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Kapitel 12 Zwischenwelt (In den Bergen)

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Jana und Marco standen am Fuße der Bergwand.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte Marco ungläubig.

»Ich habe gar nichts gemacht«, flüsterte Jana entsetzt. »Ich habe lediglich an die Berge gedacht. Ich weiß auch nicht, was geschieht.« Sie bekam es mit der Angst zu tun. Die Zwischenwelt war ein relativ sicheres Terrain und sie wusste mittlerweile, was sie dort erwartete. Aber hier? Sie stand wahrhaftig vor dieser Steilwand. Was hatte Opa gesagt? In deinen Träumen kann dir nichts geschehen, mögen sie auch noch so realistisch sein. Aber galt das auch, wenn ihr Körper an Maschinen angeschlossen war und Teile von ihr sich in der Zwischenwelt befanden? Nun ja. Sie konnte nichts ändern. »Da müssen wir durch, Marco.« Ihr hübsches Mädchengesicht verzog sich zu einem missglückten Lächeln. »Ich sehe mich mal um. Pass auf, ich lasse deine Hand los.« Ihre heimliche Angst trat nicht ein. Sie standen in einem Kessel und waren rundum eingeschlossen. Marco war also nicht verschwunden. Ungefähr fünfzig Meter betrug der Durchmesser, stellte Jana fest, nachdem sie einige Schritte von dem Jungen weggetreten war. Das Mädchen drehte sich um die eigene Achse. »Was siehst du, Marco?« Sie beobachtete ihn aus einigen Metern Entfernung.

Marco stand hilflos mit hängenden Armen und nackten Füßen im Gras, das einen dichten Teppich bildete und aus dem hier und da ein Blümchen seine Blüten zum Himmel reckte.

Himmel?

Sie erschrak. Tatsächlich das blaue Loch über ihnen, besaß die dunklere natürliche Farbe, die ihr aus dem wirklichen Leben bekannt war.

»Ich sehe ein scheißkaltes Loch. Mir ist kalt«, stellte Marco mürrisch klar. Tatsächlich zitterte er am ganzen Körper. Er war unglaublich dünn.

Kein Gramm Fett und schlaffe Muskeln, wie sie feststellte. Die arme Sau musste ja frieren. Jetzt spürte Jana es auch. Die Kälte zog zwischen ihren Schulterblättern, wie ein kriechendes Tier, von den nassen Füßen hoch. Sie beugte sich hinunter und fühlte mit den Händen, was sie schon wusste. Das Gras war real und nass. »Ja. Ich weiß«, antwortete sie. »Reiß dich zusammen. Weshalb haben wir das Theater veranstaltet? Deinetwegen.«

»Es fühlt sich an, wie die reale Welt. Kalt, nass und eklig. Ich will zurück und meine Ruhe wieder haben.« Er wurde quengelig und brachte es deutlich zum Ausdruck. »Du hast die Zwischenwelt durcheinandergebracht. Mit dir musste ich denken, und ob ich wollte oder nicht, Zeit kam zurück. Ich will keine Zeit. Ich will meine Ruhe.«

»Du bist blöd, Marco und stellst dich an, wie ein kleines Kind.« Sie kümmerte sein Ausfall nicht und sie war zu jung, um ihn auf sich zu beziehen. »Ich möchte lediglich wissen, was du siehst. Grau in grau oder Farben?«

»Das Gras ist grün. Dort die weiß blühende Blume ist Bärwurz; die rote ist, glaube ich zumindest, eine Kuckuckslichtnelke; die Namen der anderen fallen mir im Moment nicht ein. Der Fels sieht halt aus, wie Fels aussieht. Eben grauer Stein, der in abweichenden Schattierungen, von Linien durchzogen ist, die in den unterschiedlichen Entstehungsstadien, entstanden sind.« Er hielt verblüfft inne. »Wir sind tatsächlich in der realen Welt. Wie hast du das angestellt? Wer bist du?« Seine Bedrückung verschwand.

»Ich bin genauso erstaunt, wie du und wollte dir lediglich ein wenig Farbe in dein Dasein geben, von Leben können wir nicht reden. Du hast eine erstaunliche Beobachtungsgabe und kennst sogar die Namen der Pflanzen, von denen ich nie gehört habe. Was meinst du, sollen wir jetzt tun?«

»Du hast uns in diese Situation gebracht.« Er warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Hab ich das? Jetzt sind wir hier und müssen überlegen, was wir tun.« Sie war fest entschlossen, nicht alleine die Verantwortung zu übernehmen. Was bildete der sich ein.

»Ich habe absolut keine Ahnung.« Er ließ sich ins nasse Gras nieder und verzog angeekelt das Gesicht, als die Feuchtigkeit durch die Kleidung drang. Er lebte schon zu lange isoliert in der Zwischenwelt, als dass er seine jetzige Situation akzeptieren konnte. Marco war in der realen Welt. Er konnte jedoch nicht akzeptieren, dass er lebte. Er war noch nicht angekommen.

»Mensch Junge. Du bist ein richtiger Penner.« Jana fuhr ihn wütend an. »Wenn wir nichts tun, sterben wir an Unterkühlung, verhungern oder verdursten.«

Marco sah verwirrt hoch. »Du verstehst nicht, Jana. Wir sind schon tot … zumindest fast. Was erwartest du? Wir benötigen keine Nahrung. Damit du es auch verstehst, noch einmal ganz langsam: W i r s i n d n a c h d e m T o d. Diese reale Welt ist eine Fata Morgana. Hast du das verstanden?«

»Fühlt sich das nach dem Tod an? Außerdem sind wir immer noch vor dem Tod, wenn ich dir und den anderen glauben darf«, sie machte eine allumfassende Bewegung. »Jetzt schwing die Hufe, wir müssen hier heraus.« Sie beobachtete die Felswand, um eine Möglichkeit zu finden, dort hinaufzuklettern.

»Du kannst mich mal.« Marco drehte ihr bockig den Rücken zu. »Mach, was du willst. Ich warte hier, bis ich wieder in der Zwischenwelt bin.«

Jana hob in Verzweiflung die Schultern. Was sollte sie machen? Sie war sich nicht mehr sicher, ob ihnen nicht doch etwas geschehen konnte. Traum hin, Traum her. Das hier war ziemlich realistisch. Sie fuhr herum. Steine polterten über den Boden. In etwa fünfzig Meter Höhe stand ein Steinbock und beäugte sie. Hinter ihm standen drei Geißen. Das graubraune Fell glänzte in einem Sonnenstrahl, der über die Kante des Trichters, genau auf diese Stelle fiel. »Sieh mal. Sieht das, wie nach dem Tod aus«, rief sie.

Marco erhob sich schwerfällig aus seiner sitzenden Stellung und sah in die Richtung, in die Jana deutete. Über ihnen stand das pralle Leben. Graziös, fast schwerelos setzte das mächtige Tier zur Bewegung an und sprang elegant die fast steile Felswand hinunter. Die Geißen folgten ihm. Innerhalb weniger Augenblicke erreichten die Tiere den Grund. Während die Geißen am Fuß der Wand verhielten, kam der Bock zielstrebig, hoch erhobenen Hauptes auf sie zu. Er wog bestimmt hundert Kilo. Die Geißen ungefähr die Hälfte. Sie waren viel zierlicher. Marco ergriff die Flucht und presste seinen Körper gegen die Felswand. So viel zu ›Wir sind nach dem Tod‹, dachte sie. Jetzt hatte er die Hosen voll.

Jana stand ruhig und wartete. Langsam hob das stolze Tier, mit geblähten Nüstern, den Kopf und nahm ihre Witterung auf. Der Steinbock senkte sein Haupt, mit den mächtigen gebogenen Hörnern, und bot ihr die Stirn dar.

Jana kraulte das stolze Tier und schlang die Arme um seinen Hals. »Steini«, flüsterte sie mit feuchten Augen. »Dass es dich tatsächlich gibt.« Opa hatte den Steinbock so plastisch beschrieben, dass er tatsächlich genauso aussah, wie in ihrer Vorstellung. Sie fasst seinen braunen Ziegenbart und zog daran, wie sie es früher in ihren Träumen getan hatte. Jana fuhr über sein bestimmt ein Meter langes Gehörn und ertastete die Lücke, der fehlenden Zacke, die er im Kampf mit einem Berglöwen verloren hatte. Sie musste lächeln. Im Traum war alles so einfach. Dies war ein Alpen-Steinbock und hier gab es keine Berglöwen. »Weshalb bist du hier? Willst du uns helfen?« Steini scharrte mit den Hufen und bewegte sich auf die Steilwand zu. Sie sollte ihm folgen.

Marco beobachtete die Szene mit offenem Mund und näherte sich vorsichtig. Der Steinbock wich schnaubend zurück.

»Warte«, sagte Jana ruhig, ohne den Kopf zu heben. »Er will mir etwas sagen.« Sie ging zu Steini und kraulte ihn zwischen den Hörnern. »Was ist los alter Junge?«, fragte sie mit einschmeichelnder Stimme.

Steini scharte wieder mit den Hufen. Das Geräusch ließ Jana genauer nach unten sehen. Es platschte mehr, als dass ein Kratzen zu hören war. Sie stand bis zu den Fußknöcheln in Wasser. Erschrocken kreisten ihre Augen durch das kleine Tal. Die Kesselwand wurde nass. Überall tropfte Wasser heraus. Es mochte ungefähr hundert Meter sein, bis oben, vielleicht auch mehr. Ein trockener Streifen am oberen Rand zeigte, wie hoch das Wasser stieg. Von hier unten sah er wie ein Strich aus.

»Wir müssen hier heraus. Der Kessel läuft voll Wasser.« Sie lief zu Marco und zerrte an seinem Arm. Er widersetzte sich heftig.

»Wir sind doch schon tot. Wir können nicht ertrinken.«

»Willst du es darauf ankommen lassen?« Sie fragte mit bitterer Miene. »Ich nicht.« Sie drehte ihm beleidigt den Rücken zu. »Zeig mir bitte den Weg nach oben«, bat sie Steini.

Die Geißen waren schon ein gutes Stück geklettert. Der Steinbock sprang auf den ersten kaum sichtbaren Absatz, den Jana unter keinen Umständen allein erreichen konnte. »Verdammt Marco. Hilf mir wenigstens, dort hochzukommen.«

Lustlos kam der Junge angeschlendert und hatte demonstrativ die Hände in die Taschen seiner Jeans gesteckt. »Du glaubst doch nicht, dass der blöde Ziegenbock uns einen Weg aus diesem Loch zeigt.«

»Bitte Marco«, sagte sie mit der demütigsten Stimme, die sie aufbringen konnte. Auch der Junge war ein Mann und sprang darauf an. Er lehnte den Rücken gegen die Wand und machte eine Räuberleiter. Das Wasser reichte schon bis zu den Knien. Die Beine starben ab, so kalt war es. »Halt«, stoppte sie ihn. »Du musst zuerst. Ich kann dich nicht hochziehen.« Er machte Jana Platz, trat in ihre verschränkten Hände und ertastete mit den Fingerspitzen einen kleinen Riss. Geschickt zog er seinen Körper hoch. Er reichte ihr umgehend die Hand und zerrte sie mit erstaunlicher Kraft auf den Absatz, auf dem sie kaum Platz fanden. Steini sah den beiden, einige Meter über ihnen, zu und schnaubte auffordernd. Zug um Zug machten Jana und Marco in die Höhe, um nach unendlich langer Zeit, schwer atmend auf einem größeren Absatz, eine Pause einzulegen. Das Wasser stieg und war nur weniger als einen halben Meter unter ihnen. Sie waren klatschnass. Der Fels schwitzte Wasser aus. Während des Aufstiegs tropfte das Nass unermüdlich auf sie herunter.

»Wir müssen weiter.« Marco riss sie aus der kurzzeitigen Lethargie und zeigte auf den steigenden See. »Das ist Loch Näss.« Er grinste erfreut über seinen Einfall. »Da vorn wird es schwieriger.« Er deutete auf die Wand, in der tatsächlich kein Haltepunkt sichtbar war. »Wir müssen den Vorsprung vor dem Wasser halten.« Bisher war der Aufstieg gut verlaufen. Die Wand stieg nicht so senkrecht in die Höhe, wie es zunächst den Anschein hatte. Bis zur Kante mussten sie noch mindestens dreißig Meter klettern. Die Tiefe war nicht mehr zu schätzen, weil das Wasser im Weg war.

Marco zog Jana zum nächsten Absatz, wo sie die Stelle erreichten, die er angezeigt hatte. Der nächste Punkt, den sie greifen konnten, lag außerhalb der Reichweite ihrer Arme.

»Hier ist Ende. Wir kommen nicht weiter.« Marcos Brustkorb pumpte, aufgrund der ungewohnten Anstrengung, wie ein Blasebalg.

»Zur Not müssen wir uns vom Wasser nach oben treiben lassen«, meinte Jana.

»Zu kalt. Binnen weniger Minuten sind wir erfroren. Wir sind jetzt schon steif vom Tröpfelwasser. Uns bleibt keine Zeit, wir müssen einen anderen Weg finden. Was sagt deine blöde Ziege?« Er zeigte auf Steini, der aufgeregt am Rand des Kessels auf und ab lief.

»Das ist ein Steinbock und keine Ziege«, stellte sie erbost klar. »Er hat uns den Weg hier herüber gezeigt. Also muss es weiter gehen.« Sie drehte, mit kurzen Fußbewegungen, auf dem schmalen Absatz und untersuchte die andere Seite. »Dort müssen wir hinunter und dort hinten geht es wieder hoch.« Sie zeigte auf zwei treppenartige Einkerbungen.

Marco war schon auf dem Weg und reichte ihr die Hand. Sie gelangten an einen Kamin, mehr einem Einschnitt, der zur Kesselmitte offen war. Eine Person konnte sich mit dem Rücken und den Füßen nach oben pressen.

»Du zuerst.« Marco drückte sie in den Spalt.

Jana baute mit den Füßen Druck in Schultern auf und zog ihren Po nach. Zentimeter um Zentimeter stieg sie nach oben, bis sie die Hufe Steinis vor Augen hatte. Sie erschrak so sehr, dass sie abrutschte.

»Pass auf«, rief er. »Du haust mich auch runter, wenn du nicht aufpasst.«

»Schon gut«, sagte sie. »Gib mir deine Hand. Wir sind oben.«

Erschöpft brachen sie am Rande des kleinen Sees zusammen.

»Ich habe kalt. Ich habe Hunger. Ich habe Durst.« Marco setzte sich abrupt auf. »Habe ich das gesagt?«, fragte er. »Tatsächlich. Ich habe so lange keine Bedürfnisse gehabt. In der Zwischenwelt brauchte ich das alles nicht. Was ich noch vergessen habe: Ich habe mordsmäßige Angst«, sagte er trocken.

»Mir geht es genauso«, meinte Jana und betrachtete ihre geschundenen Füße und Hände. Sie stand mit schmerzenden Knochen auf und sah sich um. Sie standen auf einem Hügel, von dem sie in ein Hochtal sahen. Aufgereiht, wie die chinesischen Steinkrieger, standen ebensolche Kegel, wie der, auf dem sie verweilten.

Ob diese Landschaft echt war? Jana bezweifelte es. Alles gerade ausgerichtet, wie aus einem Architekturbüro. Sie erinnerte sich an den Bericht aus den ersten Tagen, wo ihre Leidensgenossen von Hades und Zeus, den Göttern halt, erzählten. Spielten ihnen diese blöden Gottheiten einen Streich? Jana wollte es nicht glauben und schüttelte verzweifelt den Kopf. Tage und Nächte gab es in der Zwischenwelt nicht. Obwohl sie infrage stellte, dass es diese Etage vor dem Tod gab, zweifelte sie hier auf dieser Hochebene.

Auf dem Boden des Kessels, oder der unendlich vielen Kessel, wenn sie sich umsah, fiel eine Entscheidung. Unter der Wiese auf dem Grund befand sich wahrscheinlich die Hölle. All jene, die es nicht schafften, wurden heruntergezogen. Also einfach Loch auf und mit dem Wasser weg für immer.

Du bist bekloppt Mädchen, schalt sie sich. Die Götter und Gott waren ein Hilfsmittel der Menschen, um ihre Existenz und vor allem die Beendigung derselben, zu verstehen. Dennoch hatten Marco und sie eine Prüfung bestanden, wie immer diese auch ausgesehen haben mochte. Jana drückte die unnötigen Gedanken in den Hintergrund. Sie mussten weiter. Es war kalt und sie hatten Hunger. Die Sonne, die sie noch nicht gesehen hatten, ging unter. Die kleinen Wolken am Himmel badeten in Licht.

»Los Marco. Wir müssen weiter.« Sie stupste ihren Gefährten leicht mit dem Fuß an.

»Gut«, sagte er matt, erhob sich stöhnend und dehnte seine Muskeln und Sehnen. »Verdammt noch mal, mir tut alles weh.«

»Mir auch. Wir müssen trotzdem weiter.« Arme Sau, dachte sie, als ihr wieder einmal sein ausgemergelter Körper auffiel. An sich dachte sie im Moment nicht. Dabei sah sie nicht besser aus.

»Welche Richtung nehmen wir?«

»Gute Frage«, stellte Jana fest und krauste angestrengt die Stirn. Ein Punkt am Himmel erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie zeigte mit dem Finger nach oben. »Dort Marco. Schau mal.«

»Ein Vogel«, stellte er fest. »Wie lange habe ich keinen Vogel mehr gesehen?« Er schüttelte verwundert den Kopf. Sein Gesicht hob sich hager vom noch beleuchteten Himmel ab. Er sah sehr krank aus. Seine tief liegenden braunen Augen waren ohne Glanz.

Tatsächlich stellte Jana für sich fest. Die Augen besaßen Farbe. Sollten die merkwürdigen Kegel doch eine Laune der Natur sein? Sie wusste es nicht. Was machte sie mit diesem Jungen hier? Er war ein Kind, sechzehn Jahre. Trotz der bescheidenen Situation lächelte sie. Sie war genauso alt. Welcher Teufel hatte sie geritten? Sie wollte lediglich Farbe in sein Leben bringen. Hatte das Schicksal zugeschlagen und ihr eine Aufgabe zugewiesen? Das Mädchen schüttelte unwillig den Kopf und damit die leidigen Gedanken ab.

Der Vogel flog näher und wurde größer und größer. Sie konnte den goldgelben Nacken und den großen grauen Raubvogelschnabel erkennen. Er schlug leicht die Schwingen und segelte schwerelos heran. Seine Spannweite betrug über zwei Meter. Ein weibliches Tier, wie sie wusste.

»Lena«, rief Jana den Steinadler und streckte den Arm aus. Der Vogel bremste elegant seinen Flug und streckte die krallenbeschwerten Klauen zu ihrem Arm. »Wooh«, stöhnte Jana und ging in die Knie. Sieben Kilo waren zu viel für sie. Der Adler hüpfte auf den Boden. Während Opa seine Geschichten erzählte, bewältigte sie das Gewicht mit Leichtigkeit. Aber dies war keine Erzählung. »Erst Steini und jetzt du, Lena. Was hat das zu bedeuten? Willst du mich auch vor einer Gefahr warnen oder mich beschützen?«

Der Vogel sah sie mit seinen ausdruckslosen Augen an und wandte den Kopf in die Richtung, aus der er gekommen war. Mit einem mächtigen Flügelschlag gewann er fast augenblicklich drei Meter an Höhe und schraubte seinen Körper mit leichten Schwingbewegungen weiter hoch. Dabei stieß er seinen Jagdschrei, bei dem sich ihre Härchen auf den Armen hochstellten.

»Marco. Wir folgen Lena.« Jana marschierte los.

Marco schloss sich mit flauem Gefühl in der Magengegend an. War dieses Mädchen eine Hexe oder eine Göttin? Sie ging so selbstverständlich mit den wilden Tieren um, dass sie nicht von dieser Welt sein konnte. Er lachte freudlos auf, als ihm bewusst wurde, wie blöd seine Gedanken waren. Das einzig Reale war wahrscheinlich sein im Koma liegender Körper, der von Schläuchen und Maschinen am Leben erhalten wurde.

Unbewusst fasste er Janas Hand und spürte die unbändige Energie, die in ihr steckte und ihn auf die eine oder andere Weise auflud. Er schritt beschwingter aus und hielt die Augen fest auf den Steinadler gerichtet, der in gerader Linie vor ihnen flog. Wenn er sich zu weit entfernte, zog er einen Bogen und verfolgte wieder die unsichtbare Spur, die ihn leitete. Der Boden war eben und fiel leicht ab. Sie kamen, auf ihrem Weg in die Ungewissheit, rasch voran. Die Dunkelheit brach schnell herein. Die jungen Leute sahen nur wenige Meter weit, während Lena noch im Sonnenlicht flog. Nein, dachte er, der Vogel flog nicht mehr. Der Adler kreiste einige Hundert Meter von ihnen über einer Stelle und stieß seine typischen Schreie aus.

Jana beschleunigte den Schritt. Wenige Minuten später standen sie vor einer kleinen Hütte. Hütte war zu viel gesagt. Es mehr ein Holzunterstand, der mit Heu gefüllt war. Aber das Wichtigste war das kleine Rinnsal mit klarem Wasser. In einer Futterraufe lag trockenes Brot. Marco warf sich sofort auf den Boden und schlürfte gierig das Nass. Jana trat aus dem Unterstand und pfiff einen Dank in den Himmel, der von Lena erwidert wurde.

Nachdem sie von dem harten Brot gegessen hatten, fielen sie ins Heu und schliefen übergangslos ein. In der Nacht wurde Jana wach, weil sie sich beobachtet fühlte. Der Mond schien voll und rund auf die Lichtung und in ihren Unterstand. Marco schlief tief und fest. Sie stand auf und ging fröstelnd nach draußen in die kalte Nacht. Abseits stand ein Mensch. Im Licht des Erdtrabanten leuchtete die dunkelrote Kleidung. Rote Jeans und rotes Shirt. Ein Doppelgänger dachte Jana und ging furchtlos auf das Wesen zu, um nach wenigen Schritten innezuhalten. Das gab es doch nicht. Sie stand vor ihrem Zwilling. Ihr Gegenstück breitete die Arme aus, um sie zu umarmen. Grenzenlose Sehnsucht erfüllte sie nach der Berührung ihres Doubles. Zuneigung, Lust, Begehren und ein Gefühl, wie sie sich Liebe vorstellte, überschwemmten ihre Gedanken und ihren Körper. Jede Faser drängte in die angebotene Umarmung. Schmerzhaft bemerkte sie, was ihrem ganzen bisherigen Leben fehlte. Ihr Koma machte Sinn. Sie selbst suchte die Vollendung, die Verschmelzung mit ihrem Ich, mit ihrer fehlenden Hälfte. Jana ergab sich den Gefühlen, breitete ihre Arme aus und flog förmlich auf ihre fehlende Hälfte.

Der Schlag und der Schmerz kamen aus dem Nichts. Sie wirbelte durch die Luft und schlug einige Meter von ihrem zweiten Ich entfernt auf dem Boden auf. Steini stand schnaubend zwischen ihr und ihrem Zwilling. Sein Atem stieß in Nebelwolken aus den Nüstern und die Augen glühten rot. Er hatte seine mächtigen Hörner gesenkt und bannte Jana auf dem Boden.

Aus dem dunklen Himmel schoss, mit mächtigem Adlerpfiff, Lena herunter und versuchte der rot gekleideten Gestalt, die Augen auszukratzen. Bevor es dazu kam, war der Zwilling verschwunden.

Jana erinnerte sich mit Schrecken an die Bilder in der Zwischenwelt, wo die roten Zwillinge ihre Gegenstücke umarmten und verschwanden. Sie war, durch ihre Dummheit, fast zu Tode gekommen. Noch benommen stemmte sie die schmerzenden Glieder hoch, um sich bei ihren beiden tierischen Freunden zu bedanken. Doch die waren verschwunden. Hatte sie einen Traum? Nein. Dazu schmerzte die Brust zu sehr, die Steini getroffen hatte. Schwerfällig schleppte sie sich zu ihrem Heulager und fiel, schon wieder schlafend, nieder.

Sie träumte. Eine der rot gewandeten Gestalten stand an Marcos Nachtlager und sah mit liebevollem Blick auf ihn hinunter. Jana bemerkte wie die Gedanken hinter der Stirn des roten Marco arbeiteten, und er versuchte, über die leuchtenden Augen, den Jungen zu wecken. Der echte Marco wurde unruhig und wälzte unruhig auf seinem Lager, hin und her. Die Augen seines Doppelgängers leuchten intensiver und das Gesicht des – wie soll ich es bezeichnen, schoss ihr unsinnigerweise durch den Kopf – Geisterwesens, zeigte die gleichen Gefühle, die sie bei ihrer Begegnung mit ihrem Ich empfunden hatte. Doch mit dem Abstand der Beobachterin in ihrem Traum erkannte sie den Egoismus hinter der Fassade. Dem Wesen ging es nur darum, bei seinem schlafenden Double die Empfindungen hervorzurufen, um die eigene Befriedigung zu stillen. Sie spürte die echte Sehnsucht des roten Marco und die Gefahr dahinter, sollte ihm nicht gelingen den Jungen auf seine Seite zu ziehen. Dann würde dieses Wesen Marco der Unterwelt, der Hölle, opfern.

Der Junge setzte sich verschlafen auf. Jana schreckte entsetzt aus ihrem Traum. Die Szene war tatsächlich Wirklichkeit. Marco hatte keine Beschützer wie sie. Er war dem Wesen ausgeliefert. Unwillkürlich pfiff sie den Adlerschrei heraus. Der Kopf von Marcos Zwilling ruckte zu ihr, und ein Blick voller Hass traf sie, bevor er verging.

»Was ist los? Weshalb weckst du mich?« Marco rieb verschlafen seine Augen. »Ich hatte einen schönen Traum. Zum ersten Mal. Nach wer weiß wie langer Zeit.«

»Schlaf weiter«, sagte sie und beobachtete, wie er zurücksank. Seine gleichmäßigen Atemzüge zeigten, dass er wieder schlief. Sie hatte im Moment keine Lust auf eine Unterhaltung und musste nachdenken. Der Gedanke, der in ihr aufkam, mochte irgendwann Bedeutung haben.

Den schweren Gedanken folgte ein leichter beschwingter Traum, der sinnlos war, jedoch eine Bedeutung haben musste, die sie noch nicht erfassen konnte. Sie flog mit Lena durch die klare Bergluft und entdeckte Marco auf einem Gipfel, wo er versuchte das Gleichgewicht zu halten, um nicht abzustürzen. Dabei wusste sie genau, dass er neben ihr fest schlief. Sie sank ihm entgegen und gab ihm das Gleichgewicht, das er benötigte, um gefahrlos zu stehen. Gemeinsam schwebten sie in die Luft und die Illusion verblasste.

*

Dem Jenseits entkommen

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