Читать книгу Vom Träumen und Aufwachen - Группа авторов - Страница 8

Meine Gedanken und inneren Bewegungen – Ein persönlicher Bericht

Оглавление

Annegret Chucholowski

Meine Eltern hatten einen großen Traum gehabt, an dem sie uns – meine Geschwister und mich – von früher Kindheit an hatten teilhaben lassen.

Obwohl meine Herkunftsfamilie keine Verwandten in der DDR gehabt hatte, waren die Teilung Deutschlands und die Hoffnung auf Wiedervereinigung für meine politisch engagierten Eltern Gesprächsthema Nummer eins gewesen.

Rituale wie

•die brennende Kerze im Fenster

•das Packen von »Ostpaketen« mit Kaffee und Damenseidenstrümpfen

•Besuch Geflohener mit ihren Geschichten

•Urlaub in Braunlage mit Blick auf den hohen Zaun und den Todesstreifen

hatten ihres dazu beigetragen.

Der Mauerfall war für mich ein überwältigendes Ereignis. Tränen der Glückseligkeit und ein »Endlich!« ließen unsere Söhne – Jahrgang 1981, 1982, 1985 und 1986 – über ihre Mutter staunen.

Selbstverständlich ging ich davon aus, dass sich jede und jeder Deutsche über den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung freuen würde. Umso betroffener machte mich die Entdeckung, dass es sowohl auf ost- als auch auf westdeutscher Seite Menschen gab, die anders darüber dachten und denken. Diese Tatsache löste in den letzten 30 Jahren (also seit 1989) immer wieder tiefe Betroffenheit, große Trauer und einen unvorstellbaren Schmerz in mir aus. Das verwirrte mich, und ich fand bis zur Tagung in Naumburg keine Erklärung dafür. Die Begegnungen, die Gespräche, das Zuhören, das Miteinanderteilen und das gemeinsame Tun auf der Tagung dienten meiner Spurensuche und trugen wesentlich zur Wandlung des Gefühls bei. Ich empfinde nun große Freude, tiefe Dankbarkeit und inneren Frieden.

Als Ansgar Röhrbein, der mit Anna Hoff das Gesprächsforum moderierte, mich fragte, was ich auf der Fahrt nach Naumburg bezüglich der Tagung mit ins Gepäck genommen hätte, kamen mir sofort »die Spiegel« in den Sinn.

Bereits im Vorfeld hatte ich in meinen Gedanken zur Tagung u. a. folgende Spiegel formuliert:

•Wo lasse ich Trennungen (eventuell aufgrund von Traumatisierungen) zu und bin nicht daran interessiert, die Vereinigung herbeizuführen?

•Wo halte ich noch an einem Freund-/Feindbild fest?

•Wo ist es praktisch, an Altem festzuhalten?

•Wo habe ich eine Haltung von: »Ich weiß es besser!«, »Ich will euch retten!«?

•Wo erlaube ich meinen Kindern nicht, sich ihrer eigenen Bestimmung gemäß zu entwickeln, aus welchen Gründen auch immer?

•Wo habe ich Angst vor Veränderung, Angst vor der Freiheit, Angst, Verantwortung zu übernehmen?

In der Marienkirche gestattete ich mir, den Spiegel zu nehmen und mir einzugestehen, dass ich bereits seit der Anreise Donnerstagmittag nicht mehr bei mir war. Mein Körper war anwesend, doch nicht der Rest von mir. Ich brauchte bis Sonntagvormittag, um dem Spiegel einen Namen zu geben: Ich war im Schock.

Zu dieser Erkenntnis kam ich im interaktiven Workshop mit Aufstellungsarbeit bei Ruth Sander, die sich vorgenommen hatte, das Tagungsthema im Raum zu bewegen. Sie lud uns zu einer kurzen Meditation ein. Wir sollten das auf der Tagung bereits Erlebte und Erfahrene Revue passieren und eine Aussage oder Frage in uns entstehen lassen, die zum Gegenstand der Bewegung im Raum werden könnte.

Drei Fragen waren das Ergebnis:

•Sind wir (noch) im Schock?

•Wie kann es in Bezug auf das Erleben von Enteignung/Ausbeutung/Entwurzelung/Identitätsverlust … gut weitergehen?

•Was braucht es an Bewusstwerdung, damit wir als Gesellschaft in Vielfalt in einen Heilungsprozess eintreten können?

Gemeinsam definierten wir sieben Elemente, die im Aufstellungsfeld ihren Platz bekommen sollten.

Ruth Sander beabsichtigt mit ihrem Aufstellungsformat ein Sichtbarmachen und ein Bewusstwerden. Sie erwartet kein Heil- bzw. Lösungsbild. In der Repräsentanz des Elementes »Schock« konnte ich viele Erkenntnisse gewinnen, durfte den inneren Bewegungen folgen und einen Prozess der Heilung erleben. Wieder im Außenkreis sitzend, nahm ich über mir Goldstaub wahr. Ich beobachtete, wie er über meinen Scheitel von mir aufgenommen wurde. War das meine zurückgekehrte Seele, die zaghaft erneut meine Körperhülle in Besitz nahm? Ich begann, mich zunehmend präsent und vollständig zu fühlen. Was für ein Geschenk.

Kann es sein, dass ich bereits seit Donnerstagmittag als Spiegel in der repräsentierenden Wahrnehmung unterwegs war, um auf ein wesentliches Element – nämlich den Schock – aufmerksam zu machen? War ich in den Dienst genommen? Durfte ich durch die Bewegung im Feld etwas weiterführen und aus dem Schock herausführen?

Enteignung, Ausbeutung, Entwurzelung und Identitätsverlust waren zum Zeitpunkt der Tagung nicht in meinem Bewusstsein. Jetzt, da ich diesen Artikel schreibe, erkenne ich, dass auch darin der Schock gebunden war bzw. gebunden gewesen sein könnte.

Kurz nach dieser Erfahrung fragte ich mich: Wann wurde der Schock, den ich stellvertretend wahrnahm, ausgelöst? War es der Schock des Mauerfalls oder der Schock der Wiedervereinigung? … Nein – der Schock war älter, viel älter.

Ein paar Minuten später nahm ich den Schock wahr

•über die »Teilung Deutschlands«

•über den »Verlust des Krieges«

•über den »Rausschmiss aus dem Paradies«.

Heute gehe ich davon aus, dass es ein uralter Schock ist, der in unser aller Zellgedächtnis gespeichert ist. Dieser Schock wiederholt sich in unterschiedlichen Prägungen und wird immer wieder anders erlebt.

Jeder und jede von uns hat Kontrollmechanismen, Kompensationsmöglichkeiten, Glaubenssätze, Überzeugungen und Verhaltensweisen entwickelt, um sich im Leben zurechtzufinden, um den täglichen Anforderungen gerecht zu werden und um zu überleben. Unsere Eltern und Vorfahren trugen Ihres dazu bei, in der festen Überzeugung, dass sie es genau wüssten – wüssten, wie Überleben gelingt. Wir haben ihr Verhalten ungefragt gelernt, haben es integriert, wenden es reflexhaft an und geben es an unsere Nachkommen unreflektiert weiter.

Aber: Wie gelingt Leben? Gelingt Leben, wenn ich zunehmend mutig meinen Träumen und Visionen Raum gebe, ohne mich zu begrenzen?

Solange ich im Überlebensmodus bin, kann ich nicht wirklich frei sein. Ich bin nicht frei, mein Leben kreativ, meinen Visionen und Träumen folgend, in Achtung und mit Hingabe zu gestalten. Solange ich im Überlebensmodus bin, hat mein Ego das Sagen.

Welche Überzeugungen sollte ich hinter mir lassen? Welche Schocks gilt es zu überwinden? Von welchen Loyalitäten sollte ich mich verabschieden?

Der Mauerfall sollte den »Ostdeutschen« die erhoffte Freiheit geben, die Freiheit, einen eigenen sozialistischen Staat ihren Visionen gemäß aufzubauen. Die »Westdeutschen« verbanden damit die große Chance der (zum Teil) heiß ersehnten Wiedervereinigung. Ich sehe in diesem Spiegel zwei unserer inneren Bewegungen: die Sehnsucht nach Nähe, Dazugehörigkeit und Verschmelzung und gleichzeitig den Drang nach Autonomie, nach Individualität und Einzigartigkeit.

Kann Wiedervereinigung gelingen, indem ich den zwei gegensätzlichen inneren Bewegungen Raum gebe? Könnte es funktionieren, wenn ich einerseits ganz bei mir bin und andererseits im Einklang mit dem Großen und Ganzen mein Leben gestalte?

In meiner 27-jährigen Praxiserfahrung als Heilpraktikerin für Psychotherapie kristallisierte sich immer mehr der Wunsch heraus, die Bindungen zu finden, die uns an einem eigenständigen Voranschreiten und Gestalten hindern. Bindungen, von denen wir überzeugt sind, sie zum Überleben zu brauchen. Nach meiner Beobachtung sind hier vor allem die Bindungen, die wir während der Geburt eingegangen sind, prägend fürs Leben.

Wie ist das zu verstehen? Hier ein paar Beispiele:

•Eine Klientin beschrieb ihre Frustration darüber, regelmäßig kurz vor Vollenden einer Sache »stecken zu bleiben«. Es stellte sich heraus, dass sie eine Weile im Geburtskanal stecken geblieben war, bis sie dann endlich das Licht der Welt erblicken konnte. Die noch bestehende Bindung an diese Situation könnte zum Glaubenssatz geführt haben: »Steckenbleiben ist für das Überleben wichtig.«

•Ein kleiner Junge fällt durch seine große Wut auf, und wir entdecken, dass die Mutter während seiner Geburt wütend auf die Hebamme und den Geburtshelfer war. Das Programm »Wut führt ins Leben, erhält mich am Leben« war installiert.

•Häufig erlebe ich bei Kaiserschnittkindern das Programm: »Ich schaffe es nicht allein!«

Das Faszinierende ist, dass oft allein mit Aufdecken und Aussprechen solcher Zusammenhänge eine Veränderung erfolgen kann.

Zugleich habe ich die Vorannahme, dass wir an bestimmte biochemische Prozesse gebunden sind, die während der Zeit im Mutterleib und während der Geburt abliefen. Die unbewusste Überzeugung, diese Biochemie zum Überleben zu benötigen, könnte uns immer wieder in ähnliche, sich wiederholende Situationen bringen.

In meiner Praxis begleite ich meine Klienten und Klientinnen dahin gehend, diese Überzeugung hinter sich zu lassen und sich auf einen neuen biochemischen Cocktail einzulassen, der sie in ihren Visionen unterstützen und nähren wird.

Ich habe den Verdacht, dass unsere Biochemie durch Ängste und durch Stress gespeist wird. In beiden Fällen tritt eine evolutionär bedingte Kampf-, Flucht- oder Totstellreaktion ein. Adrenalin und Noradrenalin werden ausgeschüttet. Der Blutzuckerspiegel steigt. Wir fühlen uns vorübergehend vermeintlich in der Komfortzone. Um diesen Zustand aufrechtzuerhalten, brauchen wir zwangsläufig immer wieder Trigger, die die geschilderte Reaktion auslösen.

In einem Hypnose-Webinar bei Gabriel Palacios – einem Schweizer Hypnotherapeuten – lernte ich eine Trance kennen mit der Idee, den Schalter stillzulegen und auszubauen, der mich z. B. begrenzt am Erreichen von Zielen und/oder an Glaubenssätzen festhalten lässt. Mit Begeisterung wandte ich die Hypnose an. Wird es mir gelingen, einen Schalter zu finden und auszubauen, der meine biochemische Programmierung aus der Zeit im Mutterleib aufrechterhielt? In mehreren Trancezuständen ging ich zu angstauslösenden und stressbesetzten Themen auf Entdeckungsreise.

Vom Träumen und Aufwachen

Подняться наверх