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Kapitel 10 Zuhause

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Jana saß in ihrem Zimmer und fuhr den PC hoch. Vor wenigen Minuten hatte sie ihren Eltern bedeutet, sie wolle ein wenig ruhen. Hier in ihrer heimischen Höhle fühlte sie sich sofort wieder wohl. Sie strich mit den Fingerspitzen über die Gegenstände und konnte kaum fassen, was sie, während ihres Komas erlebt hatte.

Am liebsten hätte sie etwas gesagt. Aber da war ihr Versprechen. Sie musste schweigen, bis das ›Spiel‹ zu Ende war. Jana durfte einen Menschen aussuchen und nur mit diesem konnte sie sich zukünftig unterhalten. Das sollte ihr Opa sein, hatte sie beschlossen.

Sie klickte mit dem Mauszeiger auf Google und gab Marco Ruisten ein.

Freundlicherweise sagte ihr die Kriminalbeamtin die Namen der am Anschlag beteiligten Personen. Bis dahin kannte sie lediglich die Vornamen. Sie wusste, damals in ihrer Geschichte, nicht, dass die Nachnamen vielleicht einmal wichtig wurden, und fragte nicht danach. Ihr blieb fast das Herz stehen, als Claudia Plum die Opfer des Anschlages aufzählte. Ihre Erlebnisse standen also in konkretem Zusammenhang mit der Wirklichkeit. Das war schon einmal sicher, wenn auch kaum zu glauben. Stefan, Vivian, Lukas und Marco waren reale Personen. Jana starrte blicklos und gedankenverloren auf den Monitor und versuchte, die Puzzlestücke zu ordnen. Nur langsam fokussierte der Blick wieder.

Ungefähr siebenhundertfünfzig Tausend Einträge warf die Suchmaschine aus. Auf den ersten Seiten keine Ergebnisse, die sie erwartete. Geduldig klickte sie Seite um Seite weiter. Nichts. Sie musste die Suche erweitern. Marco sprach von einem Autounfall. Als tippte sie ›Ruisten Autounfall‹ in die Begriffsspalte zur Suche. Wieder nichts.

Aber … sie schlug die Hand vor den Kopf. Wie konnte sie so blöd sein? Schnell tippte sie eine neue Suchanfrage: Ruisten, 13. Oktober 2011. Und tatsächlich. Der Hinweis auf einen Zeitungsbericht der Aachener Zeitung vom darauffolgenden Tag. Gegen sechzehn wurden drei Personen getötet und zwei schwer verletzt. Sie sah zum ersten Male ein Foto des Unglücks und war entsetzt, welche Verwüstung die Explosion angerichtet hatte. Ein Wunder, dass nicht mehr geschehen war. Der Artikel war halbseitig und zeigte einen tiefen Krater mit Kreidestrichen auf dem umgebenden Pflasterboden des Marktplatzes. Sie googelte weiter und bekam nach und nach einen Überblick zu dem Geschehen.

Als das Koma andauerte, wurde er auf Wunsch seiner Eltern verlegt. Wohin? Darüber fand sie kein Wort. Nur so viel, dass Marco Niederländer war. In der Zwischenwelt, vielleicht waren es auch nur Träume, hatte er keinen Akzent.

Jana ruckelte auf ihren Drehstuhl, der Körper schmerzte, und überlegte. Holland, das war eine Spur. Zu blöd, dass Marco gerade zu den wichtigen Informationen gelogen hatte. Was erzählte der Blödmann von einem Autounfall? Vielleicht war es auch nur ein Filmriss. Jetzt musste sie selbst an die Informationen gelangen. Die Gelegenheit, ihn zu fragen, war dahin. Möglicherweise spielten die Götter ihres Traumes ein böses Spiel. Sie sah auf den Kalender und rechnete, wie viel Zeit ihr noch blieb. Heute war der 29. November 2013. Also noch fünfundzwanzig Tage bis zum Heiligen Abend.

Weshalb gerade der Heilige Abend? Das hatte bestimmt eine Bewandtnis. Aber welche? Ihre Erlebnisse in der Zwischenwelt deuteten auch nicht, auf gerade diesen christlichen Feiertag. Sie war dort in einer Zeit der Götter, lange bevor es Christen gab.

Was hatte Marco, vielleicht unbewusst, noch mitgeteilt? Möglicherweise sah sie es nicht. War er eine besondere Person und für die Zwischenwelt aus irgendeinem Grund, wichtig? Die Informationen, die sie hatte, deuteten nicht auf ihn. Demnach war er mehr oder weniger ein Zufallsprodukt um die Ereignisse, in deren Mittelpunkt sie stand.

Jana stand ratlos auf und sah zum Fenster hinaus auf den Saum der Heide. Die Bäume reckten, wie mahnende Finger, die entlaubten Äste gen Himmel. Sie kannte dort jeden Weg und Steg, jede Mulde und jedes Fließsandloch. Dort gab es heilige Plätze, wo schon Kelten, weit in der Vergangenheit zurück, lagerten. Der Großvater zeigte ihr, als sie noch ein Kind war, den Buchenhain, in dem Kendric der Druide seine Schule hatte und den jungen Leuten die Lebensart und Religion seines Volks beibrachte, die nichts mit Gott oder Göttern zu tun hatte. Sie wurden eins mit der Natur. Opa führte sie zum Hünengrab des keltischen Druiden und vielen anderen Plätzen, die Zeugnis ablegten, dass es einmal eine Zeit gab, in der die Menschen die Natur ehrten. Dieses Wissen gab ihr die Stärke, die sie benötigte, in dem unsäglichen ›Spiel‹, zu bestehen.

Die Dunkelheit war hereingebrochen, ohne dass sie es bemerkte. Wie lange stand sie schon hier? Ein Auto fuhr vorbei und die Scheinwerfer schnitten durch die Finsternis. Hunderte Augen leuchteten, auf dem Flurstück zwischen Garten und Waldsaum, wie Sterne zum Fenster empor. Die Tiere des Waldes und des Feldes hatten sich versammelt und beobachteten sie. Sie mahnten das Versprechen an, dass sie, während ihres Komas gegeben hatte. Eine Bewegung ließ sie den Blick senken.

Auf der Fensterbank draußen, im herausfallenden Licht der Zimmerbeleuchtung, kauerte ein Tier. Der lang gestreckte, schlanke und geschmeidige Körperbau ließ sie sofort an ein Wiesel oder Marder denken. Das Fell war entlang des Rückgrats schwarz und wurde zum Bauch hin braun. Kalte Augen starrten, ohne Wimpernschlag, zu ihr hinein. Die kleinen Ohren waren ihr zugerichtet und aus der kurzen Schnauze funkelten spitze perlweiße Zähne.

Jana öffnete bedenkenlos das Fenster und streckte die Hand nach dem Tier aus, das schnüffelnd ihren Geruch einsog. Ein Steinmarder dachte sie und musste kichern. Wenn ihr Vater wüsste, dass sie gerade vielleicht mit dem Tier Freundschaft schloss, das regelmäßig seine Zündkabel am Auto zerstörte, würde er ganz schön fluchen. Der Nachtjäger nahm ihre Witterung auf und verschwand, einen hohen Schrei ausstoßend, in der Dunkelheit.

Fröstelnd schloss sie das Fenster und wusste, dass die Tiere in ihre Reviere zurückkehrten. Jede Kreatur kannte ihre Duftmarke, die der Marder dem Kollektiv übermittelt hatte.

*

Claudia Plum ging das Mädchen nicht aus dem Kopf. Was mochte sie damit gemeint haben: ›Das ist kein Zufall?‹ Wieder lief das Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern zum Nacken hoch und ließ sie leicht frösteln.

Als sie die Namen der Beteiligten nannte, erschrak die junge Frau zu Tode. Die erschrockenen Augen standen klar in Claudias Gedanken und auch das das Verstehen, das von ganz hinten in den Vordergrund rückte, bevor Jana die Augen niederschlug. Bisher ging jeder davon aus, dass die Personen untereinander nicht bekannt waren und zufällig Opfer des Anschlages wurden.

Eine politische Motivation des Anschlages wurde damals ausgeschlossen. Aber was bedeutete das, wenn sie an den ehemaligen Innenminister Schily dachte, der bei den NSU-Anschlägen auch den politischen Hintergrund ausgeschlossen hatte.

Trieb sie wieder auf Dimensionen zu, mit denen sie nichts mehr zu tun haben wollte? Die Fallakten gaben nicht viel her. Vielmehr … überhaupt nichts. Keine Angaben zum verwendeten Sprengstoff, keine Ermittlungsberichte und ebenso wenig Befragungsprotokolle. Was für eine schludrige Arbeit, oder steckte mehr dahinter? Nicht ungewöhnlich, wenn sie an die damaligen Zustände im Polizeipräsidium dachte. Wie konnte sie an Informationen kommen?

Sie sah auf die Uhr, unten rechts auf dem Bildschirm. Siebzehn Uhr fünfundvierzig. Die Zeit war wieder einmal geflogen. Maria und Heinz zu unterrichten, war jetzt zu spät. Aber weshalb gab es Computer? Sie rief die Maske für den Berichtsbogen auf und gab dem Fall eine neue Nummer, die vor den alten Vorgang gesetzt wurde. Dadurch wurde eine automatische Vernetzung geschaffen und wenn es irgendetwas im System zu dem Attentat gab, würde es verknüpft und ihrem heutigen Bericht hinzugefügt. Sie begann das Protokoll von dem Augenblick an, als Staatsanwalt Dengler ihr den Auftrag zur Befragung von Jana Winter erteilte. In ihrem Team wurden täglich, meist sogar häufiger die aktuellen Stände der jeweiligen Fälle, die sie bearbeiteten, aktualisiert. Das war überlebenswichtig für die Daseinsberechtigung ihres Teams, das aus Individualisten bestand. Außenstehende fragten sich immer wieder, wie diese Truppe die härtesten Fälle knackte, obwohl jeder scheinbar für sich alleine arbeitete. Egal wo und egal wann, die Informationen liefen beständig zusammen. Der Informationsstand war jeweils aktuell und identisch.

Heinz Bauer, Maria Römer und sie waren misstrauisch, wie alte Ziegen und sammelten die Tagesergebnisse auf einem Server. Maria hatte ihn eingerichtet. Sie filterte jeweils, was an die Staatsanwaltschaft ging und darüber auch an die weiteren Vorgesetzten. Bisher war ihnen niemand auf die Spur gekommen und es war auch gut so. Vor allem Marias unglaubliche Fähigkeiten, sich in andere Netze zu hacken, mussten nicht jedem bekannt werden.

Dem Staatsanwalt hatte sie von ihren Ahnungen nicht berichtet. Er war auch so schon weniger begeistert, als ihm aufging, dass die Befragung von Jana Winter unter Umständen nichts brachte. Die Berichte an ihn würde von nun an Maria gestalten.

Claudia mochte die Zeit, kurz nach Feierabend, wenn das Präsidium bis auf die Bereitschaft leer war. Häufig saß sie einfach da und rekapitulierte den Tag. Immer wieder mischten sich Gedanken an Kurt hinein, die sie häufig schmunzeln ließen. Dann kam der Zeitpunkt, wo die Arbeit immer weiter in den Hintergrund rückte und es Zeit wurde, nach Hause zu fahren.

Doch heute war es anders. Der Funke des Erkennens in Janas Augen, als sie die Namen der anderen Beteiligten nannte, machte sie unruhig. Sollte sie sich wieder in die Komplikationen hinein reiten, die sie verfolgten? Nein, das würde sie zu verhindern wissen.

Unbewusst wanderten Claudias Gedanken zu dem anderen Fall, den sie bearbeiteten. Die Drogensache. Auch wieder so eine Geschichte, die, mangels aktueller Ereignisse, von ihrer Mordkommission übernommen wurde. Doch sie wusste, dass die Ermittlungen bei ihnen in den richtigen Händen lagen. Die gedankenlosen Drogenopfer waren faktisch tot. Sie kamen aus allen Gesellschaftsschichten und niemand von ihnen stand unmittelbar mit der Drogenszene in Verbindung.

Das Ärzteteam der Melatener Klinik stand in Kontakt zu einem niederländischen Institut, das auf Gehirnerkrankungen spezialisiert war und im grenznahen Bereich eine Niederlassung unterhielt. In den nächsten Tagen sollten die Drogenkranken untersucht werden, in der Hoffnung, einen Weg zu finden, der ihr Leben wieder lebenswert machte. Claudia verstand die vielen medizinischen Fachbegriffe nicht. Ein Mitarbeiter des medizinischen Teams erklärte ihr, anhand eines Gehirnmodells, dass die Niederländer einen Mikrochip in einen Gehirnlappen transplantieren wollten, in dem sie das Langzeitgedächtnis vermuteten. Möglicherweise befanden sich dort Erinnerungen, die durch Impulse reaktiviert werden konnten. Die niederländischen Spezialisten behandelten bisher Unfallopfer, deren Gehirn durch äußere Einwirkung geschädigt war. Bei den zukünftigen Patienten begaben sie sich auf ein völlig neues Gebiet. Claudia glaubte fest an den Erfolg, weil die Geschädigten ansonsten willenlose menschliche Hüllen blieben.

Ihre Gedanken kehrten wieder zu Jana zurück. Seltsam, wie das Schicksal der jungen Frau dem der Drogenopfer glich und doch wieder ganz anders war. Hier die komatöse Patientin, deren Gehirnströme nicht messbar waren und dort die seelenlosen jungen Menschen, deren Erinnerungen gelöscht waren.

Beide Fälle erhielten das volle Medieninteresse, wobei es bei den Drogenopfern schon wieder nachließ. Im Grunde waren sie Randnotizen in der Nachrichtenlandschaft. Lediglich die große Anzahl, in einer relativ kurzen Zeit, rief die Schlagzeilenmacher auf den Plan. Bei Jana war das anders: Ein sechzehnjähriges Mädchen erwacht als Achtzehnjährige aus dem Koma. Die Gerüchte über ihre angeblichen Erlebnisse im Reich der Toten heizten die Stimmung an. Dabei waren die Nachrichten mehr als spekulativ, weil offiziell niemand Stellung nahm und Jana abgeschirmt wurde. Die Arbeit wurde dadurch nicht leichter.

*

Dem Jenseits entkommen

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