Frater Perdurabo (‚Ich werde ausharren bis zum Ende’) in den Hermetic Order of the Golden Dawn initiiert wurde, ging er, wie auch die anderen Anhänger, davon aus, dass er in eine Gesellschaft mit ungebrochener magischer Tradition eintrete. Überzeugt davon, die mystische Geheimbruderschaft gefunden zu haben, auf welche Hofrat Karl von Eckartshausen in seinem okkulten Klassiker Die Wolke über dem Heiligthum (1802; die englische Ausgabe The Cloud upon the Sanctuary erschien 1896 in London) Bezug genommen hatte, stürzte er sich mit Begeisterung in seine magischen Studien. In Cambridge studiert, hochintelligent und zu höchster Konzentration fähig, durchlief Crowley die Grade des Äußeren Ordens des Golden Dawn sehr schnell. Für die bürgerliche Profanität vieler seiner Miteingeweihten hatte er nur Verachtung übrig; die langsamen, pedantischen Methoden des Ordens riefen in ihm Ungeduld hervor, und er war erpicht darauf, Zugang zu den Geheimnissen des hochgeschätzten Zweiten Ordens zu erlangen. Seinem Ehrgeiz schoben jedoch führende Funktionäre des Ordens – allen voran W. B. Yeats –, die Crowleys wildes, unberechenbares Verhalten und seine fragwürdige Moral empörte, einen Riegel vor. Später wurde Crowley in einen heftigen Machtkampf innerhalb des Golden Dawn verwickelt, den er 1900 wieder verließ. Mit neuen Lehrmeistern bildete er sich weiter und gründete schließlich seinen eigenen Orden Astrum Argenteum (Silberner Stern). 1909 verstand er sich selbst als Meistermagier; er hatte großen Einblick in altes Weistum und war geschickt in den fortgeschrittenen Techniken der operativen Magie. In dieser Zeit als selbst ernannter „Meister“ warb er Victor Neuburg an, mit dem er die ersten sexualmagischen Experimente durchführte, die ihn später berüchtigt machen sollten.

Das Experiment von 1909 in der Wüste war jedoch weder rein eigennützig, noch diente es dem bloßen Genuss exotischer und verbotener Sexualität. Was in der Wüste geschah, war das Ergebnis ernsthafter, wenn auch fehlgeleiteter Bestrebungen, Zugang zu einem jahrhundertealten magischen System zu erhalten und es zu erkunden, und es zeugte von einem intensiven persönlichen Einsatz bei der Beschäftigung mit magischem Wissen.

In diesem Kapitel werde ich versuchen, die Bedeutung und den Stellenwert dieses magischen Wirkens sowohl für sich selbst als auch im breiteren kulturellen Kontext zu untersuchen. Im Besonderen beleuchtet dieses Kapitel eine wiederbelebte magische Tradition in Verbindung mit den um die Jahrhundertwende aufkommenden Neuformulierungen sexueller Identität und der zeitgenössischen Beschäftigung mit den Rätseln des menschlichen Seins und Bewusstseins, die sich in den konkurrierenden Vorstellungen vom Selbst offenbart. Bei der Positionierung der Diskussion in einen konzeptionellen Bezugsrahmen zum Begriff der Subjektivität setze ich in der Analyse auf eine besondere theoretische Formulierung des Selbstseins, welche die Eventualität unterstreicht. Das poststrukturalistische Konzept der Subjektivität deutet ein Selbst an, das stabil und instabil, erfassbar und unerfassbar, konstruiert und einzigartig gleichermaßen ist. Meine zentrale Aussage in diesem Kapitel richtet sich jedoch darauf, die fortgeschrittenen magischen Praktiken des Fin de Siècle als eine besondere, befangene Art der Beschäftigung mit dem Selbstsein zu verstehen, die die Grenzen eines einheitlichen Ich-Erlebens aufzeigt, von welchen die erfahrbare sexualisierte Identität abhängt.

Aleister Crowley & die westliche Esoterik

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