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1.3.3 Beantwortung neuer Fragestellungen

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Andere Historiker heben dagegen gerade die jeweils neue Erarbeitung des Vergangenen für die je aktuelle Gegenwart als wichtigste Aufgabe der Geschichtswissenschaft hervor. Zwar steht das Vergangene selbst nicht mehr zur Disposition, doch einerseits können sich die Methoden zum Verständnis der Quellen verbessern und mithin bessere Ergebnisse liefern, zum anderen ändert sich stetig das Interesse an dem Vergangenem (→Kap.3.1.4). Aus dem langen Kontinuum der Ereignisse, der Geschichte im landläufigen Verständnis, wird stets etwas anderes sichtbar gemacht. Das erwachte Interesse an einer Geschichte der Geschlechter, des Kontaktes und Zusammenlebens verschiedener Kulturen oder auch an einer Geschichte des Zusammenspiels von Mensch und Natur/Umwelt geben illustrative Einblicke in derartige Prozesse. Intensivere Sensibilisierungen für Aspekte der Kommunikation haben Formen der Repräsentation und Propaganda, ebenso die Bedeutung des symbolischen Handelns ins Zentrum der historischen Forschungen gestellt. Gedenkstättendiskussionen einerseits und die Ergebnisse der Hirnforschung andererseits führen derzeit zu einer Neubewertung dessen, was ,Gedächtnis‘ überhaupt ist – und betreffen damit grundlegend die Frage, was ,Geschichte‘ sein kann.

„So lange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte.“ (Martin Walser, Ein springender Brunnen)

Der Zugang zur Vergangenheit erfolgt also von der Gegenwart aus und ist auch nur so möglich. Geschichte ist „die im Bewusstsein der Gegenwart verarbeitete Vergangenheit“ (Hans-Werner GoetzGoetz, Hans-Werner). Noch drastischer formulierte es Benedetto CroceCroce, Benedetto (1866–1952): „Alle Geschichte ist Zeitgeschichte.“ Dabei ist die Befangenheit in den Fragestellungen und Denkweisen ihrer Zeit für die Historiker keineswegs nur eine unerfreuliche Last, von der sie sich zur Objektivierung ihrer Tätigkeit möglichst zu befreien trachten sollten, sondern sie ist, im positiven Sinne, ebenso Teil und Grundlage der ihnen auferlegten Pflicht, den Wissens-, Kenntnis- und Orientierungsbedarf ihrer Zeit zu erfüllen.

Info: Der „Fall“ Roms

In seinem Buch „Der Fall Roms. Die Auflösung des Römischen Reiches im Urteil der Nachwelt“ von 1984 hat der Althistoriker Alexander Demandt nicht den Untergang des Römischen Reiches, sondern die bislang dazu vorgetragenen Deutungen zum Thema gemacht. Rund 400 verschiedene Erklärungen konnten von ihm zusammengestellt werden: Frauenemanzipation oder fehlende Männerwürde, Askese oder Genusssucht, Führungsschwäche oder Totalitarismus, die vorhandenen Besitzunterschiede oder die soziale Egalisierung, Polytheismus oder ChristentumChristentum, Faulheit oder Stress, Duckmäuserei oder Hybris, Überfremdung, Überzivilisation oder Unterentwicklung, Frühreife, Rentnergesinnung und Gicht, das Badewesen und der Regenmangel, die Korruption, Dezentralisation, Prostitution und Bodenerosion, der Ruin des Mittelstandes und die Traurigkeit, die Degeneration des Intellekts, die Freiheit im Übermaß, die Selbstgefälligkeit, Impotenz oder auch nur die unnützen Esser – die vorgebrachten Gründe für den „Fall Roms“ scheinen unermesslich zu sein und haben sowohl ihn als auch die seit anderthalb Jahrtausenden fortdauernde Suche nach seinen Ursachen selbst zum Fall werden lassen. Und wer angesichts der unterschiedlichsten Antworten in ‚Resignation‘ verfällt oder ‚Nichternst‘ vermutet, wird feststellen müssen, dass Vorgängern und Zeitgenossen in gleicher Seelenlage eben dieses zum Kern ihrer Beschäftigung mit dem Fall Roms geriet. Durch diese Erkenntnis ist der Leser aber auch schon einem zentralen Anliegen des Buchs von Alexander Demandt nähergekommen.

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