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Politische Bildung und Biografiearbeit – eine geniale, weil aktivierende Verbindung

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Das Leben ist politisch. Wir Menschen werden in politische Systeme hineingeboren, die unmittelbar Einfluss auf unser Dasein haben. Unsere medizinische Versorgung vom ersten Lebenstag an, unser Zugang zum Bildungssystem, die uns zur Verfügung stehenden Produkte im Supermarkt bis hin zur Frage, ob wir unsere gleichgeschlechtliche Partnerin heiraten dürfen oder nicht – das alles wird politisch verhandelt.

Was ist, wenn sich das politische System verändert? 1945 (von heute, 2020, aus gesehen vor 75 Jahren) endete die Diktatur des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland. Mit dem Ende des heißen Krieges begann der Kalte Krieg und damit eine Zweiteilung der deutschen Gesellschaft. Die Menschen im Osten der heutigen Bundesrepublik erlebten weitere 40 Jahre Diktatur, diesmal unter kommunistischen Vorzeichen. Seit, von heute aus gesehen, 30 Jahren ist das politische Fundament der gesamten Bundesrepublik nun demokratisch verankert. Wer demnach heute im Osten Deutschlands lebt, rund 80 oder 90 Jahre alt ist und sein Leben überwiegend am gleichen Ort verbracht hat, hat drei politische Systeme erlebt. Das prägt – nicht zuletzt durch unterschiedliche Bildungsansätze (vgl. Hepp 2013). Aber mindestens so wirkmächtig wie Gesellschaftsgeschichte ist die eigene Familiengeschichte.

Denn selbst wenn sich die politische Ordnung, in der Menschen miteinander leben, von heute auf morgen verändert, verändern sich nicht (automatisch) die Menschen (mit). Sie sind geprägt von den Geschichten ihrer Familien, von Glaubenssätzen und persönlichen Wertvorstellungen (vgl. Bode 2019).

Wie bewusst sind uns all diese Zusammenhänge?

Die Demokratie beschert dem einzelnen Menschen im Vergleich zu allen anderen politischen Systemen, die wir kennen, die größtmögliche Freiheit. In keinem anderen Gesellschaftssystem ist das Individuum in der Lage, eigenmächtiger und selbstwirksamer zu agieren. Und doch gibt es Menschen, die sich in unserem demokratischen System ohnmächtig fühlen, weil sie keine Gestaltungsräume sehen. Einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge war 2019 nicht mal die Hälfte der befragten Bürgerinnen und Bürger in Deutschland mit der Demokratie zufrieden (Decker, Best, Fischer u. Küppers 2019). Sie stellen das System infrage, in dem sie demokratietheoretisch der oberste Souverän sind. Viele von ihnen nutzen keins der ihnen zur Verfügung stehenden demokratischen Instrumente: Wahlen, Petitionen, Demonstrationen, Sprechstunden der Abgeordneten im Wahlkreis. Viele Menschen erleben keinerlei gesellschaftspolitische Selbstwirksamkeit.

Alleine das politische System dafür verantwortlich zu machen und die Menschen, die dieses System aktiv gestalten, wäre verkürzt. Denn auf der anderen Seite stehen Bürgerinnen und Bürger, die ihre Gestaltungsspielräume sehr wohl sehen und wahrnehmen: 2018 sind über 13 000 Petitionen beim zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages eingegangen (vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 19/9900). Alleine in Berlin wurden 2019 mehr als 5350 Demonstrationen angemeldet (vgl. Tagesspiegel 26.12.2019). Die aktuellsten Erhebungen des Statistischen Bundesamts zur allgemeinen Bürgerbeteiligung zeigen, dass 2016 eine beziehungsweise einer von sechs Bürgerinnen und Bürgern eine Politikerin oder einen Politiker kontaktiert hat (vgl. Weßels 2018).

Was also unterscheidet die Ohnmächtigen von den Selbstwirksamen?

Man hört auf diese Frage zahlreiche Antworten. Denn das Zusammenwirken von Politik und Individuum ist hochkomplex. Wer verunsichert ist, erlebt sich möglicherweise eher als überfordert, sucht nach Orientierung und bleibt tendenziell eher passiv. Andererseits ist es wahrscheinlich, dass das Wissen über die eigenen Handlungsspielräume die Selbstwirksamkeit erhöht. Menschen brauchen Informationen über Politik und Gesellschaft, um mitzuwirken und sich ihre eigene Meinung zu bilden. Sie brauchen aber auch ein Bewusstsein dafür, dass sie als Teil des Systems elementar sind. Sie benötigen die Selbstgewissheit, dass sie relevant sind und durch aktives Handeln Dinge verändern können.

Wissen über Politik und Demokratie vermitteln in Deutschland die schulische und außerschulische politische Bildung. Ihre zentrale Aufgabe ist es, aus passiven Individuen partizipierende Bürgerinnen und Bürger zu machen.

»Ziel Politischer Bildung ist kritisches Bewusstsein, selbstständiges Urteil und politisches Engagement. Voraussetzung für demokratisches Engagement ist, dass dem Bürger die Zusammenhänge zwischen individuellem Schicksal und gesellschaftlichen Prozessen und Strukturen bewusst werden« (Drechsler, Neumann u. Hilligen 2003, »Statt eines Vorwortes«).

Die politische Bildung hat sich in den letzten Jahren stets weiterentwickelt. Sie nutzt alle ihr zur Verfügung stehenden Kanäle (Bücher, soziale Medien, Workshops, Unterrichtseinheiten etc.), um die Menschen zu erreichen. Sie ist in immer mehr Bereichen eine Querschnittsaufgabe (in der Sozialen Arbeit, in Unternehmen, in der Bundeswehr etc.) und dadurch zunehmend aufsuchend tätig. Politische Bildung versucht stets, die Betroffenheit des Einzelnen (»Was hat Politik mit mir ganz persönlich zu tun?«) zu wecken, aber ihre Methoden und Inhalte sind zielgruppenorientiert und weniger selbstreflexiv ausgerichtet. Ungestellt bleiben meist Fragen wie: »Wer bist du, welche Geschichte(n) hast du im Gepäck, und was kannst du ganz konkret in die Gesellschaft einbringen?« Dadurch bleibt Politik für viele häufig abstrakt und wird nicht Teil des persönlichen Bewusstseins.

Unserer Meinung nach ist es daher dringend nötig, Methoden der Selbsterfahrung in die politische Bildung zu integrieren. Die Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen (Familien-)Geschichte kann ein Schlüssel zur Gesellschaft sein und ins Handeln bringen. Denn: Wie soll ein Mensch ein gesellschaftliches System mittragen und mitgestalten, wenn er sich kaum zutraut, sein eigenes, ganz persönliches System zu gestalten? Wie soll ein Mensch gesamtgesellschaftliche Werte verteidigen, wenn er sich seiner eigenen wenig bewusst ist? Wie soll ein Mensch die Biografie eines anderen wertschätzen, wenn er mit seiner eigenen hadert?

Damit Menschen eher ins Handeln kommen, sollten sie sich ihrer Wünsche und Bedürfnisse bewusst sein. Wenn sie ihre Ressourcen und Stärken kennen, fällt es ihnen leichter, sich Verbündete und Gleichgesinnte zu suchen. Wenn sie wissen, auf welchem tragenden Fundament ihr Leben ruht und mit welchen Fähigkeiten sie ausgestattet sind, dann wächst das Zutrauen, etwas bewegen zu können. Mittel und Wege, sich dessen bewusst zu werden und eigenes Handeln zu initiieren, kennt die systemische ressourcenorientierte Biografiearbeit (vgl. Röhrbein 2019). Biografiearbeit ist eine sehr gute Möglichkeit, die Dinge zu sortieren und die eigene Position zu festigen. Sie kann dabei helfen, die eigenen Ressourcen zu erkennen und zu klären, wie sie genutzt werden können, um das künftige Leben gut zu gestalten. Hilfreiche Fragen können dabei lauten: »Was macht mich aus?«, »Welches sind meine Stärken?«, »Was will ich erreichen?« und »Wen habe ich (dabei) an meiner Seite?«

Um allerdings ins gesellschaftliche Handeln zu kommen, müssen Menschen womöglich noch einen Schritt weiter gehen: Sie sollten ihre Werte kennen, im besten Fall verstehen, wodurch diese Werte geprägt sind. Sie sollten eine Idee davon haben, in welcher Gesellschaft sie eigentlich leben möchten und die Instrumente überblicken, die sie nutzen können, um Gesellschaft mitzugestalten. Hier zeigt sich, dass die politische Bildung (Wissenserweiterung) und die systemische Biografiearbeit (sich seiner selbst bewusst zu sein) eine geniale, weil aktivierende Verbindung eingehen können.

Politische Bildung und systemische Biografiearbeit haben im Grundsatz vieles gemeinsam: Sie wollen den Menschen dabei unterstützen, sein eigenes Leben und Umfeld im eigenen Sinne zu gestalten.

Sie lenken den Blick auf Wechselwirkungen und Gesamtzusammenhänge. Sie arbeiten ressourcenorientiert und im besten Sinne des Wortes allparteilich (auf dem Boden des Grundgesetzes). Die Biografiearbeit kann darüber hinaus als Teil der politischen Bildung eine Leerstelle füllen: nämlich das Bewusstsein dafür schärfen, sich selbst als politisches Wesen innerhalb der Gesellschaft wahrzunehmen. Im Zusammenspiel der Disziplinen werden Menschen dazu eingeladen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und aktiv ins Geschehen einzugreifen, weil sie sich der eigenen Wurzeln, Werte und Stärken bewusster werden.

Vom Träumen und Aufwachen

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