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Populismus

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Populismus ist definiert durch eine vierfache Idee von Gesellschaft, nämlich:

1)die Unterscheidung zwischen der Fiktion von einem »wahren Volk« (»populus«) einserseits – und »den korrupten Eliten sowie den anderen« andererseits. Also: auf der einen Seite wir/ das einfache Volk/die anständigen Bürger – auf der anderen Seite die Politiker/die Eliten/die anderen, die Ausländer, die Migranten

2)die Idee von gesellschaftlicher Homogenität, von weitgehender Übereinstimmung innerhalb dieses »Volkes« und damit die Annahme eines allgemeinen, identischen Volkswillens innerhalb dieses Wir

3)die Behauptung, dass wir am Abgrund stehen und in beängstigenden Gefahren leben, wie Migration, Islamisierung oder der »Umvolkung« des Westens

4)die Idee: Wir, das Volk, sind das Opfer dieser Entwicklungen, die von den Eliten sowohl hervorgerufen als auch geleugnet werden und die nicht benannt werden dürfen.

Daraus ergeben sich die vier konstituierenden, typischen Elemente des Populismus:7

1)Antiestablishment

2)die exklusive Souveränität hinsichtlich des Wir, unseres Volkes: Nur unsere Stimme ist wahr, nur unsere Überzeugungen sind gültig.

3)Und damit: Antipluralismus, d. h. gegen die grundsätzliche Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit unterschiedlicher Interessen und Weltanschauungen.

4)Betonung des Opferstatus, der Gegenwehr dringend nötig und legitim macht.

Wenn wir diese knappen Kriterien etwas ausführen, lässt sich Folgendes sagen:

Populisten – und wir alle haben solche Neigungen in uns – möchten das sichere Gefühl haben, zu einer großen, gleichgesinnten Gruppe zu gehören, zu Uns, zum Volk, dessen Mitglieder das Gleiche für wahr und richtig halten und die alles, was unwahr, falsch und schädlich ist, bei »denen da oben«, den Eliten oder den anderen, den Fremden, festmachen.

Wir Populisten sind in vieler Hinsicht die Opfer dieser vom wirklichen Volk abgehobenen Eliten, die schuld daran sind, dass Migranten und Asyltouristen auf unsere Kosten bevorzugt werden und dass unsere Bedürfnisse und Wünsche, unsere nationale Würde, unser Volkswille verkannt und in unüberschaubaren und unverständlichen europäischen und globalen Töpfen untergerührt werden.

Wir Populisten wollen endlich wieder auf unsere deutsche Geschichte stolz sein können und diesen krankhaften deutschen Schuldkult ad acta legen – in diesem Sinn ist mit dem Zurechtstutzen der Nazi-Zeit auf einen »Vogelschiss der Geschichte« (Gauland 2018)8 ein guter Anfang gemacht.

Wir Populisten wollen einfache, klare Worte und Erklärungen von unseren »Führern« – oder, besser noch: von unserem »Führer« –, die aus unserer Mitte heraus für uns eintreten, die wissen, wo’s langgeht und nicht lange fackeln. Wir wollen kein intellektuelles Geschwurbel, sondern wir wollen hören, was Sache ist und was jeder sofort versteht.

Wir Populisten wollen also eine Führungsfigur, am besten einen Mann, der eine solche Dynamik in seinem Auftreten hat, dass wir wissen: Der hat den Durchblick und die Unbeirrbarkeit eines zu höheren Aufgaben Berufenen, der eigene, womöglich abweichende Denkanstrengungen unnötig macht.

Wir Populisten wollen freiweg und impulsiv sprechen, so wie wir fühlen, und dabei gewalttätige, obszöne oder hasserfüllte Ausdrücke gebrauchen können, die von den elitären Medien, von der Lügenpresse unerwünscht sind.9

Die Kontraktion auf populistische Neigungen wird immer hervorgerufen und befördert durch die Unsicherheit äußerer Lebensbedingungen, besonders wenn sie begleitet sind von kollektiven Gefühlen der Überforderung, Enttäuschung, Kränkung oder Demütigung, wie gegenwärtig bei den Folgen des Mauerfalls oder der Globalisierung.

Letztere, die Globalisierung also, ist ein mächtiger Auslöser für Populismus: Internationale Handelsbeziehungen, enorme weltweite Informationsfülle über Medien aller Art, Konsumgüter aus allen Ländern der Welt, rasch zunehmende internationale Kontakte durch stark vereinfachtes, verbilligtes Reisen und die erlebte Auflösung von Landesgrenzen etc. – diese Öffnungs- und Entgrenzungserfahrungen lösen immer auch ihr Gegenteil aus: Kontraktion auf Nahes, Vertrautes, Eigenes bis hin zu Ablehnung oder Bekämpfung des und der Anderen und Fremden.

Was den Mauerfall und die Nachwendezeit als Auslöser bzw. Brandverstärker von populistischen Haltungen betrifft, so sind sie an Dramatik nicht zu überbieten: massenhafter und oft dauerhafter Verlust von Arbeitsplätzen unter radikaler Privatisierung und Deindustrialisierung im Osten, Anpassung nahezu aller Lebensbereiche im Osten an westliche Verhältnisse – also eine Anpassung mit der ausschließlichen Richtung von Ost nach West.

Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung 1.11.2019) fasst kurz zusammen: »Die DDR-Wirtschaft wurde liquidiert und von der Treuhand exekutiert.« Im Grundgesetz wäre ein Zusammenführen beider deutscher Staaten unter einer neuen Verfassung vorgesehen gewesen, u. a. mit den Grundgesetzartikeln 23 und 146.10 Damit hätte man die Erfahrungen der DDR-Deutschen in ein überarbeitetes Grundgesetz einbringen können. Freilich wurde diese Möglichkeit einer gemeinsamen neuen Verfassung auch von ostdeutschen Kritikern abgelehnt und auch sie wurde erst einmal als Übernahme durch die Bundesrepublik erlebt. Mit Bezug auf den Grundgesetz-Artikel 23 gab es z. B. den Ostslogan »Kein Anschluss unter dieser Nummer«.

Und so geschah die Wiedervereinigung mit einer unglaublichen Geschwindigkeit und Dynamik – und in summa änderte sich für die Ostdeutschen fast alles, für die Westdeutschen fast nichts.

Vielen Ostdeutschen ging es so, wie Egon Bahr die Abwicklung der Nationalen Volksarmee NVA beschrieb (Süddeutsche Zeitung 1.11.2019). Es wurde »übernommen, verschrottet, eingeschmolzen, abgewickelt, aufgelöst, übergeben. Insofern passierte der NVA nichts anderes als dem Land und seinen Menschen insgesamt.«

Am letzten Tag der DDR, so Bahr, verweigerte die westdeutsche Seite der ostdeutschen den symbolischen Akt der Würde, die alte Fahne einzuholen und die neue zu hissen. Die bundesdeutsche Politik beantwortete den Mut der Demonstranten, aufzubegehren, und den Mut der DDR-Machthaber und der Volkspolizei, nicht auf sie zu schießen – mit Demütigung.

Das ist nützlich für Populisten. Sie wenden sich an frustrierte, gekränkte und gedemütigte Menschen, präsentieren sich selbst als ebenso geschädigt, wollen sich das ihnen genommene Land zurückholen, identifizieren vermeintlich schuldige Minderheiten, »Ausländer« und »die da oben, die Eliten« als die Verursacher und verkaufen den Ausdruck von Hass, übler Pöbelei und primitiven Entwertungen als die wiedererkämpfte Redefreiheit.

Und mit 23,4 % bei den Landtagswahlen in Thüringen (Oktober 2019) für die AfD und ihren rechtsextremen Flügelmann Björn Höcke (auch er bekanntlich ein Westimport) trifft all das auf eine beklemmende Resonanz.

»Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer«, Bild Nr. 43 der Sammlung »Los Caprichos« (= Launen), 1797 – dieses Schwarz-Weiß-Bild von Francisco de Goya kommt mir dann in den Sinn. Sie erinnern sich vielleicht: ein eingeschlafener Mann, um den herum unheimliche vogel- und fledermausartige Wesen in den Nachthimmel aufsteigen.

Wir sind mit dieser Tagung »30 Jahre Mauerfall« also aufgerufen, aufzuwachen und die gefährliche Verbindung von Mauerfall und Populismus sowie die dadurch eingetrübte Vernunft zu klären.

Zu diesem Zweck nun noch zwei Anmerkungen.

Die erste betrifft die Bedeutung der Treuhandanstalt. Und die zweite beschreibt die enorme Bedeutung der Tatsache, dass fast alle Entwicklungslinien der Welt in den letzten Jahrzehnten steil nach oben, ins Positive, weisen.

Vom Träumen und Aufwachen

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